Problem von Amina - 17 Jahre

Freundschaft beenden oder mit ihm reden?

Hi liebes Kummerkasten-Team,
also ich hab einen Kumpel. Wir kennen uns schon länger aus dem Chor haben aber erst am letzten Tag vor den Weihnachtsferien angefangen richtig miteinander zu reden. Seitdem hat sich ne ziemlich gute Freundschaft entwickelt also wir haben mittlerweile auch die Ebene der Freundschaft erreicht wo man sich gegenseitig beleidigt (hoffe ihr versteht was ich meine). Die anderen aus dem Chor haben auch angenommen dass wir uns schon vorher kannten, dass wir verwandt sind oder sogar zusammen sind. Wir kannten uns noch nicht vorher und wir sind auch nicht zusammen. Wir sind keine besten Freunde, sonder "nur" halt gute. Das Ding ist halt dass er ein sehr extrovertiert, witzig und ein echt guter Sänger ist. Dadurch ist er halt im Chor extrem beliebt. Ich dagegen bin echt schüchtern. Ich bin nicht unbeliebt, aber auch nicht so beliebt wie er.

Also ich hatte im letzten Jahr ne ziemliche Scheiße hinter mir. Depressionen, Selbstmordgedanken, Ritzen. Das volle Programm. Ne Zeit lang ging es mir besser aber jetzt wo ich meinem Kumpel freundschaftlich immer näher komme, kommen die Depressionen zurück. Er ist halt auch extrem laut, hyperaktiv und es herrscht nie Stille. Das löst so eine innere Unruhe in mir aus, die definitiv nicht gut für mich ist. Außerdem denke ich dass ich einfach so verschwinden könnte und ihn würde das nicht jucken. Er würde sein Leben so weiter leben wie bisher. Er versteht sich ja mit mehreren Leuten aus dem Chor echt gut und ich denke bei seiner Uni und Arbeit ist er auch nicht unbeliebt. (Ich bin 3 Jahre jünger und noch Schülerin btw.) Also ich meine ich bin ersetzbar. Ich bin nicht so witzig, habe Selbstzweifel und bin wie gesagt schüchtern.

Soll ich ihn darauf ansprechen? Ich habe auch überlegt aus dem Chor aus zutreten, aber dafür liebe ich das Singen viel zu sehr. Immer wenn ich halt alleine bin nachdem wir iwie zusammen von ner Probe zur Bahn gegangen sind, fühle ich mich so down und möchte nur heulen (habe ich auch mal) Ich vermisse ihn und gleichzeitig hasse ich ihn dass er solche negativen Gefühle in mir auslöst. Ich glaube ich liege ihm auch auf irgendeine Weise am Herzen aber ich weiß nicht auf welche. Soll ich wirklich mal mit ihm reden? Ich habe Angst dass er mich für verrückt hält oder dass unsere Freundschaft kaputt geht. Ich hatte nie wirklich lang anhaltende Freundschaften, deswegen habe ich Angst davor ihn zu verlieren da ich mich schon sehr lange nicht mehr so gut mit jemandem verstanden habe. Was würdet ihr mir raten?
Liebe Grüße
Amina

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Amina,

seit deiner Zuschrift ist nun schon eine gute Woche vergangen, und falls sich in Bezug auf deinen Kumpel etwas ereignet hat, hoffe ich, dass es zu deiner Zufriedenheit ist. Ansonsten würde ich dir gern meine Gedanken mitteilen - vielleicht hilft dir das etwas, ob die Sache nun entschieden ist oder nicht.

Du stellst dir im Grunde die alte Frage: Was macht mich in den Augen eines anderen Menschen wichtig, interessant, attraktiv, ja, liebenswert? Das Aussehen? Die Bildung? Die Sprache? Die Art des Auftretens? Und wenn das alles zutrifft: Wie muss es sein, damit ich bei einem Menschen landen kann, der in meinen eigenen Augen natürlich IMMER tausendmal schöner, klüger, gewandter, eleganter ist, als ich selbst es bin. Doch muss man sich auch die Frage stellen: Nur weil ich das so wahrnehme - muss das heißen, dass alle Anderen es auch so sehen?

Ohne das gewisse Etwas, diesen Funken, der zwei Menschen zu Verliebten macht, funktioniert nun einmal nichts. Und woher dieser Funke kommt oder durch was er ausgelöst wird, ist noch immer hoch umstritten. Natürlich muss man zugeben: Männer und Frauen, die gesund und kräftig sind, symmetrische Gesichter haben und mit Talenten punkten können, die sind immer beliebt und haben viele Verehrer / Verehrerinnen. Aber ob so ein Mensch, der sich nach außen unbekümmert gibt, vielleicht insgeheim große Ängste hat, oder ob jemand, der gerne mal ein Lachen erntet, nicht in Wahrheit von vielen als unerträglich arrogant und aufdringlich wahrgenommen wird - das ist nicht sicher. Es kann nur immer wieder davor gewarnt werden, von den eigenen Wahrnehmungen und Empfindungen auf die anderer Menschen zu schließen: Was ich fühle, muss nicht das sein, was ein Anderer fühlt. Und dieselbe Sache, die mir als unwiderstehlich attraktiv vorkommt, kann eine andere Person abgrundtief aufregen.

Du nimmst dich selbst als unspektakuläre Person wahr. Tust du das, weil dir das tausend Leute gesagt haben - oder tust du es, weil du dich mit Anderen vergleichst und bei ihnen etwas findest, was du selbst nicht zu haben glaubst? Und weil die Anderen mehr wertgeschätzt, mehr bewundert, mehr angehimmelt werden? Hast du die geringste Ahnung, ob es nicht vielleicht hundert Jungs gibt, die dich von ferne bewundern und sich nur nicht trauen, dich anzusprechen? Vielleicht ist das, was du an dir selbst als "Unattraktivität", ja als "Hässlichkeit" wahrnimmst, in deren Augen "geheimnisvolle Unnahbarkeit" und "Coolness"? Ich sage dir, Amina, diese Dinge im vollen Ernst. Denn wenn nur Menschen, die muskelbepackt, blond, schlank, groß und laut wären, sich verlieben und Kinder in die Welt setzen würden, dann gäbe es andere Sorten Menschen schon lange nicht mehr. Das ist aber nicht der Fall. Einzig mögliche Antwort: Das Geheimnis muss tiefer liegen!

Wahrscheinlich erwartest du jetzt einen kitischigen Satz nach dem Muster "innere Werte" und so weiter. Damit werde ich dich natürlich nicht abspeisen. Denn zwar gilt in der Tat: Was nützt es mir als Mann, groß und sportlich zu sein, wenn ich ein notorischer Fremdgeher bin? Und was nützt es mir als Frau, einen großen Busen und blonde Naturlocken zu haben, wenn ich krankhaft eifersüchtig bin? Irgendwie muss also selbst der verbittertste Mensch, der von "inneren Werten" nichts mehr hören kann, zugeben, dass es zwar für "schöne" Menschen einfacher sein mag, eine Beziehung zu finden, aber oft viel schwerer, eine Beziehung zu halten. Und die Gründe liegen natürlich in der Sache selbst: Wer viele Chancen hat, weiß die einzelne nicht zu schätzen. Und verpasst womöglich die eine, entscheidende. Dann hat ihm oder ihr alles nichts genützt.

Was ich aber eigentlich sagen wollte: Hast du dir jemals darüber Gedanken gemacht, dass es Männer geben könnte, die es unfassbar attraktiv finden, wenn eine Frau dicklich ist, bevorzugt Blümchenkleider trägt, unzählige Sommersprossen und eine Zahnlücke hat, bei jeder Gelegenheit knallrot wird und ein bisschen lispelt? Diese Frau ist dann nach den Maßstäben der Gesellschaft nicht perfekt. Aber sie hat das, was man als "gewisses Etwas" bezeichnet - auch wenn es ihr selbst nicht klar ist, und auch wenn sie selbst sich noch so oft dafür schämt und Tränen vergießt. Ihre Ecken und Kanten, das, was an ihr hervorsticht, macht sie interessant. Der Clou an der Sache: SIE weiß es nicht, will es nicht einmal glauben, wenn ihre beste Freundin es ihr sagt. Ihr Verehrer wiederum, der weiß natürlich nicht, wie unglücklich und unattraktiv sie sich fühlt. Er glaubt stattdessen, dass das, was FÜR IHN offensichtlich und klar ist - dass diese Frau eine unfassbare Schönheit ist -, von allen anderen Männern ganz genauso gesehen wird. Und dass er schon allein deshalb keine Chance bei ihr haben kann, weil es bestimmt viel attraktivere als ihn gibt, die sich für sie interessieren. So kommen dann letztendlich beide auf keinen grünen Zweig.

Du hast Entsetzliches durchgemacht, Amina: Du hast Depressionen durchlitten, du hast dich selbst verletzt - alles im Grunde deshalb, weil du dich selbst dafür bestraft hast, was du bist. "Es genügt nicht", flüstern die Dämonen, "dass du leidest, weil du nicht geliebt wirst - du musst dir noch selbst Schmerzen zufügen. Du brauchst einen Stempel "verrückt" und alle müssen darüber reden." Das ist deine Realität, und du kannst verdammt stolz darauf sein, dass du alles bewältigt hast - allein das zeigt dir schon, dass du tougher bist, als du selbst glauben magst. Und für deinen Schwarm, Amina, oder auch für deinen Kumpel - für den zählt das alles vielleicht gar nicht. Aber du musst dich trauen, es herauszufinden.

Denn die Antwort auf deine Frage ist simpel: Wenn dein Kumpel nicht verstehen kann, dass du dich aufgrund deiner Vorgeschichte und aufgrund deiner Schwierigkeiten, dich selbst anzunehmen, neben ihm klein und minderwertig fühlst - dann ist er kein Kumpel. Aber wenn er einer ist, dann wird er es verstehen. Denn er wird selbst wissen, wie er wahrgenommen wird, er wird wissen, dass er einer von denen ist, die eines der großen Lose gezogen haben - mit allen Schwierigkeiten, die mit Beliebtheit einhergehen. Aber er will mit DIR befreundet sein, er hat dir seine Zuneigung bewiesen - wenn es ihm nicht um DICH als Person geht, worum soll es ihm dann gehen? Wenn seine Nähe zu dir so groß ist, dass er dich in seinem Leben haben will, dann wird er es verstehen. Wenn er sich aber nicht sicher ist, warum er sich eigentlich mit dir befreundet, dann verschaffst du ihm diese Sicherheit - und verlierst zugleich mit dieser "Freundschaft" nichts. Du hast dann auch etwas gewonnen; denn du suchst dir die Menschen selbst aus, die du um dich haben möchtest, und lässt dich nicht zwingen, mit jedem abzuhängen, nur um dazuzugehören. Aber dein Kumpel, so wie du ihn beschreibst, ist eben nicht "jeder". Denn jemand, um den du weinst, ist nicht "jeder" - und wozu hat man eine Freundschaft, wenn nicht, um sich ihrer zu bedienen? Du weißt, dass dir auf lange Sicht keine andere Möglichkeit bleibt, als dieses Thema anzusprechen. Sonst nimmst du dir nicht nur den Schlaf und die Gesundheit, nimmst dir womöglich ein geliebtes Hobby, sondern hinderst dich auch daran, die Freundschaft zu genießen. Deine Gefühle wollen etwas, Amina - sie wollen Klarheit und Sicherheit. Und du kannst auf sie hören, weil alles Andere wenig Sinn ergibt. Natürlich ist dabei eine Gefahr. Aber die ist immer da. Wenn du nichts tust, aus lauter Angst, die Freundschaft zu gefährden, wird auch er das merken. Und dann vielleicht die Freundschaft beenden, weil du nicht mehr die bist, als die er dich kennen gelernt hat. Die Frage ist also nicht, ob du mit ihm reden solltest - du musst es tun, egal, was dabei herauskommt. Anders kommst du nichts vorwärts.

Ich wünsche dir die Stärke und Entschlusskraft, vorwärts zu gehen. Wenn etwas Schlimmes passiert: Wirf die Schuld auf mich, aber bitte, ritze dich nicht! Ich kann nur raten, was ich weiß - und vielleicht weiß ich zu wenig, von Menschen, von der Liebe. Das darfst du mir dann gerne Tag und Nacht vorwerfen. Aber wirf es dir nicht selbst vor, Amina. Denn das wäre ungerecht. Du hast schon soviel geschafft - ich bin sicher, dass du weiter wachsen kannst durch Menschen, die dir wichtig sind. Aber du musst auch bereit sein, zu glauben, dass DU ihnen wichtig genug bist, um dich anzunehmen mit deinen Gedanken und Gefühlen; auch den vielleicht heftigeren und abwegigeren. Und ich glaube daran, dass du ihnen so wichtig bist. So wichtig und noch viel wichtiger.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul