Problem von Justin - 15 Jahre

ich weiß selber nicht mehr weiter

Hallo,
Vor ungefähr 4 Jahren hat alles schlechte angefangen.
Meine Eltern haben begonnen sich zu streiten und das wurde mit der Zeit immer heftiger.
Dadurch bin ich in der 7 klasse runter auf die Realschule gekommen weil ich im Gymnasium viele Probleme hatte, teils mit anderen Schülern teils mit der Familie.
Am Ende meines 8 Schuljahres bzw in den Sommerferien haben meine Eltern langsam aufgehört sich zu streiten und ihre Wut an mir ausgelassen. Mit der Zeit haben sie mich immer mehr missachtet und schlecht behandelt und auch den Rest der Familie auf mich gehetzt. Also Kurzgesagt meine ganze Familie ist gegen mich.
Nicht nur meine Familie sondern in der Schule werde ich von vielen nicht gemocht und auch ausgeschlossen...
Seit einem Monat kommt mir immer stärker der Gedanke an selbstmord durch den Kopf, da mein Leben für mich nur noch eine Last ist und ich keine Hoffnungen für die Zukunft sehe. Jeden Abend denke ich mir "wieso lebe ich noch?... Wieso springe ich nicht einfach vor den Zug oder einfach von der Brücke?"
Ich Ritze mich fast täglich, immer wenn ich alleine bin
In letzter Zeit, wenn ich alleine bin habe ich auch immer wieder solche Wutausbrüche, die ich selber nicht kontrollieren kann. Also... Ich würge mich, haue meinen Kopf gegen die Wand, mache was kaputt oder schlage mich selber( Vorallem die selbstverletzungen also würgen oder Kopf gegen die Wand hauen bereitet mir sehr sorgen, was ist wenn ich mir bald schlimmeres antu). Aber dagegen kann ich nichts tun, es ist irgendwie nicht kontrollierbar... Ich mache das einfach alleine nachdem mir die suizidgedanken kommen... Es bereitet mir momentan sehr sorgen weil ich Angst habe dass ich mir selbst was viel schlimmeres antun werde.
Die Lehrer haben gesagt dass ich durch diese Last psychisch erkrankt sein kann... Bzw Depressionen habe oder irgendwass, dass mein Verhalten mit den Ausrastern erklärt.
Daheim wurde ich in letzter Zeit öfters von meinen Eltern geschlagen... Sie waren sogar bei dem schulsozialarbeitern wegen dieser Situation aber das hat nicht geholfen... Sondern die Lage nur noch verschlimmert.
Meine Schwestern haben zusammen mit meinen Eltern alles weg genommen (also pc Handy etc...) ich bin sozusagen komplett isoliert.
Hätte ich mein iPad nicht versteckt gehabt hätte ich nichts mehr.
Außerdem wurde mir von meiner Familie mit der Polizei gedroht, wenn ich wieder gegen sie was sage.
Ich hatte sogar einen Termin bei einem Arzt wegen meinem Verhalten und meinem suizidgedanken, aber meine Eltern haben diesen abgesagt. Natürlich streite ich in der letzten Zeit mit meiner Familie weil ich nicht mehr klar komme.

Mir kommt es so vor als ob mich niemand braucht... Ich fühle mich wie eine Last für alle, einfach nutzlos. Vielleicht wünschen sich alle dass ich sterben soll oder wären glücklich wenn ich tot wäre

Klar könnte ich mich an meinen Hausarzt wenden, aber ich bin irgendwie zu ängstlich ihm über mein Verhalten zu erzählen, ich will ja nicht als "psychisch gestörter" wirken, wie es meine Familie zu mir sagt

PaulG Anwort von PaulG

Lieber Justin,

dein Text lässt keinen Zweifel daran, wie dramatisch deine Situation ist. Leider habe ich dich länger warten lassen, als es sich für eine solche Situation gehören würde. Vielleicht kannst du hieraus trotzdem die ein oder andere Anregung ziehen.

Eines dürfte klar sein: Über kurz oder lang muss sich radikal etwas ändern. Ich bitte dich daher dringend, deinem Gedanken zu folgen und mit einer kompetenten Person zu besprechen, welche Maßnahmen ergriffen werden können, um dich zu schützen. Das kann dein Hausarzt sein, aber auch ein Lehrer, dem du vertraust, möglicherweise auch ein Freund oder Nachbar, der einen guten Draht zu deinen Eltern hat. Ich will dir ganz offen sagen, Justin, dass ich glaube, dass bei euch zuhause im Moment nicht der beste Platz für dich ist. Dich selbst zu verletzen ist - zumal, wenn dir die Kontrolle darüber entgleitet - eine ständige Bedrohung für dein Leben und deine Gesundheit, und deine Eltern fordern das durch ihr egoistisches, unerwachsenes und ganz und gar unangemessenes Verhalten auch noch heraus. Das wird sich vermutlich noch steigern, und ich muss fürchten, dass es das in der Zwischenzeit hat. Daher - und da will ich zu dir ganz ehrlich sein -, bin ich der Meinung, dass die Lage sich am besten beruhigen kann, wenn es in irgendeiner Weise zu einem Schnitt kommt. Vielleicht ist für dich eine stationäre Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung eine Option. Das mag dir zunächst lächerlich, absurd, ja beängstigend klingen. Tatsächlich aber wäre der wichtigste Fortschritt in diesem Fall, dass nicht nur zwischen dich und deine Eltern eine räumliche Distanz tritt, sondern dass du auch Hilfe erhältst - von Menschen, die dafür da sind und zu genau dem Zeitpunkt, wenn du es brauchst. Ich kann dir die Unterstützung nicht bieten, die du jetzt nötig hast, und deine Eltern sind dazu nicht nur nicht fähig, sondern ihnen fehlt auch der Wille. Ich möchte dir daher empfehlen, sehr deutlich zu machen, dass bei euch nicht einfach nur "der Haussegen schief hängt", sondern dass es sich um Bedrohungen und seelische Zermürbung handelt, die sich bei dir in Selbstverletzung äußert. Halte nicht zurück in der Angst, als "krank" abgestempelt zu werden - das bist du nicht. Du benötigst Hilfe, und zwar schnell.

Bis dahin ist es wichtig, dass du Möglichkeiten erschließt, wie du deine Wutausbrüche in produktive Bahnen lenken kannst. Eine naheliegende Möglichkeit ist Sport, wenn es nicht draußen sein kann oder soll, dann probiere lieber hundert Liegestützen oder Sit-ups, bis dir die Lungen und Arme brennen, anstatt in sie zu schneiden. Wenn dich der unbedingte Drang überkommt, etwas zu zerstören, dann liegt es auf der Hand, dass dein Frust, deine Wut und Verzweiflung nur noch weiter wachsen werden, wenn du deinen Drang gegen etwas richtest, das dir wichtig ist und das nicht ersetzt werden kann. In der allerhöchsten Not: Besorg dir einen großen Ast und schnitze daran herum, oder kauf dir ein paar Rüben und Zwiebeln (die sind billig) und schneide sie mit dem Messer - verwahre es hinterher aber sorgfältig, damit du es nicht bei der nächsten Gelegenheit gegen dich selbst richtest. Überhaupt solltest du alle Gegenstände, die du bisher benutzt hast, um dich zu verletzen, gemeinsam an einen Ort verbringen, an dem du leicht eine innere Hemmschwelle aufbauen kannst: Wenn du Scheren, Cutter oder Taschenmesser verwendet hast, dann steck sie in einen Kissenbezug, leg diesen Kissenbezug unter deine Matratze oder tief nach unten in den Schrank unter die Kleider - irgendwohin, wo du erst einige Sachen aus dem Weg räumen musst, möglichst Kraft aufwenden, um heran zu kommen. So kühlt sich auf dem Weg dorthin deine Wut schon etwas ab, und du hast Zeit, dir die Frage zu stellen "Will ich das wirklich?", falls du beabsichtigst, dich zu schneiden.

Falls es noch nicht bis zum Schneiden gekommen ist, sondern du nur deine Hände eingesetzt hast (so wie du es ja schilderst), dann benötigst du auch hier einen Ersatz, an dem du deine Wut auslassen kannst. Dabei kann es sich theoretisch um alles handeln, auf das du einschlagen kannst, ohne dich dabei zu verletzen - eine Matratze, ein Kissen, ein Stück Styropor, Kartons. An Dingen, die nicht vermisst werden und für dich ungefährlich sind, kannst du deine Zerstörungswut gern auslassen - nur musst du in dem Moment, in dem es dich überkommen will, darauf kommen. Daher, versuche Strukturen zu schaffen, die dich daran erinnern, dass dein Körper es wert ist, erhalten zu werden. Schreib die Wünsche und Pläne, die du für dieses Leben einmal hattest, auf Post-its - "Ich wollte noch einmal ein Mädchen im Arm halten, den ich jetzt schneide", "Meine Hände, die mich würgen, sollen noch einmal ein Abschlusszeugnis entgegen nehmen", und häng sie an die Punkte, die dir als Erstes ins Blickfeld kommen, wenn du wutentbrannt dein Zimmer betrittst. Überhaupt: Denk nach und beschreibe, was du einmal für Gedanken hattest oder noch hast, wie dein Leben aussehen soll, Justin! Du bist im Augenblick massivem Druck ausgesetzt, und es ist nur verständlich, dass du dir schwer tust, deine Emotionen zu kontrollieren. Doch du weißt mit deinem Verstand, dass dich das alles kosten kann, und dass es spätestens zu dem Zeitpunkt, an dem du deine Aggression gegen jemand anderen richtest, keine Entschuldigung dafür gibt. Darum: Setz dich hin, und denk nach, was du dir vom Leben erhoffst - und habe den Mut, dir sicher zu sein, dass das Leben dir das auch schuldig ist. Nutze deinen Überschuss an Energie, um dich von allem zu befreien, dass deine Brust einengt und dich stört: Alte Arbeitsblätter, Ordner und Hefte, eine lang nicht mehr funktionierende Lampe, lauter Kleinkram, der sich angesammelt hat - leere deine Umgebung, wirf weg, verschenke, was du nicht unbedingt brauchst, und du wirst freier atmen können. Vor allem aber: Lass Luft und Sonne an dich, power dich aus, sodass du abends gar nicht mehr viel Gelegenheit hast, nachzudenken, was alles schrecklich war. Geh regelmäßig zu Bett, stehe zeitig auf, und lass nicht zu, dass die Depression dich übermannt. Je mehr Raum du der Dunkelheit gibst, desto mächtiger wird sie, auch wenn du nur deshalb liegen bleibst, um sie nicht zu spüren - das genaue Gegenteil wird eintreten. Es ist nötig, dich zum Handeln zu zwingen, zur Routine, und das kannst am Ende nur du selbst entscheiden. Egal, ob jemand - seien es Eltern, Lehrer, Ärzte oder Betreuer - dir das vorgibt oder nicht. Es ist dein Leben, und das Schöne und zugleich Schreckliche ist, du hast ganz allein in der Hand, was daraus wird. Deshalb musst du Entscheidungen fällen.

Dazu gehört auch - und das ist wichtig: Wenn alles nichts mehr hilft, Justin, und man dich immer weiter drangsaliert, dann zögere nicht, dich an Polizei und Jugendamt zu wenden. Sie sind dafür da. Es scheint eine Tatsache zu sein, dass deine Eltern mit dir überfordert sind - nicht, weil du schwierig wärst, sondern weil sie selbst nicht fähig sind, ihre Aufgabe zu erfüllen, und sich daneben grenzenlos egoistisch verhalten. Es kommt der Punkt, an dem du Schutz suchen musst und das nicht mehr allein abfangen kannst - und leider bist du in so jungen Jahren schon in einer Situation, in der du einschätzen musst, wann dieser Punkt gekommen ist. Lass dir von niemandem sagen, dass deine Lage deine Schuld wäre. Das ist sie nicht. Du durchleidest Krisen wie jeder junge Mensch, doch werden sie durch das Unverständnis und die Hetze deines Umfelds zu Lebenskrisen, die dich bedrohen. Niemand hat das zu verharmlosen oder lächerlich zu finden. Das ist gerade auch in Bezug auf Selbstmordgedanken wichtig: Du bist ein Opfer von Umständen, für die du nichts kannst - in deiner Verantwortung liegt, was du daraus machst. Wenn ich dir auch leider nicht weiter helfen kann, so bin ich mir doch sicher, dass du etwas Gutes daraus machen wirst. Ich vertraue dir und biete dir gerne an, uns wieder zu schreiben, wenn du dir etwas davon versprichst. Einstweilen hoffe ich, dass du eine ruhige Nacht verbringen darfst, und die Sonne bald wieder für dich scheint!

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul