Problem von Anna - 22 Jahre

Ich kann nicht der Mensch sein, der ich gerne sein würde

Hallo liebes Kummerkasten Team,

vor einem Jahr lernte ich einen Mann (23) kennen, wir trafen uns ein paar Mal und fingen nach ein paar Wochen auch etwas sexuelles miteinander an. Das lief eine lange Zeit super gut und ausgeglichen. Er nahm mich sogar irgendwann zu seiner Familie mit (er hat meine bis heute nicht kennengelernt), bei der ich mich auch super wohl fühlte. Diese maximale Nähe finde ich extrem schön, auch das was wir haben, finde ich toll. Wenn wir uns sehen, gehen wir quasi so miteinander um, als wären wir in einer Beziehung (außer, wenn wir bei seiner Familie sind, dann wie normale Freunde). Jedoch habe ich mich emotional so sehr an ihn gebunden, dass ich mir wirklich vorstellen könnte, eine Beziehung mit ihm zu führen. Ich habe das auch angesprochen, da es für mich belastend ist, nicht zu wissen, wie er zu dem Ganzen steht und ich möchte, dass Emotionen und Erwartungen zwischen uns ausgeglichen und gleich unverbindlich sind. Er will momentan einfach keine monogame Paarbeziehung führen. Er hat mit anderen Frauen vor mir noch nicht sehr viel Erfahrungen gemacht und generell noch keine Beziehung geführt. Er sagte, dass er glaubt, er hätte Angst, sich selbst anzulügen, wenn er zu diesem Zeitpunkt eine monogame Beziehung eingehen würde, da er halt noch Erfahrungen machen möchte (was ich respektiere und nachvollziehen kann!). Ich für meinen Teil habe eine 3-jährige Beziehung hinter mir und sexuell auch einige Erfahrungen gesammelt, weshalb ich seine Meinung vollkommen verstehen kann. Es ist ja auch nicht so, dass er, neben mir, jede Woche eine Andere hat oder so (soweit ich weiß, bin es tatsächlich nur ich). Er sagte, er hätte sich eine offene Beziehung vorstellen können.
Hier kommen wir zu meinem Problem. Generell sehe ich das Thema offene Beziehungen und Monogamie genau so wie er! Jedoch kann ich mir es überhaupt nicht vorstellen, eine offene Beziehung zu führen, da ich ein sehr eifersüchtiger Mensch bin. Ich würde ständig Angst haben, dass mein Partner mich jederzeit ersetzen könnte bzw. eine "Bessere" finden könnte. Ich habe das Gefühl, ich kann dadurch nicht ich selbst sein, weil ich wirklich gerne diese Meinung auch ausleben würde. Dies würde eventuell ja auch dazu führen, dass er mit mir eine Beziehung eingehen würde. Ich weiß aber 100%ig, dass ich es nicht aushalten würde und dass mich das extrem belasten würde. Er tut mir einfach so gut, ich tue ihm auch gut, das weiß ich. Ich habe das Gefühl, einen Seelenverwandten in vielen Dingen in ihm gefunden zu haben. Ich möchte ihn jedoch einfach nicht verlieren durch meine Eifersucht oder ähnliche Dinge.
Ich weiß selber, dass, wenn wir eine monogame Beziehung führen würden, ich auch noch sexuelles Interesse an Anderen habe. Das ist bei mir so, und das wäre bei ihm so. Ich komme jedoch einfach nicht damit klar, ihn mir mit einer Anderen vorzustellen, selbst, wenn er dann wieder zu mir kommen würde und es "nur" Sex wäre. Ich habe Angst, dass ich das zwischen uns irgendwann kaputt mache. Er ist der Mensch, den ich gefunden und nicht gesucht habe und ich weiß, dass ich das theoretisch auch für ihn sein könnte, wenn ich so handeln könnte, wie ich möchte. Ich habe das Gefühl, diese Eifersucht steuert ein anderer Mensch in mir, nicht ich. Könnt ihr mir einen Rat geben, wie ich das am Besten durchstehe?
Vielen lieben Dank!

Nuala Anwort von Nuala

Liebe Anna!

Ich möchte auf verschiedene Punkte eingehen, die du beschrieben hast.

Erstmal geht es mir um das Fundament, das eine Beziehung haben sollte, um beständig zu sein. Und um den Beginn einer ernsthaften Partnerschaft.
Was bei euch sehr stark im Vordergrund zu stehen scheint, ist die _offene_ Beziehung. Nicht Beziehung an sich. Und hier werde ich hellhörig: Wenn ihm das Attribut der Offenheit über allem steht, dann steht es faktisch über der Zuneigung zu dir. Denn diese sollte in allererster Linie das sein, was ihn dazu bewegt, sehr gerne mit dir in eine Beziehung zu gehen. Alles Andere wäre eher so eine lauwarme Brühe, nichts aus heftigen Gefühlen, sondern als Möglichkeit. Wenn er richtig heftig in dich verliebt wäre, ohne Angst, ohne persönlichkeitsbedingte Hemmungen, wäre es erstmal völlig wurscht, ob ihr eine offene oder monogame Beziehung führen würdet, Hauptsache: Zusammen! Und dann ließe sich ja immer noch schauen, was auszuhandeln ist. Partnerschaftlich, im Vertrauen. Und eine offene Beziehung benötigt sehr viel Vertrauen. Und eine Beziehung an sich benötigt mindestens starke Anziehung von beiden Seiten, Commitment, Hingabe. Verstehst du, was ich meine?
Was also zu klären wäre zwischen euch:
Ist dieser Mann überhaupt in dich verliebt? Bist DU total verliebt? Oder klammert ihr euch beide an etwas, das eher als "Nix Halbes und nix Ganzes" zu betiteln wäre?!
Worauf ich hinauswill: Man kann sich gemeinsam zu einer offenen Beziehung "hinentwickeln", wenn beide ein Mindestmaß an Bereitschaft dafür haben. Doch wenn das "offen" mehr wiegt als "Beziehung", dann stimmt etwas nicht.

Wie oben schon angedeutet, kann es sein, dass er bestimmte Päckchen mit sich herumschleppt, die einer ungezwungenen Beziehungsanbahnung im Wege stehen. Dazu kann Angst vor Nähe und großer Intimität zählen, unter anderem. Da ist es einfacher, sich jemandem vom Hals zu halten, von dem man weiß, dass eine offene Beziehung aktuell unmöglich scheint - indem man genau das einfordert. Muss nicht so sein, wäre aber eine Variante von Bindungsängstlichkeit.

Davon abgesehen, gerätst du mir in dem Ganzen zu sehr aus dem Fokus: Es geht so sehr um das, was er tut, was er in dir auslöst. Aber was willst du? Was wünschst du dir konkret? Willst du eine Partnerschaft mit ihm, ohne wenn und Aber? - Wenn ja, dann sag' ihm das! Und wenn er nicht möchte, möchte er nicht. Mit offener Beziehung hat es eben nur scheinbar was zutun. Du als Mensch bist doch das, was von größtem Interesse für ihn sein sollte. Wenn er sich windet wie ein Aal und nicht ansatzweise die tiefen Gefühle für dich erwidern kann, dann ist er schlicht nicht der passende Partner für dich! Man kann ja nicht auf alle Befindlichkeiten und Hemmungen der Mitmenschen eingehen und sich dabei immer selbst verleugnen und ausbremsen. Es nützt ja nichts, ein Hin - und Her mitzumachen, das unnötig Kräfte raubt und Fragen aufwirft, die verwirren und vom Eigentlichen abbringen. Und das Eigentliche findest du in dir.

Nun zum Thema offene Partnerschaft.
Es sind, so glaube ich, viele Trugschlüsse, denen du unterliegst. Oder anders formuliert: Es sind sozusagen die "Klassiker" an Ängsten, die sich auftun, wenn es um nicht-monogame Beziehungen geht.

Der Punkt mit dem Nicht-Genügen: Wenn du dich so fühlst, musst du unbedingt an deinem Selbstwert arbeiten. Denn das fällt dir sonst immer wieder auf die Füße, ganz unabhängig von der Art der Beziehung. Ein zu geringer Selbstwert ist ein gravierender Nachteil, egal um was es geht.
Und: Es kann dir in einer monogamen Beziehung genauso ergehen, dass du dich als "ungenügend" fühlst.

Auch in einer monogamen Beziehung kannst du jederzeit "ersetzt" werden. Geschieht andauernd. Warum heißt es denn "serielle Monogamie"?! Hier wieder: Es geht um deinen Selbstwert! Er lässt dich gelassen sein, dich als wertvoll und stark ansehen. Er kann deine Stärken zum Leuchten bringen und gleichzeitig ohne Neid das anerkennen, was andere Menschen anders oder besser tun als du. Ausgeglichenheit!

Zur Eifersucht: Eifersucht an sich ist nichts, was du bekämpfen müsstest. Es ist okay, eifersüchtig zu sein - und von Person zu Person total unterschiedlich. Die Einen haben manchmal welche, manche gar keine, manche situativ und manche nur bei bestimmten Personen und Auslösern. Manche sind (noch) ziemlich eifersüchtig und leben trotzdem in offenen Konstellationen. Weil sie mutig sind und sich nicht von diesem Gefühl unterkriegen lassen wollen. Eifersucht hat viele Gesichter und ist menschlich. Ein Problem ist sie nur dann, wenn sie unkontrolliert, entfesselt ist und der Zuneigung die Luft abdrückt. Wenn sie von Misstrauen und Missgunst gespeist wird.
Ein Prise Eifersucht hie und da kann sogar belebend sein. Und was noch viel wichtiger ist: Man kann lernen, mit Eifersucht gut umzugehen. Auch wenn man sich das anfangs nicht so vorstellen konnte. Denn sie ist eben ein Bestandteil des Lebens und auch von Beziehungen aller Art. Und in den Sphären von offener Beziehungen und Polyamorie ist es ganz normal, sich mit Eifersucht auf konstruktive Weise zu befassen und mit ihr zu arbeiten.

Ganz entscheidend ist, dass du selbst in dir fühlst, dass du eine offene Beziehung führen möchtest. Also eine Exklusivität mit deinem Partner, was im sexuellen Bereich dann gelockert wird. Die Abstufungen und Absprachen können total unterschiedlich sein und hängen maßgeblich davon ab, was die Wünsche, Bedürfnisse und Grenzen der Partner:innen sind. Und wenn du merkst: Ich will eine monogame Beziehung! Ich will gar nicht in eine offene Beziehung!, dann hat es auch keinen Sinn, dich verrückt zu machen. Du kannst die Theorie klasse finden, aber insgeheim trotzdem nicht die Praxis wollen. Es geht hier schlicht darum, was du brauchst. Wenn du eigentlich Bock auf das offene Konzept hast und nur die Angst dich hemmt, dann kannst du dich wirklich beruhigt zurücklehnen, dich damit auseinandersetzen und dich sozusagen hineinfallen lassen. Ansonsten: Finger weg! Du machst dich sonst nur unglücklich.

Ich möchte noch ein paar Worte zur Liebe verlieren.
Liebe, also pure Liebe, ist bedingungslos. Man liebt ohne Erwartungen, "ohne Gegenleistung". Was bedeutet, dass man den geliebten Menschen auch ziehen lassen kann, weil man ihn so sehr liebt und nur das Beste für ihn möchte.
Das wiederum hilft enorm, offene Beziehungen zu führen! Man lässt dem Gegenüber aus reiner Liebe die Freiheiten, die es braucht. Und bekommt diese ganz genauso im Gegenzug.
Natürlich müssen Dinge auch ausdiskutiert, geklärt und mal ausgefochten werden. Aber eben immer in liebevoller Absicht, ohne Klammern, ohne den Anspruch, dass man von außen glücklich gemacht wird. Denn das klappt sowieso nicht. Wahres Glück kommt immer aus einem selbst, in Verbindung mit den schönen Reizen aus der Umwelt. Mit diesen Voraussetzungen kann man sich daran erfreuen, gemeinsam Nähe und Freiheit zu zelebrieren - und die freie Zeit ohne den:die Partner:in sinnvoll und erfüllend für sich zu nutzen.

Meine Empfehlungen: Kläre mit ihm ganz eindeutig, welche Gefühle er für dich hat und du für ihn. Konfrontiere ihn ruhig damit, dass es eine Diskrepanz zwischen dem "offen" und der "Beziehung" geben könnte.
Außerdem solltest du dich sehr intensiv mit offenen Beziehungen beschäftigen - lies einschlägige Literatur, besuche Stammtische, virtuelle Gruppen, Blogs, befrage Menschen in deinem Umfeld, die so leben und lieben. Ich finde das Buch "Schlampen mit Moral" ganz toll, da wird Vieles sehr anschaulich erklärt und die ganzen "Psychofallen" werden beleuchtet. Es erleichtert sehr, das da zu lesen (eigentlich alles, was du beschreibst, kannst du da finden, denke ich).
Hinzu kommt, dass du die Sache mit deinem Selbstwert genau auseinandernehmen solltest. Woher kommen deine Ängste? Was hast du verinnerlicht? Bist du vielleicht stark von äußeren Erwartungen an weibliche Rollen geprägt und beeinflusst?
Verabschiede dich bitte auch von dem Gedanken, dass du ein "anderer Mensch" sein müsstest, um mit diesem Mann leben zu können. Nein. Das erzeugt nur unwahrscheinlich viel Druck. Du bist total in Ordnung als der Mensch, der auf diese Welt gekommen ist. Nur plagst du dich eben mit bestimmten Ängsten herum, so wie er eben auch. Und ihr BEIDE müsstet daran arbeiten, vor allem dann, wenn ihr euch wirklich sehr begehrt und komplett miteinander sein wollt. Er muss sich zu dir bekennen wollen - und wenn er dich wirklich rundherum toll findet, dann wäre auch eine Anfangs monogame Partnerschaft okay (die dann ggf. in weiteren Schritten geöffnet werden könnte).

Auch den Themen Bindungsangst und Seelenpartner kannst du nachgehen - eventuell bekommst du da sehr viel Aufschluss.

Wegen der Eifersucht kannst du hier nachlesen (ist eine Poly-Seite, aber auch übertragbar):
http://www.polyamorie.de/eifersucht-silvios-poly-buch-online-55.html
Und her findest du eine Literaturliste, da geht es auch um offene Beziehungen: http://www.polyamorie.de/bcher-zum-thema-poly-medien-62.html

Sollte er sich auch nach deiner Bitte nach absoluter Ehrlichkeit und deinem Zugeständnis an eine Beziehung mit ihm nicht auf dich einlassen wollen, würde ich dir raten, Abstand zu nehmen. Denn die Liebe zu dir selbst MUSS für ein Leben in Zufriedenheit IMMER an erster Stelle stehen!
Siehe auch hier: https://mein-kummerkasten.de/331851/Bin-ich-bei-ihm-in-der-Friendzone.html

So, ich hoffe, ich konnte mich dir verständlich machen ;)
Schreib gerne wieder, ich bin gespannt, wie es bei euch weitergeht!

Alles Liebe,
Nuala