Problem von Jusuf - 13 Jahre

Respektlos mir gegenüber, Mutter hat Brustkrebs

Ich werde in der Familie von wirklich keinem ernst genommen, nicht mal von meinem 7 Jahre alten Bruder. Denn er wird ernst genommen. Das Problem liegt darin, dass wir eine arabische Familie sind und mir beigebracht wurde, dass man jeden respektiert. Mein kleiner Bruder hat das nicht so begriffen. Ich schaff es einfach nicht, dass er mich respektiert, nicht mal wenn ich ihm mal ne kleine Abreibung verpasse. Außerdem leidet meine Mutter an Brustkrebs und muss Währenddessen eine Arztpraxis leiten. Mein kleiner Bruder weiß aber nicht mal, dass sie krank ist. Ich hab noch dazu Probleme mit meinen Klassenkameraden, worauf ich hier aber im Moment nicht näher eingehen will. Ich hab schon an Selbstmord gedacht, aber da ich Mulim bin glaube ich an Allah und möchte daher nicht durch meine eigene Hand sterben.
Meine ganze Wut und Trauer fresse ich durchgehend in mich hinein und finde keinen Weg sie rauszulassen, was alles noch schlimmer macht. Meine Oma, welche immer ein offenes Ohr hatte, ist auch an Brustkrebs verstorben. Ich bin echt verzweifelt, könnt ihr mir helfen? Vielen Dank

PaulG Anwort von PaulG

Lieber Jusuf,

zunächst einmal: Mein tiefes Mitgefühl gilt deiner Mutter, dir und deiner ganzen Familie. Da ihr vor der Aufgabe steht, die Krebserkrankung deiner Mutter gemeinsam zu bestehen und - hoffentlich! - zu überwinden, wünsche ich euch alles nur erdenklich Gute und werde euch in meine Gebete einschließen. Leider war es mir nicht möglich, dir früher zu antworten; auch wenn diese Hoffnung wohl zu optimistisch ist, hoffe ich doch, dass der Zustand deiner Mutter sich besser darstellt als vor zehn Tagen oder sich zumindest nicht weiter verschlechtert hat. Indessen darfst du auch dir ruhig einmal auf die Schulter klopfen, dass du diese schwierige Situation meisterst und dich dabei doch vor allem um deine Mutter sorgst. Sie ist gewiss sehr stolz auf dich.

Mit dem Respekt ist das so eine Sache, Jusuf. Ich stimme dir grundsätzlich zu: Respekt ist von hoher Bedeutung. Es ist enorm wichtig, jedem Menschen die ihm zukommende Höflichkeit, Beachtung und Fürsorge zukommen zu lassen. Und hier habe ich schon das Stichwort genannt: "Respekt" bedeutet nämlich nicht immer nur (zumindest nach meiner Auffassung), dass jeder vor dem Anderen still hält. Es geht dabei auch darum, dass diejenigen, die größer und stärker sind, Nachsicht gegenüber denen üben, die das nicht können, und darauf vertrauen, dass ihre Ermahnungen zu gegebener Zeit schon Wirkung zeigen werden. Dass sie für die Schwächeren und Kleineren da sind, auch wenn die ihnen nicht immer gleich dafür danken. Deshalb sind sie so, weil sie eben noch nicht alles wissen und noch mehr lernen müssen. Wenn du dir bei deinem Bruder mit Gewalt Achtung verschaffen willst, wirst du bei ihm nur Widerstand auslösen - und damit das Gegenteil von dem erreichen, was du willst. Du als großer Bruder bist sehr vernünftig und hast den völlig berechtigten Wunsch, dass ihr alle gemeinsam euch vor allem um eure Mutter kümmern solltet. Dein Bruder, so scheint es dir, will das nicht leisten und muss deshalb eine Bestrafung haben. Aber hast du einmal daran gedacht, dass seine Frechheiten vielleicht ein Ausdruck seiner Angst und Hilflosigkeit sind? Gerade diejenigen, die sich am respektlosesten verhalten, sind meistens die, die ganz genau wissen, dass ihr Verhalten falsch ist. Sie wissen aber nicht, wie es anders geht. Deshalb ist es dein Teil als der ältere und weisere von euch beiden, es deinem Bruder vorzuleben. Dass er deine Kraft beansprucht und dass auch eure Mutter sich Sorgen macht, ja, dass er von ihrer so dringend für die Bekämpfung der Krankheit benötigten Kraft etwas nimmt, wenn er sich respektlos verhält - ich denke, das wird dein Bruder spüren. Aber er ist klein und verängstigt und versteckt das hinter seiner Frechheit. So ist es eben. Nun, Jusuf - wenn ihn die Tränen und Sorgen eurer Mutter nicht bewegen können, Anstand zu haben, wie willst du es dann mit Schlägen schaffen? Du kannst ihn nur immer wieder daran erinnern, dass er eine Aufgabe hat. Und diese Aufgabe ist es, sich höflich zu verhalten, sich in der Schule anzustrengen und etwas aus seinem Leben zu machen. Doch dass er diese Aufgabe hat, muss er erst noch erkennen und einsehen. Jetzt ist er noch klein und braucht Zeit. Er ist ein Kind. Es spricht nichts dagegen, dass er seine Kindheit und seine Freizeit genießt, genauso wenig ist das bei dir der Fall. Aber seinen Platz im Leben - den muss er selbst finden und erfüllen. Du kannst ihn nur darauf hinweisen und ihm ein Beispiel sein. Wenn Strafe sein muss - und du hast Recht, das muss sie manchmal! - dann wähle nicht den Weg der Gewalt.

Wenn es in deiner Macht steht, Jusuf, dann finde einen Weg, ihn zu disziplinieren, ohne ihm weh zu tun. Aber wenn nicht, dann habe auch den Mut, einzugestehen, dass du ihn nicht erziehen kannst (was du auch nicht sollst, du bist nicht sein Vater), und bitte jemanden um Hilfe, der alt und erfahren genug ist. Zum "Respekt" gehört nicht nur die Bereitschaft, anzuerkennen, dass manche Menschen weniger stark und weniger klug sind als man selbst, und deswegen nicht mit demselben Maß gemessen werden können. Dazu gehört auch der Respekt davor, dass die eigenen Möglichkeiten begrenzt sind. Wenn du etwas tun willst, was du nicht kannst - und sei es aus den besten Motiven! - und dich überlastest und zu ungerechten Handlungen hinreißen lässt: dann handelst du respektlos gegenüber deiner eigenen Aufgabe und am Ende verantwortungslos. Unwissen und Erfahrung, Jugend und Alter, Eltern und Kinder - das alles ist von Gott nicht umsonst so eingerichtet. Auch in der Bibel steht: "Alles auf Erden hat seine Zeit." Es ist für dich eine Zeit, jung zu sein, wo du sagen darfst, wenn du etwas nicht verstehst und nicht kannst, und wo es keine falsche, sondern eine höchst löbliche und respektvolle Handlung ist, um Hilfe zu bitten. Wenn du erwachsen bist, bleibt das grundsätzlich so, aber du hast dann andere und größere Pflichten, für die du Verantwortung übernehmen musst - auch, wenn du sie nicht erfüllst. Im Moment musst du nur leisten, was du kannst. Wenn du mehr willst, und daran scheiterst, weil du nicht zugeben kannst, dass du überfordert bist, schadest du nur dir selbst. Dann fehlt es dir an Respekt gegenüber deiner eigenen Person - wie zum Beispiel daran zu sehen ist, dass du Selbstmordgedanken hegst. Habe den Mut, zu sagen, dass es dir zuviel wird - auch wenn es deiner Mutter schlecht geht. Sie würde nicht wollen, dass sie gesund wird, du aber bis dahin zerbrichst.

Daher ist auch mein Rat: Öffne dich weiter und suche dir Hilfe! Vertraue dich Freunden, deinem Lieblingslehrer, deinem Vater an - jedem, von dem du glaubst, es könnte dir helfen, mit ihnen zu reden. Es ist keine Schande, dass die Krebserkrankung deiner Mutter euch alle schwer belastet, sondern die ganz natürliche Reaktion. Und es steht euch deshalb auch zu, dass ihr eine Unterstützung findet - vor allem dir, der du noch jung bist. Verschließ dich deshalb nicht dem Gedanken, dass vielleicht eine Therapie sinnvoll sein könnte: Eine Möglichkeit, regelmäßig zu besprechen, wie es dir geht, und auch, welche Mehrbelastung infolge der Krankheit deiner Mutter entsteht, zum Beispiel durch das Verhalten deines Bruders. Denn eines muss ich dir in aller Deutlichkeit sagen, Jusuf: Gewalt ist nicht in Ordnung, auch wenn sie nur aus bestem Willen und aus Hilflosigkeit kommt. Die Verantwortung der Menschen, die in der Lage sind, das zu erkennen, ist es, zu wissen, wann sie überfordert sind. Und du gehörst zu diesen Menschen. Es kann weder der menschlichen Natur noch dem Willen eines liebenden Gottes entsprechen, dass du Dinge leisten musst, die über deine Kraft und dein Alter gehen. Nimm daher nicht an, dass du es musst, sondern handle erwachsen. Und das heißt: Kenne deine Grenzen! In jeglicher Hinsicht. In der Hinsicht darauf, was du tun und lassen musst (und zu Letzterem zählt Gewalt aller Arten), und in der Hinsicht darauf, was du leisten kannst und musst (deinem Bruder die Eltern zu ersetzen, gehört nicht dazu). Dir ist von Gott nur das gegeben, was in deinem Alter maximal erwartet werden kann - und das ist bereits viel, denn du bist offensichtlich ein sehr aufmerksamer junger Mann von tiefen Gedanken. Lass diesen Mann nicht sterben, indem du aus ihm einen hilflos wütenden werden lässt. Es ist keine Schande, zu sagen "Ich kann nicht" und "Ich habe Angst". Beides ist auch nicht unmännlich. Diese beiden Sätze gehören vielmehr zu den erwachsensten, die es gibt. Denn erwachsen sein heißt auch, nicht alles können zu wollen. Ich wünsche dir sehr, dass du es schaffst - die Kraft dazu sehe ich bei dir. Dann hast du wahrhaft etwas Großes geleistet.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul