Problem von Anonym - 28 Jahre

Nur noch traurig

Ich bin zurzeit dauer traurig, ich denke viel nach über das Leben, meine Freundin die seit 8 Jahren tot ist, meine Tochter wurde mir weggenommen weil ich eine schlechte Kindheit hatte- meine Mutter hat mich damals geschlagen getreten und gewürgt.
Meine eine Freundin, mit der ich befreundet war macht mir das Leben zur Hölle, sie versucht mich ständig zu veräppeln, ruft "aus Spaß" Feuerwehr, Krankenwagen und Polizei an warum weiß ich nicht.
Ich habe alles immer in mir reingefressen, mit niemanden darüber gesprochen aber jetzt ist es so, das mein Körper nichts mehr aufnehmen kann.
Ich kann nicht mehr und keinem interessiert es-nicht mal meiner Mutter...

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Anonyme,

leider habe ich dich ein Weile warten lassen. Zuerst möchte ich dir sagen: Wenn du das Bedürfnis hast, deine Geschichte und deine Situation näher zu schildern, darfst du da gerne tun. Ich verspreche dir, zu antworten, bald.

Ich komme heute von einem längeren Waldspaziergang zurück. Manchmal brauche ich die Erfahrung an einem Ort zu sein, wo man irgendwann die Stille hören kann, wo ich mir als Eindringling vorkomme, weil überall um mich herum nur Vögel und Bäume und Tiere sind, die dort zuhause sind, und die sich nicht für mich interessieren - außer dafür, wann ich wieder gehe. So kommst du dir im Moment vor: Klein und unbedeutend, in einer Welt, die auch ohne dich funktionieren würde. Vielleicht sogar besser. Jedenfalls glücklicher. Um dich herum ist es kalt und schattig, und es scheint keinen Ausweg zu geben.

Gibt es einen? Ich will ehrlich sein: Es ist unbestreitbar, dass du fürchterliche Erfahrungen gemacht hast, die dich den Rest deines Lebens begleiten werden. Und dass dir deine Tochter genommen wurde, ist ebenfalls schrecklich. Auch dieser Schmerz wird dir bleiben. Du kannst ihn nicht völlig loswerden - was du aber vielleicht ja auch gar nicht willst, weil er dich mit deiner Kleinen verbindet -; aber du kannst Wege finden, diesen Schmerz zu beherrschen, sodass er dich nicht mehr ständig quält, dir die Kraft nimmt. Diese Wege zu finden, braucht Zeit, kostet Kraft - und ist auf keinen Fall einfach. Ich habe nicht erlebt, was du erlebt hast. Ich will mir nicht anmaßen, zu behaupten, ich wüsste, wie du dich fühlst. Das tue ich nicht. Aber ich glaube, dass ich dir ein bisschen helfen kann, wieder eine Richtung zu finden. Das versuche ich nun.

Zunächst einmal: Wenn es überhaupt eine Chance gibt, deine Tochter wiederzusehen, an ihrem Aufwachsen teilzunehmen - dann ist es die, dass du versuchst, dein Leben im Griff zu haben. Irgendwann wird der Tag kommen, an dem deine Kleine nach ihrer "richtigen" Mutter fragt - was soll die Antwort sein? Du selbst hast Anteil daran. Wenn du dich treiben lässt durch das Meer der gleichgültigen Lähmung, dann wird sie dich so in Erinnerung behalten: Als jemand, die es nicht geschafft hat, mit dem zurecht zu kommen, was das Leben ihr angetan hat - und die deshalb auch ihre Liebe nicht so wird wertschätzen können. Eine, die sich aufgeben hat. Ist dass das Bild, das du ihr hinterlassen möchtest? Oder willst du weitermachen, kämpfen, damit du deine Selbstachtung wieder zurückgewinnst? Du selbst hast es in der Hand. Wenn du die Welt aus deinem Leben ausschließt, dich verkriechst, dich dem Schmerz hingibst, dann wird es dir irgendwann nicht mehr möglich sein, aufzutauchen. Dann bist du gelähmt, und wenn du es erst einmal akzeptiert hast, gleichgültig. Aber das willst du nicht sein. Deshalb musst du dich entscheiden zwischen "Vorwärts" und "Alles schlimm", was dich lähmt und daher gleichbedeutend ist mit "alles egal".

Was immer du erlitten hast, wird dich nicht loslassen. Erfahrungen sind ein Teil des Lebens, sie werden ein Teil deiner Persönlichkeit, auch die schmerzvollen. Es ist also nur logisch, dass es dir schwergefallen ist, deiner Tochter zu bieten, was du selbst nicht erfahren hast - du bist, und das siehst du an deinem jetzigen Zustand, sehr mit dir selbst beschäftigt. Rufe dir in Erinnerung: Wie die Dinge nun einmal sind, hat nichts mit dir als Person zu tun. Es hat damit zu tun, was deine Tochter braucht. Und sie braucht einen Menschen, dem es gelingt, sich mit ganzem Herzen und ganzer Seele und ganzer Kraft für ihr Wohl einzusetzen. Wenn du ehrlich zu dir bist: Kannst du das gerade? Oder ist es nicht so, dass die Schmerzen deiner eigenen Kindheit noch in dir toben, dass du Zeit brauchst, mit ihnen zurecht zu kommen? Das geht nicht sofort. Es geht auch nicht vollständig. Aber du hast Gelegenheit, es zu tun, und darauf kommt es an.

Beginne klein: Was ist mit dem nächsten Tag? Wie hast du dein Tagwerk begonnen? Hast du dich müden Herzens zur Arbeit geschleppt, hoffend, dass es schnell vorbei gehen möge? Und wie war es danach? Hast du dich hingelegt, lieblos gegessen, wenn überhaupt, und gehofft, dass der Schlaf schnell kommen möge? So schleppst du dich von Angst zu Angst, von Schlaf zu Schlaf, von Nacht zu Nacht, von Dunkelheit zu Dunkelheit - bis irgendwann alles nur noch dunkel ist. Aber dieser Kreislauf muss durchbrochen werden. Du kannst nicht ausharren in der Hoffnung, dass irgendwann alles von allein besser wird. Und genauso wenig ist es eine Option, zu gehen. Das wäre verantwortungslos - dir selbst gegenüber, und auch gegenüber deiner Tochter. Wie willst du also den nächsten Tag anfangen? Willst du vielleicht endlich deinen Nachttisch freiräumen, willst die Überreste der letzten Woche hinaustragen, die Fenster öffnen und etwas zum Frühstück essen, das dich wirklich satt macht? Und wie willst du den Nachmittag verbringen? Willst du vielleicht an einen Platz gehen, an dem die erste Frühlingssonne dich bestrahlen kann, willst Wasser hören und Wind spüren? Du musst klein beginnen, aber alles muss ein Ziel haben. Und das Ziel lautet: Tu alles bewusst - und tu es so, dass es dir gut tut. Unordnung tut dir nicht gut. Nimm dir einen Raum nach dem anderen vor, und versuche, die Ordnung zu halten. Abfall tut dir nicht gut - lass nichts liegen, sondern schaffe es zeitnah aus deinem Blickfeld. Dunkelheit tut dir nicht gut - lass die Sonne herein. Nachlässige Ernährung tut dir nicht gut - und damit ist sowohl hastiges, liebloses Essen gemeint, als auch ungesundes Essen, als auch Hungern, als auch, dir aus Selbsthass nichts zu gönnen. Schaffe dir kleine Rituale - eine Tasse Kakao vor dem Schlafengehen, ein Musikstück, das dir gefällt, nach dem Aufwachen, einen Spaziergang in deiner Mittagspause. Befreie dich von allem Ballast, auch wenn das bedeutet, einen Teil deiner Einrichtung, der dich stört, wegzugeben. Schalte den Fernseher nur an, wenn du etwas wirklich sehen WILLST - und nicht, um dich zu berieseln. Worum es für dich geht, ist wieder zu lernen, wie es ist, sich auf etwas zu freuen. Wie es ist, etwas zu wollen. Und wie es ist, Gewohnheiten und Bräuche zu haben, die dich zu einer Person formen. Im Augenblick lässt du nichts zu, was dich individuell macht - und damit auch nichts, was es in deinen Augen für die Welt lohnenswert macht, dich zu behalten. Aber da ist sehr viel. Du musst jedoch lernen, es wieder zu spüren - indem du keinen Leerlauf mehr zulässt, deine Zeit füllst, und wieder als Mensch lebst. Hast du schon immer darüber nachgedacht, wie es in diesem oder jenem Stadtteil aussieht, in dem du noch nie warst? Hast du eigentlich eine Ahnung, was gerade im Kino läuft? Und weißt du, wie sich das Wasser in diesem Brunnen anfühlt, in den du als Kind manchmal Münzen geworfen hast? JETZT ist der Zeitpunkt, das alles herauszufinden. Denn das nennt man Leben. Wenn du nicht lebst, erscheint dir das Leben auch nicht erstrebenswert. Wenn du es aber tust, wenn du deine Zeit nutzt und füllst, dann kommt dir wieder der Gedanke, dass es gar nicht so falsch sein könnte, weiterzumachen.

Jetzt wäre da die Frage, was mit deiner Mutter und deiner früheren Freundin ist. Seien wir ehrlich: Was kaputt ist, lässt sich nicht mehr reparieren. In Bezug auf deine Freundin gibt es nur die eine Möglichkeit, sie spüren zu lassen, was sie da tut - sage der Polizei Bescheid, was sie sich auf Kosten der Allgemeinheit erlaubt. Du hast die Möglichkeit, sie anzuzeigen. Sie spielt nicht nur mit dem Leben Unbeteiligter, die vielleicht gerade einen Rettungswagen brauchen, sondern sie betreibt auch dir gegenüber eine Art von Belästigung. Du solltest ihr das nicht weiter durchgehen lassen - andererseits kannst nur du dich dazu durchringen, es zu beenden. Und ähnlich ist es mit deiner Mutter: Was bindet dich an sie? Die Tatsache, dass du ihre Tochter bist? Nur du kannst wissen, ob du von ihr noch das Geringste zu erwarten hast. Es ist eine schwere Entscheidung, die gut überlegt sein muss, die eigenen Eltern aus dem Leben auszuschließen, und deshalb will ich dich dazu auch ganz gewiss nicht auffordern. Doch solltest du deiner Mutter diese eine Frage stellen: Will sie das? Will sie, dass du sie nicht mehr beachtest? Das, was sie dir einstmals schuldig gewesen wäre, hat sie dir nicht gegeben - heute hat sie, was sie damals unbedingt wollte, nämlich ihre Freiheit. Wenn sie sie nutzen will, wirst du sie nicht hindern. Aber dann verliert sie auch womöglich endgültig ihre Tochter, das wahrscheinlich Beste, was sie je gemacht hat. Und das solltest du dir selbst sagen: Du hast in diesem Leben noch eine Bestimmung, ob deine Mutter das will oder nicht - glücklich zu werden. Das kannst du auch. Nicht rundum glücklich, nicht vollständig glücklich - aber so glücklich immerhin, dass du dich auf den nächsten Tag freust. Was hält das Leben für dich noch bereit? Einen neuen Job, eine neue Beziehung, eine Reise, ein Essen? Wir wissen es nicht. Aber diese Ziele kannst du dir setzen. Du allein weißt, wie die Ziele aussahen, die du einst hattest. Du darfst dich nicht hindern lassen, sie zu verfolgen. Denn deine Tochter wird dir durch Untätigkeit nicht wieder gegeben, sondern sie rückt in immer größere Ferne. Und die Menschen, die nur darauf warten, eine Schwäche von dir auszunutzen, hältst du dir am besten vom Leib, indem du ihnen nicht die volle Breitseite darbietest. Kämpfe um deine neue Chance - es wird ein Kampf, das verspreche ich dir. Aber er lohnt sich.

Ich wünsche dir alle Fassung, allen Mut und alle Ausdauer, die du nötig hast. Vor allem aber: Handle! Denn die große Dunkelheit ist am Ende, wie ich gesagt habe, auch eine Form von Gleichgültigkeit. Und gleichgültig zu sein, ist nicht richtig - dir selbst gegenüber nicht, deiner Tochter nicht, und auch allen guten Menschen, denen du noch begegnen wirst, nicht. Gib dir einen Ruck, lass dich nicht mehr vom Leben hin- und herwerfen wie einen Ball, sondern werde zur Spielerin.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul