Problem von Helena - 21 Jahre

Antwort an Paul

Lieber Paul,

Vielen Dank für deine schnelle Antwort und dafür, dass du dir so viel Zeit genommen hast! Schade, dass Bernd aufgehört hat, aber er wird sicher seine Gründe dafür haben.
Ich wollte dir gerne auf deine ausführliche Antwort zurück-antworten, auch auf die Gefahr hin, dass ich jetzt vielleicht ein bisschen "spamme" :D.

Was du geschrieben hast, hat mich sehr zum Nachdenken angeregt und ich denke du hast Recht! Tatsächlich wundert es mich, dass ich noch gar nicht selbst auf die Idee gekommen bin... gerade das, was du über die gewisse "Unbefangenheit" gesagt hast, die man braucht.. Man merkt es Menschen schließlich an, wenn sie zu krampfhaft versuchen etwas zu erreichen- ich selbst finde ja auch die Menschen am Sympathischsten, die mit sich selbst im Reinen sind und nicht versuchen irgendetwas zu erzwingen.
Ich würde nicht sagen, dass sich das bei mir zu einer Obsession entwickelt hat- ich habe mir die "Hobbys" schon in erster Linie nach meinen eigenen Interessen ausgesucht, habe aber durchaus gehofft nebenbei nette Menschen kennen zu lernen, die zu Freunden werden könnten.
Ich glaube aber auch wie du gesagt hast, dass sich diese gewisse "Bedürftigkeit" bei mir auch irgendwie nach Außen hin zeigt, auch wenn ich meine, meine Emotionen nach außen hin ganz gut im Griff zu haben. Aber vielleicht ist es genau das..- dass ich nicht will, dass Andere merken, wenn ich traurig oder unglücklich bin und wahrscheinlich wirkt das von Außen eher so als wäre ich verkrampft oder würde etwas verbergen (Menschen können sich schließlich nicht komplett verstellen, außer Psychopathen vielleicht..).
Du hast mir den Ratschlag gegeben meine eigenen Interessen zu entwickeln und das, was ich mache, hauptsächlich für mich zu machen und ich möchte gerne versuchen das umzusetzen. Ein Problem, das ich bei dem Gedanken habe, ist allerdings, dass ich wiedermal oft unsicher dabei bin Dinge allein zu machen (also allein ins Kino zu gehen, allein essen zu gehen, allein zu Veranstaltungen zu gehen etc.)- meinst du ich muss da einfach durch und dass sich das mit der Zeit gibt, oder hast du vielleicht eine Idee wie ich mich dabei sicherer fühlen kann? Ich gehe z.B. tatsächlich ganz gerne mal in Clubs -hauptsächlich deshalb, weil ich sehr gerne (v.a. auch mit anderen zusammen) tanze- da kann man bestimmt auch recht viele leute kennenlernen (wenn auch dann wiederum wahrscheinlich nicht unbedingt den "Typ" von Menschen die ich mag..:D), es will aber nicht immer jemand mitgehen und alleine würde ich mich sehr unwohl fühlen.
Aber ich muss mir denke ich sowieso noch andere Aktivitäten überlegen, v.a. für tagsüber oder am Wochenende als Ausgleich zur Uni..

Momentan fühle ich mich echt sehr alleine, es fühlt sich an als wäre da ein richtig schwerer Stein in mir, noch dazu fühle ich mich deswegen schlecht -es ist mir fast peinlich- und mit diesem Gewicht ist es gewissermaßen sehr schwer aufzustehen.. das ergibt dann sozusagen eine negative Rückkopplung..
Ich meine... ich bin jung, ich sollte Spaß haben, viel unternehmen, eben unbefangen sein. Es kommt mir echt ziemlich erbärmlich vor, dass die, mit denen ich am meisten Zeit verbringe 1. ich selbst und 2.meine Eltern sind...
Aber genug rumgejammert, deine Antwort hat mir auf jedenfall Motivation gegeben, etwas zu unternehmen (jetzt in den Ferien kann ich vielleicht einfach mal mit joggen oder spazieren gehen beginnen, ich merke immer, dass es mir schon deutlich besser geht wenn ich draußen an der frischen Luft bin.)

Nochmal danke fürs Zuhören und die Ideen, du hast mir sehr geholfen :)

Liebe Grüße,
Helena

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Helena,

du darfst mich gerne "spammen", soviel du nur magst - wichtig ist, dass es dir hilft. Dafür bin ich da.

Wenn du sagen kannst, dass du deine Hobbys und Aktivitäten tatsächlich an deinen Interessen ausrichtest, dann ist das ja wunderbar: Denn du musst dich nicht komplett neu erfinden, sondern besitzt ein reiches Leben und eine wertvolle Struktur in deinem Alltag. Ich hoffe, nicht so gewirkt zu haben, als wollte ich dich überreden, alles "auf null zu schalten". Wichtig ist vor allem die Achtsamkeit: Das, was du tust, planst und unternimmst, an deinen Wünschen und Bedürfnissen auszurichten - sowohl in der Zukunft, wie bei dem, was schon vorhanden ist. Dich immer zu fragen: Was tut mir gut? - und was nicht? Wenn du das bis jetzt so getan hast, zeigt es dir nur, wie gut du dich selbst kennst, und dass du auf einem sicheren Terrain stehst, das du dir selbst erschlossen hast. Jetzt geht es darum, es zu erweitern und neu zu erleben.

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Das zeigt sich über das ganze Leben immer wieder: Dinge, die man lange nicht gemacht hat, oder die man überhaupt nie aus eigenem Antrieb gemacht hat, können auch im Erwachsenenalter schwer fallen. Deshalb ist das Wichtigste, das du im Blick behalten solltest, nicht im Voraus von dir zu erwarten, dass du etwas kannst. Es ist nur natürlich, dass etwas, was neu ist, erst einmal Unsicherheit hervorruft - egal, wie alt man ist, und egal, wie oft man es schon mit Menschen zusammen gemacht hat, die einem Sicherheit gegeben haben. Die aber jetzt nicht mit dabei sind. Ich kann mich noch erinnern, wie ich vor ein paar Jahren zum ersten Mal ohne Gruppe im Saturn war, um eine CD zu kaufen: Es war mehr oder weniger so, als würde ich zum ersten Mal in meinem Leben überhaupt etwas kaufen - denn das war immer etwas wie ein Event gewesen, während der Schulzeit, mit einem halben Dutzend Leuten. Es jetzt allein zu machen, einfach, weil es mich gerade hinzieht, ohne eine leitende Stimme und ohne Gruppensituation - war irgendwie respektvoll. Es hat funktioniert, auch wenn ich mich erst einmal seltsam gefühlt habe. Auf einmal kommt man sich regelrecht nackt vor, weil es keine "Peer group" gibt, die einen abschirmt, weil mit jedem Blick, jedem Satz, jeder Frage man ausschließlich selbst gemeint ist. Das zu erleben, kann im ersten Moment verstören - weil man ja nicht von sich erwartet, dass es schwer fällt. Man ist schließlich alt genug. Das stimmt zwar, aber trotzdem ist eine menschliche Veranlagung, an einem Ort, an dem man noch nie allein war, erst einmal vorsichtig zu sein. Die Sinne sind geschärft, alles, was um einen herum passiert, bezieht man auf sich. Aber jetzt kommt der Clou: Wenn es geschafft ist, fühlt es sich gut an, und die Hemmschwelle sinkt. Es gilt, sie erst in Angriff zu nehmen, und dann durch Gewohnheit niedrig zu halten.

Das braucht seine Zeit - die Wissenschaft möchte wissen, dass der Mensch eine Handlung zwanzig- bis dreißigmal ausgeführt haben muss, bis sie halbwegs routiniert ist. Und dann muss man natürlich immer noch in gewissen Zeitabständen nachlegen, sonst verliert sich die Vertrautheit wieder. So ist letztlich das gesamte Leben ein ständiger Kampf, das eigene "Revier" zu kennen und den Überblick zu behalten. Nicht umsonst gehen wahrscheinlich die meisten Menschen mit Vorliebe in den Läden einkaufen, in denen sie schon alles kennen, ihnen die Gesichter vertraut sind, wo sie nicht in Gefahr sind, etwas fragen zu müssen - selbst wenn das bedeutet, dass sie womöglich Umwege machen oder länger warten müssen, bis sie etwas bekommen. Man weicht ungern von Gewohnheiten ab, weil sie Sicherheit bieten. Und hinter dieser Sicherheit verbergen sich die, die andere mitziehen, die dann ihrerseits gar nicht darauf kommen, dass das jeweilige "Zugtier" der Gruppe vielleicht insgesamt gar nicht so selbstsicher ist, wie es scheint. Sondern nur in diesem Moment, weil es sich auf vertrautem Territorium bewegt. Und weil es einen Anlass hat, der es unter Zugzwang setzt: Ich will jetzt mit meinem Schwarm diesen Film sehen, will meiner Freundin dieses Album zeigen, will jetzt mit meinem Besten wieder mal eine Pizza essen... dass Menschen sich verbinden, um etwas zu tun, hilft ihnen, ihre eigenen Unsicherheiten zu überdecken. Deshalb ist es eine gute Übung, dies alles mal allein zu probieren: Es verschafft dir Gewissheit, dass deine Umwelt dir nicht etwa feindlich gesinnt ist, dass du nicht auf andere Menschen angewiesen bist, um dich als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft fühlen zu dürfen - und dass du nichts verpasst, keine Lebenszeit ungenutzt verfließen lässt, weil gerade niemand da ist, der etwas mit dir unternehmen möchte. So viele Menschen sagen sich jeden Tag "Wenn, dann..." Wenn mein Freund in den Semesterferien endlich zurück ist, werde ich mit ihm diese Radtour machen. Wenn meine Freundin mal wieder Zeit hat, werden wir herausfinden, wie das Essen in diesem Lokal schmeckt. Wenn meine Mutter mal mit ihrer Diät fertig ist, werden wir zusammen dieses Gericht kochen... Wenn dann, wenn dann, wenn dann. Und vor lauter "Wenn, dann" vergeht die Zeit und man merkt irgendwann, dass man nicht gelebt hat, weil man das Ausleben seiner Interessen von anderen Menschen abhängig gemacht hat. Aber es sollte anders sein: Man sollte Pläne machen, sie einfach ausführen - und den Rest der Menschheit vor vollendete Tatsachen stellen. Dann werden sie womöglich nicht nur eher bereit sein, mitzuziehen, sondern man wird unversehens selbst zum "Zugtier" - und das winzig geglaubte Selbstbewusstsein ist auf einmal in ungeahnte Höhen gestiegen. All das kommt nicht über Nacht, aber es ist wichtig, es sich immer wieder zu sagen: Leben ist genau jetzt, und ich habe es in der Hand, nicht andere Leute.

Wenn du dich zu etwas überwindest, wirst du die Zeit anfangs vielleicht als "Spießrutenlaufen" wahrnehmen, weil dir alles, was um dich herum geschieht, auf dich gerichtet vorkommt: Jeder erscheint besonders genervt, jeder scheint einen schlechten Tag zu haben, jedes Lächeln scheint Geringschätzung auszudrücken... Und entsprechend wächst bei dir das Bedürfnis, alles, aber auch wirklich alles richtig zu machen: Alles, was du sagst, soll so gediegen wie möglich sein, dein Lächeln perfekt und einnehmend, deine Gesten selbstsicher und kontrolliert sein - nur, damit du als der souveräne Mensch erscheinst, der in Wirklichkeit niemand ist. Es ist wichtig, sich zu sagen: In der Welt der Anderen sind die meisten Leute, die ihnen zufällig begegnen, erstmal nur ein kleiner Punkt. Mit was du dich ins Gedächtnis brennst, kannst du nicht sagen. Eine Bemerkung, die dir in Gedanken rausgerutscht ist, und die dir fürchterlich unpassend erscheint, wegen der du die Nacht darauf nicht schlafen kannst, wird ein anderer Mensch vielleicht gar nicht beachten. Andererseits wird ihm etwas, was du ganz beiläufig gesagt oder getan hast, in Erinnerung bleiben und ihn oder sie für dich einnehmen. Ich kann mich an eine Reihe von Situationen in meiner ersten Beziehung erinnern: Sie sagte damals, sie hätte sich in mich verliebt, als ich beiläufig etwas über ein Mädchen erzählt hatte, in die ich früher verliebt war - gar nicht mit der Absicht, sie zu beeindrucken, einfach weil es sich ergab und ich gerade einen offenen Moment hatte. Dann später, wir waren schon länger zusammen, besuchte ich sie im Krankenhaus - sie hatte ziemlich überraschend große Probleme bekommen, und ich war sehr besorgt. Doch als ich ankam, zeigte es sich, dass sie ziemlich guter Dinge war und sich mit ihrer Zimmernachbarin schon gut verstand. Sie stellte sie mir vor - "Das ist Celine" -, und aus irgendeinem Grund, ich weiß nicht, ob ich damals gerade an eine Celine dachte, die mir unsympathisch gewesen war, und an die ich mich heute überhaupt nicht mehr erinnern kann, aus irgendeinem Grund jedenfalls rutschte mit "Ausgerechnet Celine!" heraus. Ich verbrachte eine schlaflose Nacht, weil ich Angst hatte, das Mädchen, die ich liebte, blamiert zu haben - nur um bei meinem nächsten Besuch festzustellen, dass beide das völlig vergessen hatten. Wenn du dich also durch einen Raum bewegst, ein Geschäft betrittst, dich zu einem Menschen setzt, angesprochen wirst, was auch immer, Helena: Denke daran, dass es dir nie gelingen kann, auf alle Menschen exakt die Wirkung zu erzielen, die du erzielen möchtest. Missverständnisse können sich immer ereignen, und manchmal können zwei Leute sich einfach nicht riechen - so ist es eben. Die Erfahrung zeigt aber, dass sich ein Missverständnis, das sich ungewollt ereignet hat, immer noch leichter ausräumen lässt, als die Verwirrung, die man stiftet, wenn man sich aus Angst vor einem solchen kühl und unnahbar gibt. Wenn du also etwas erlebst, das dir irgendwie missglückt erscheint, dann sag dir selbst vor "Soll ich mich ärgern? Nein, das werde ich nicht!" Denn wenn du arglos warst, bist du erst einmal schuldfrei. Wenn jemand etwas unsensibel fand oder dich nicht verstanden hat, kann er oder sie nachfragen. Wer das nicht tut, der braucht dich auch nicht zu kümmern. Du weißt, dass du - so schätze ich dich ein - ein ordentlich erzogener, höflicher Mensch bist, und bemüht bist, niemandem willentlich auf die Füße zu steigen. Geschieht es trotzdem, wirst du sicher bereit sein, es auszuräumen. Mehr als die Bereitschaft, offen miteinander umzugehen und Fehler zuzugeben, kannst du nicht mitbringen - wer lieber hinter deinem Rücken die Stirn kraus zieht, hat deine Aufmerksamkeit nicht verdient.

Es ist wichtig, auch Situationen auszuhalten, die sich peinlich oder skurril anfühlen. Ich kann mich noch erinnern, wie ich einmal in der Straßenbahn saß und ein Mann, der in einem der angrenzenden Abteile Platz genommen hatte, die neben ihm sitzende Frau anbaggerte. Als ich eingestiegen war, hatten er und ich uns angelächelt, es war so ein schöner, sonniger Tag, ich war auf dem Weg in die Bibliothek, ich wollte keinen Streit, ich rechnete mit nichts Bösem. Natürlich kriegte ich mit, wie er leise auf die Frau einsprach, da er anscheinend ihre Nummer wollte oder sich zumindest in Facebook mit ihr verbinden, und natürlich kriegte ich auch mit, dass sie das nicht wollte. Da er aber leise redete, sich weder neben ihr breit machte noch sie anfasste, und ich ihn - wie schon gesagt - gleich im ersten Moment als sympathisch verbucht hatte, wurde mir zwanzig Minuten lang nicht bewusst, dass sie sich von ihm bedrängt fühlte und Angst hatte. Erst als eine andere Frau hinzu kam und unter einem Vorwand mit ihr weg ging, und ich plötzlich sah, wie ihr die Tränen übers Gesicht liefen, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich hatte eine Belästigung gesehen, aber ich hatte sie in meiner Arglosigkeit überhaupt nicht erkannt; ich hatte eine Situation, in der ich hätte helfen sollen, völlig falsch eingeschätzt. Mein ganzer Körper brannte vor Scham, und ich dachte noch einige Tage darüber nach. Manchmal ist es aber wohl so, dass man eine vorgefundene Situation verkennt und dann "überfahren" wird. Worte, Gesten und Tonarten, Gesichtausdrücke, ein Lächeln, ein Nicken, ein "sich in den Sitz fallen lassen" und ein "hektisch in der Tasche kramen", eine patzige, knappe Antwort oder ein breites Grinsen können tausend Sachen bedeuten. Oft sind es keineswegs die, die wir spontan annehmen. Das kann einem, wie mein Erlebnis zeigt, im Positiven wie im Negativen so gehen. Du hast keine Gewähr dafür, dass du dich absolut richtig verhältst, du hast keine Gewähr, den Überblick zu behalten, keine Gewähr dafür, Signale richtig zu deuten. Missverständnisse sind ein Lebensrisiko, und ebenso die sich daraus ergebende Scham, der Streit, die Enttäuschung. Doch wichtig ist am Ende, dass man sich das immer wieder klar macht, und dabei seine Fähigkeiten trainiert, Erlebtes zu sortieren: Je mehr man erlebt, desto mehr Möglichkeiten, was etwas gerade heißen könnte, lernt man kennen. Und je mehr davon auf der emotionalen Landkarte verzeichnet sind, desto leichter fällt es, harmlose Erklärungen für etwas zu finden, was einen sonst vielleicht geängstigt haben würde. Oder andersrum: Gefahr im Verzug zu erkennen, die man sonst nicht einmal geahnt haben würde.

Überhaupt ist "Externalisieren" wichtig - sich zu überlegen, warum sagt jetzt jemand etwas, wie er es sagt, was ist der Hintergrund? Und zwar nicht einfach nur ICH - ich bin nicht so wichtig. Will er vielleicht einfach verzweifelt Anerkennung für den Job, den er macht? Ist er vielleicht enttäuscht von sich selbst, weil er sieht, wie fröhlich unbefangen ich bin, was er irgendwie nicht hinkriegt? Trauert er seiner Jugend hinterher? Und falls mich mal wirklich einer für begriffsstutzig und anstrengend hält: Wer nicht fragt, bleibt dumm. Manchmal muss man sich einfach entscheiden, über eine kleine Blödheit, die man sich geleistet hat, zu lächeln und sie in seinem Herzen zu verschließen. Es passiert jedem Mal, dass er tausendfach Gesehenes und Gehörtes vergisst. Schaffe dir darum vor allem die Gewohnheit, den Ärger beim ersten Anflug von dir zu weisen - sonst begleitet er dich den Rest des Tage. Es ist kein Beinbruch, wenn dich etwas ärgert, sondern unvermeidlich. Die Aufgabe, vor der du stehst, ist, dich daran zu gewöhnen, dass du nicht "einen perfekten Tag erleben" musst, und die Chance vertan hast, sobald er es nicht ist. Sondern dass es nur unperfekte Tage gibt - angefüllt mit kleinen Peinlichkeiten, aber auch mit großen Zufällen, mit kleinen Absonderlichkeiten, mit schrillen Ideen, mit glücklichen Fügungen: Allem, was das Leben zum Leben macht. Und das ist deine Herausforderung, Helena: Das Leben nicht als saubere Rechnung anzusehen, die du mustergültig lösen musst, sondern als Schmierblatt, auf dem du dich wild malend bewegst, Pläne machst, wieder verwirfst, Dinge ausprobierst, manchmal ganz unerwartet etwas Wunderschönes erschaffst. Es spricht nichts dagegen, zu planen. Es ist sogar wichtig, es zu tun. Viel wichtiger aber ist es, nicht immer einen Schritt vom anderen abhängig zu machen, sich nicht von einem unvorhersehbaren Ereignis aus der Bahn werfen zu lassen, sondern konsequent den Stift weiter zu führen.

Beginne mit kleinen Aufgaben. Vielleicht ist das für morgen der Kauf eines T-Shirts, vielleicht für übermorgen einfach, zehn Stationen mit der Straßenbahn in eine Richtung zu fahren, in die du noch nie gefahren bist; vielleicht willst du übermorgen ein Geschäft ansehen, in dem du noch nie warst, um am wieder nächsten Tag entschließt du dich, jedesmal "Danke" zu sagen, wenn sich eine Gelegenheit bietet, und sei sie noch so klein. Du musst keine ehrgeizigen Pläne entwerfen, die dich wieder unter Stress setzen, sondern kleine, die auf dein Ziel ausgerichtet sind: Dich als Mensch zu fühlen und genau diese Schwere im Herzen loszuwerden, die entsteht, weil du das Gefühl hast, ungehalten durchs Leben zu treiben. Aber es sind deine Entscheidungen, die dich das Leben spüren lassen - und wenn du im Moment Stillstand und Leere fühlst, mag es daran liegen, dass es dich nach einer Idee verlangt, einfach nach etwas Neuem, etwas, was dir wieder Richtung verleiht. Es kann etwas ganz Kleines sein. Wichtig ist die Tat. Und wenn es mal nicht dazu kommt, dann zählt die Idee trotzdem Einiges. Denn Manches braucht lange, um in dir zu reifen, und zu gegebener Zeit kommst du dann darauf zurück. So oft fragen wir uns "Wie ist das mit diesem Leben? Die Zeit vergeht so schnell, ich will nichts verpassen, aber ich weiß, gar nicht so recht, was ich machen soll, um sie optimal zu nutzen...?" Eigentlich ist es simpel: Irgendwas. Denn das Leben passiert von allein. Wir müssen uns ihm aussetzen, uns ihm hingeben. Dann wird es auch schön. Manchmal muss man gar nichts groß machen, sondern irgendwo hingehen, wo das Leben die Chance hat, etwas mit einem zu machen.

Im Grunde - und das mag ernüchternd sein - muss die Sicherheit aus dem Handeln und Ausprobieren kommen. Vollständig sicher ist man nie, denn das liegt ja auch nicht in der menschlichen Natur, das hat die Evolution auch nicht so gewollt. Allerdings kann man der Leere entgegen wirken, indem man sich ein Ziel setzt. Und ich glaube, da du spontan Ideen für Ziele bekommen hast - oder schon lange gehegte stark geworden sind -, Helena, hast du sehr gute Aussichten, eine wundervolle Zeit zu erleben. Was ich dir von ganzem Herzen wünsche.

Du darfst dich jederzeit gerne wieder an uns wenden - und wenn du das möchtest, werde ich dir natürlich antworten.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul