Problem von Anonym - 23 Jahre

Vermeidung von Sexualität

Hallo zusammen,

Einmal vorweg: ich verfolge diese Seite schon länger und finde es absolut interessant und hilfreich, die Fragen und Antworten zu lesen, aber bitte bitte, veröffentlicht meine Frage, wenn es möglich ist, nicht. Eigentlich fühle ich mich nicht ganz wohl dabei, darüber im Internet zu schreiben, aber als erstes "Herantasten" an das Problem ist es mir lieber, einem Fremden zu schreiben, als mit jemand Vertrautem darüber zu reden. Falls es gar nicht anders geht, ist es mir aber lieber, dass die Frage veröffentlicht wird, als dass sie nicht beantwortet wird.

So, jetzt zu meinem Problem. Ich hoffe, ich vergesse nichts Wichtiges.
Ich bin 23 Jahre alt und habe absolut keinerlei sexuelle Erfahrung. Natürlich schäme ich mich dafür manchmal ein bisschen, ich bin jemand, der sehr nach persönlicher Entwicklung strebt, und das ist immerhin ein Gebiet , auf dem ich sehr "hinterherhinke". Gerade in der Pubertät habe ich darunter sehr gelitten, da ging es ja um nichts anderes, und ich hatte das Gefühl, völlig Unzulänglich zu sein. Mich hat Sexualität und Co. schon interessiert, ich erinnere mich daran, bestimmte Szenen in Büchern gerne 100 Mal zu lesen, und irgendwann mit 13/14 (?) habe ich auch angefangen, mich selbst zu befriedigen und mochte das auch, obwohl ich mich dafür geschämt habe und mich immernoch dafür schäme. Aber im "realen Leben" habe ich mich nie zum anderen Geschlecht hingezogen gefühlt (meine Umwelt war absolut heteronormativ, und mein Horizont hat nicht ausgereicht, überhaupt die Möglichkeit zu sehen, dass ich vielleicht Mädchen lieber mag). Ich wollte einen Freund haben, um sozial anerkannt zu werden, nicht weil ich wirklich einen Freund haben wollte. Ein paar Mal habe ich versucht, mit Jungs aus meiner Klasse zu flirten, weil man das ja eben so machen muss, aber es hat sich absolut erzwungen und merkwürdig und doof angefühlt. Vor lauter Angst vor den Erwartungen und dem Druck anderer habe ich angefangen, Jungs sogar ein bisschen aus dem Weg zu gehen.
Heute fallen mir manche Szenen ein, dass ich gerne in der Disco meinen Freundinnen beim Tanzen zugeguckt habe, ein Kuss auf die Wange meiner besten Freundin, der ein bisschen zu sanft war und sie deshalb irritiert hat, usw, weswegen ich unter Anderem denke, dass ich auf Frauen stehe. Zu Beginn meines Studiums habe ich außerdem ein Mädchen kennengelernt, in die ich mich, glaube ich, verliebt habe. Wir sind uns emotional sehr nah und ich habe ein wenig das Gefühl von "Seelenverwandtschaft" zu ihr, mit der Zeit kamen wir uns auch körperlich ein bisschen näher, wir haben uns oft lange und eng umarmt, sie hat mir über den Rücken gestreichelt, ihre Hand auf meinen Oberschenkel gelegt und Dinge gesagt wie "Du bist so ein wundervoller Mensch". Ich war damit ein wenig überfordert, habe es aber auch sehr genossen, und mich irgendwann dazu überredet, meine Gefühle anzusprechen, weil ich die Ungewissheit nicht mehr ausgehalten habe, und weil ich mir eigentlich sicher war, dass es ihr auch so geht. Ich wusste, dass sie (auch) auf Frauen steht und genauso wenig Erfahrung hat wie ich, und die körperliche und emotionale Nähe hat meiner Meinung nach für sich gesprochen. Trotzdem hat sie gesagt, es wäre nicht mehr als Freundschaft für sie. Ich bin aus allen Wolken gefallen und denke, um ehrlich zu sein, heute noch, dass sie sich etwas vormacht.
Naja, auf jeden Fall war ich mir wegen dieser Erfahrung relativ sicher, auf Frauen zu stehen, dass weiß mittlerweile auch mein Umfeld. Insgeheim mache ich mir aber Sorgen, ob ich mir diese Gefühle vielleicht nur eingeredet habe und gar nicht wirklich in sie verliebt war/bin, sondern mein Gehirn sich in etwas reingesteigert hat, damit ich endlich etwas "normaler" bin. Vielleicht bin ich gar nicht "lesbisch", sondern habe nur ein gestörtes Verhältnis zu meiner Sexualität. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass ich mit 23 immernoch überhaupt keine Erfahrung habe. Das ergibt sich bei anderen Menschen trotz Nervosität ja auch irgendwie von selber, und ich bin eigentlich relativ mutig, würde ich sagen. Ich bin auch nicht schüchtern, ich lerne gerne neue Leute kennen und habe mehrere enge Freunde. Probleme mit platonischem Körperkontakt habe ich auch nicht, ich umarme alle meine Freunde und bin dem deutschen Durchschnitt entsprechend offen dafür. Das war während meiner Pubertät alles sehr anders, da war ich sehr schüchtern und habe eigentlich niemanden berührt. Das ist aber Jahre her.
Ich sehne mich danach, jemandem körperlich nah sein zu dürfen und mich fallen zu lassen, gleichzeitig habe ich aber das Gefühl, Sexualität und Partnerschaft ist etwas, was mir einfach verwehrt bleibt, und ich besser daran tue, mich damit abzufinden. Ich kann mir aber nicht erklären, woran das liegt oder was ich daran ändern kann. Lange habe ich auch die Strategie verfolgt, geduldig zu sein, mein Leben zu genießen und abzuwarten, das klappt auch ganz gut, scheint aber nichts zu bewirken, und ich leide schon darunter.
Naja, obwohl, mir fällt noch ein, dass meine Eltern in Bezug auf meine Aufklärung sehr zurückhaltend waren. In einem Tagebuch an mich schreibt meine Mutter, ich hätte angefangen zu fragen, wie denn das Baby in den Bauch kommt oder so, und sie meinte, sie hätte sich auf eine Antwort nicht vorbereitet gefühlt und schreibt, sie hätte zu mir gesagt, dass finde sie schwierig, sie will mir ein Buch dazu kaufen. Falls ihr jetzt auf die Idee kommt, mir zu sagen, ich soll mit meiner Mutter nochmal darüber reden; sie lebt mittlerweile nicht mehr. Meine Eltern haben sich schon ab und zu umarmt oder sich einen kurzen Schmatzer auf den Mund gegeben, aber Sexualität an sich war eigentlich nie ein Thema in unserer Familie, nicht, dass ich mich erinnern kann, zumindest. Liebevollen Körperkontakt gab es aber schon, wir haben, als ich noch klein war, viel gekuschelt, und emotional vernachlässigt oder so wurde ich auch nicht. Meine Mutter konnte höchstens ab und zu (eher selten) ziemlich aggressiv sein, und in der Pubertät hatte ich einmal Probleme mit emotionaler Gewalt, die meine beste Freundin mir gegenüber an den Tag gelegt hat.

So, ich glaube, das ist alles, was mir dazu einfällt. Danke schon mal fürs Lesen, und ich würde mich sehr über ein Antwort freuen!!

Liebe Grüße :)

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Anonyme,

vor allem Anfang ist es an mir, dich um Entschuldigung zu bitten, weil wir dein Problem trotz deines Wunsches veröffentlichen. Ich kann nur hoffen, dass meine Antwort dir soweit weiterhilft, dass du deine Erlaubnis nicht bereust. Wir haben das Thema, ob man die Veröffentlichung der Zuschriften optional gestalten sollte, erst kürzlich wieder im Team diskutiert. Das Ergebnis der Diskussion war, dass - wenn dies nicht die absolute Ausnahme bleibt - es letztlich unser Konzept untergraben würde, das eben auch davon lebt, dass Menschen mitlesen und sich in den Gedanken und Lebenslagen Anderer spiegeln können - so wie du es ebenfalls getan hast, und auch ich, als ich noch nicht selbst im Team war, sondern meine großen Lebenskrisen durchmachte, die jetzt schon ein paar Jahre zurück liegen. Ich freue mich, dass du trotz deiner Unsicherheit in Bezug auf unser Vorgehen - die vollkommen verständlich ist! - den Mut gefunden hast, dich zu öffnen. Ich fasse das als großes Lob unserer Arbeit auf und hoffe sehr, dass ich dieses Vertrauen nicht enttäusche.

Du hast deine Situation in die Kategorie "Gesundheit" eingeordnet. Das ist nicht uninteressant: Es legt den Gedanken nahe, dass du das, was du fühlst (oder nicht fühlst), als pathologisches Problem betrachtest. Frei nach dem Motto: Mit mir kann etwas nicht stimmen, auf einer ganz grundsätzlichen Ebene. Ich kann dir schon jetzt verraten, dass ich diese Einschätzung deiner selbst nicht im Mindesten teile, und dass es mein Wunsch ist, dich von einer anderen zu überzeugen - auf dass du das, was du bist und was du empfindest, leichter annehmen kannst.

Du schreibst über Sexualität: "Das ergibt sich doch (normalerweise) irgendwie von selbst." Hier sind die Wörter, bei denen die Alarmglocken schrillen sollten: "Irgendwie" und "von selbst". Ehrlich gesagt - den Eindruck habe ich nicht. Wenn alle Menschen sich bei der Sexualität die Zeit ließen, die sie brauchen, wir wüssten nicht, wie das aussähe. Es ist eine Tatsache, dass die Gesellschaft, in der wir leben, extrem sexualisiert ist: Bereits Elf- und Zwölfjährige haben "Beziehungen", also Leute, die noch nicht wirklich wissen können, ob sie lieber mit dem Kuscheltier oder dem Jungen oder Mädchen von nebenan unter die Bettdecke schlüpfen wollen; und wie könnte es anders sein, denn es gibt ja keinen Menschen, der mit der Frage nach Liebe (oder richtiger: Sex, denn die Liebe kommt oft ziemlich zu kurz) nicht ständig konfrontiert würde. Zurzeit diskutiert man, ob es eventuell zu früh sein könnte, Kinder in diesem Alter über Sexualität aufzuklären - der blanke Hohn, wenn man bedenkt, dass sie in diesem Alter womöglich schon etliche Pornos gesehen haben. Dass aus der erlebten Realität, die wir alle haben - und die uns weismachen will, dass a) Sex das Wichtigste ist und b) mehr oder weniger jeder mehr Sex hat als wir -, und unserer persönlichen Lebenswelt, in der oftmals nicht wirklich offen über Liebe, Beziehung und Sex gesprochen wird, ein heftiger Kontrast und dadurch große Verunsicherung entsteht, liegt auf der Hand. Bei dir ist diese Verunsicherung besonders groß: Denn während du auf der einen Seite nicht wirklich sexuell aufgeklärt wurdest, Zärtlichkeit bei deinen Eltern auch nicht gerade als etwas Selbstverständliches erlebt hast, prallte trotzdem der Druck, dich den allgemeinen Liebeleien anzuschließen, mit voller Wucht auf dich ein - bis heute unterliegst du diesem Druck, hast ihm aber nicht nachgegeben. Ich möchte meinen: Es darf dich stolz machen, dass du dir dein Sexualleben bisher eben nicht hast vorschreiben lassen, und Konventionen, das vermeintlich "Normale", nicht einfach für deine eigenen Bedürfnisse gehalten hast. Hättest du das, würdest du es heute vielleicht glauben, und könntest die Quelle deiner Unzufriedenheit gar nicht lokalisieren. So, wie die Dinge jetzt stehen, würde ich aber sagen, dass du eigentlich unheimlich viel richtig gemacht hast: Zwar bist du dir bis heute über deine sexuelle Orientierung nicht abschließend sicher - aber du weißt, dass Sexualität für dich zu einem besonderen Menschen gehören soll. Wer der- oder diejenige ist, wenn es nicht deine Studienfreundin ist, können wir jetzt noch nicht sagen. Entscheidend ist aber: Du lebst dein Leben, in deinem Tempo, nicht das der Anderen. Und das ist eine gute Sache.

Um es ganz offen zu sagen: Ich glaube nicht, dass es mir zusteht, hier Mutmaßungen darüber anzustellen, ob du nun zu gleich- oder gegengeschlechtlicher Liebe gemacht bist. Mal ganz davon abgesehen, dass es sowieso im Grunde egal ist - das eigentlich Wichtige ist der Mensch, um den es geht, nicht sein Geschlecht -, musst du das ja auch nicht unbedingt wissen. Vielleicht stellt es sich mit der Zeit heraus, dass du wirklich nur Frauen lieben kannst. Vielleicht begegnet dir auch ein Mann, der dich deine bisherigen Erfahrungen vergessen macht. Vorerst wartest du in erster Linie auf die Liebe - in welcher Gestalt sie dir begegnet, darfst du ruhig mit einer gewissen Neugier erwarten, und musst dir nicht im Vorfeld Druck machen, zu wissen, wonach du suchst. Lass dich finden - und die Persönlichkeit, in die du dich verliebst, wird dir zeigen, ob und welche Bedeutung das Geschlecht hat. Nach allem, was du bisher sagen kannst, sieht es tatsächlich - auch für mich - so aus, als wärest du lesbisch oder zumindest bisexuell: Denn du hast dich nicht nur in eine Frau verliebt, sondern fühlst dich auch von Frauen fasziniert. Wobei ich hier das aufnehme, was ich mir bei deiner Schilderung gedacht habe. Denn, liebe Anonyme, das eine ist mir aufgefallen: Du beschreibst das, was du zum Beispiel beim Anblick von Freundinnen in einer gelösten Situation empfunden hast, nicht als sexuelle Erregung - was man erwarten würde -, und auf der anderen Seite erzählst du überhaupt nicht, ob und woran du denkst, wenn du dich selbst befriedigst. Damit möchte ich nicht etwa andeuten, dass ich mir diese Information von dir gewünscht hätte - es liegt völlig bei dir, was du erzählst. Wenn der Gegenstand deiner Fantasien Frauen sind, dann legt das natürlich nahe, dass dies auch deiner allgemeinen Orientierung entspricht. Jedoch: Allein die Tatsache, dass du, aus welchen Gründen auch immer, aber darauf verzichtet hast, darauf einzugehen, verrät uns etwas darüber, wie du deine sexuellen Präferenzen bestimmst: Es scheint für dich nicht so wesentlich zu sein, was dich optisch reizt oder anzieht, sondern du legst großes Gewicht darauf, ob Gefühle im Spiel sind. Darüber hinaus nimmst du besonders "stimmungsvolle", ästhetische Momente wahr, wie dann, wenn jemand so richtig befreit ist und sich in die Musik hineinlegt. Du schreibst nicht etwa von Körpern, die dich begeistert hätten, sondern von Situationen. Momentaufnahmen eines Menschen werden bei dir sehr stark gewichtet - anders als bei vielen Leute, die vor allem ein Interesse an einer bestimmten Augenfarbe, einer bestimmten Frisur, einem großen Busen, Sommersprossen, vollen Lippen usw. haben. Bei dir geht es aber nicht um den Körper, sondern um das subjektive Erleben eines Menschen in einem Augenblick, in dem dieser gelöst und glücklich war. Aus diesem Erleben heraus kam dann ein Verhalten, das denen, die es so nicht hatten, merkwürdig erschienen sein mag - sie hatten ja keine Ahnung von deiner tiefen Ergriffenheit, wo sie vielleicht gerade gar nichts gefühlt haben. Ein besonders zärtlicher Kuss, den du verteilt hast, muss ja noch kein Hinweis darauf sein, dass du nur Frauen liebst - aber er verrät, dass du in diesem Moment eine Anziehung zu einer Frau gefühlt hast, die über das rein Freundschaftliche hinausging. Da du in den vergangen Jahren eben eine ganze Reihe von "Frauen-Momenten" hattest, haben deine Annahmen natürlich Hand und Fuß. Gleichzeitig will ich, wenn du dir eben doch nicht sicher bist, auch kein Urteil fällen, da ich dich damit womöglich noch weiter verunsichere. Vorerst kann man, denke ich, folgende Dinge über dich sagen: Erstens - du hast grundsätzlich Interesse daran, dich sexuell auszuleben, bist also nicht asexuell. Zweitens - es ist nicht gesagt, aber wahrscheinlich, dass du nur Frauen lieben kannst. Und drittens - für dich gehören Liebe und Sex zusammen. Und das so stark, dass Begierde und Liebe für dich kaum zu trennen sind. Im Zentrum deiner Sexualität steht das Gefühl, das du hast, wenn du dich verliebt hast - auch wenn dieses Gefühl bisher nur einmal so weit gereift ist, dass es dir bewusst wurde. Du bist in unserer Zeit, in der die Begierde allgegenwärtig ist, die Liebe aber oft zu kurz kommt, eine Ausnahme - denn du protestierst nicht nur gegen diese Umstände, du hast es bisher geschafft, dich dem physisch zu verweigern: Du brauchst die Liebe, um dich sexuell fallen lassen zu können. Das solltest du dir erhalten, denn es ist eine große Qualität, kein Defizit.

Nach allem ergibt es sich in meinen Augen: Du gehst mit diesem kostbaren Geschenk, der Liebe, sehr würdig um. Es dauert für dich lange, bis du sagen kannst, dass du dich verliebt hast - andererseits teilst du manchmal Liebesbeweise aus, ohne dass es dir direkt bewusst ist. Und darüber hinaus ist Begehren und der Wunsch nach Nähe für dich an diese emotionale Ebene geknüpft: Alles, was vorher kommt, bleibt unbestimmt - du brauchst einen Menschen, auf den sich dein Verlange richten kann, und es muss ein besonderer Mensch sein. Du kannst nicht einfach, so wie es vermeintlich "normal" zu sein scheint, deine Begierde auf einen attraktiven Mitmenschen lenken und das dann als deine sexuelle Orientierung nehmen. Um es anders zu sagen: Dein Verständnis von Liebe und Sexualität folgt nicht den gleichen Richtpunkten wie das vieler Menschen, für die es "normal" ist, ständig zu begehren, und daraus dann abzuleiten, wer sie sind. Bei dir ist Liebe und Sexualität etwas Punktuelles, das einen Anlass benötigt. Du "hast" es nicht einfach, du kannst es nur dann erschließen, wenn dir jemand begegnet, der dir dafür würdig erscheint. Bei dir sind größere Zurückhaltung und Würdigung von Sexualität verinnerlicht. Man könnte das jetzt als etwas Negatives sehen, man könnte behaupten, du seist traumatisiert, zurückgeblieben - eine Darstellung, die ich vehement bestreiten möchte. Es ist sicher nicht falsch, dass die Art, wie du aufgewachsen bist, deinen behutsamen Zugang zur Sexualität mitgeprägt hat. Andererseits sollte man sich davor hüten, das Ganze zu pathologisieren, denn es entsteht dabei ja kein Leidensdruck für dich.

In vielem erinnerst du mich sehr an meine letzte Freundin, die sich lange Zeit als asexuell definiert hat: Für viele Jahre ist das Thema Sexualität in ihrem Leben kaum vorgekommen. Weder hat sie einen Freund oder Freundin gesucht, noch hatte sie ein intensives sexuelles Bedürfnis - jedenfalls keines, das sie bewegt hätte, unbedingt Erfahrungen zu suchen. Eher noch hat sie das Ganze, wie auch du es genannt hast, "vermieden", ja für sie war es ekelerregend - hier liegt natürlich ein Unterschied zu dir, denn du beschreibst es zwar als schambesetzt, doch fehlen bei dir die traumatischen Erfahrungen, die meine Exfreundin hatte. Tatsächlich war ich für sie der Mensch, bei dem sie sich "fallen lassen" konnte - und nach der Beziehung mit mir ist sie sich darüber klar geworden, dass das Thema für sie eine Rolle spielt. Sicherlich gibt es zwei wesentliche Unterschiede - da ist zum Einen die Vorgeschichte, zum Anderen aber, dass du ja durchaus deinen Körper erkundet und der Frage, wie eine Beziehung sich wohl anfühlt, nicht ausgewichen bist. Dennoch brauchte es auch für dich erst den besonderen Menschen - in deinem Fall war es deine Studienfreundin - um dir einen Zugang zu ermöglichen: Leider hat sie ihn dir verwehrt, betrachtet es als rein freundschaftlich. Nichtsdestotrotz weißt du jetzt, dass dir etwas in deinem Leben fehlt. Du willst es nicht mehr vermeiden, du hast jetzt eine Vorstellung, wonach du suchst - nur, dass du wählerisch bist. Was auch dein gutes Recht ist. Denn wenn es irgendwo gute Gründe dafür gibt, dann ja wohl beim Thema Sex.

Vermutlich merkst du schon: Ich kann letztendlich keine deiner zentralen Fragen beantworten. Aber ich möchte dir eine Reihe von Dingen mitgeben. Da ist zum Einen: Ich sehe hier kein gesundheitliches Problem, sondern eine bestimmte Herangehensweise an das Thema Liebe - du fühlst tiefer, verliebst dich schwerer, hast höhere Vertrauensschwellen und Schamgrenzen; all das ist aber nicht per se schlecht, sondern es erscheint dir vor einem bestimmten sozialen und kulturellen Hintergrund "unnormal". Zu anderen Zeiten hätte man darüber anders gedacht: "Liebe" war in vergangenen Jahrhunderten oftmals primär das Gefühl, das man hat, wenn man sich entschlossen hat, zu heiraten. Alles Andere fiel nach Meinung der Zeitgenossen höchstens unter Schwärmerei - oder war als rein körperlich einzustufen. Vielleicht hätte dir als Mensch ein anderes Zeitalter mehr gelegen, in dem eine Erziehung, die den ganzen Themenkreis weitgehend vermied, ganz üblich war, und das Gefühl der Liebe auf einen bestimmten, heiligen Kreis eingeengt wurde, die Ehe. Dieser Verpflichtung, die in der Tat sehr einengend ist, unterliegen wir zum Glück nicht mehr, aber ich glaube doch, dass du dich selbst als jemanden sehen solltest, die weder krank ist noch ein soziales Problem hat, sondern der es gegeben ist (ja, es ist eine Gabe), die Liebe sehr heilig und behutsam zu behandeln. Um sie zu leben und Sexualität aus ihr zu entwickeln, benötigst du einen besonderen Menschen. Wenn du das nicht akzeptieren möchtest und dich womöglich in Erfahrungen stürzt, die dich verstören, weil du unbedingt welche vorweisen können willst, schadest du dir womöglich selbst. Ich möchte dich daher ermutigen, das, was du erlebst, als etwas grundsätzlich Gutes anzusehen. Eines dürfte klar sein: Es braucht diese bestimmte Person! Und du weißt nicht, wann du sie findest, doch wissen wir beide, dass du sie finden wirst. Vielleicht schon heute. Die Frage, ob du lesbisch bist oder nicht, ist da schon zweitrangig, wenn sie denn überhaupt von Bedeutung ist: Es steigert ja nur die Spannung bei dieser Suche, wenn du dich vollkommen überraschen lässt. Sieh dich weniger als mit Defiziten behaftet - wenn du kannst, überhaupt nicht; sei lieber neugierig auf das, was noch kommt. Dann wird es für dich wunderschön werden. Und es ist mein Wunsch für dich, dass es das werde.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul