Problem von Lotta - 30 Jahre

Trauer um den Verlust des eigenen Lebens

Hallo liebes KuKa-Team,

bisher habe ich mich hier immer durchgelesen um für mich Tipps in verschiedenen Lagen zu finden. Doch nun gibt es kein Patentrezept mehr, falls es so etwas überhaupt geben kann. Ich hoffe, Ihr könnt mir irgendetwas schreiben, das mir hilft.

Ist es möglich, dass ein Mensch nicht nur um verlorene geliebte Menschen trauern kann, sondern genauso stark auch um sich selbst? Kann dieser Verlust genauso schmerzhaft und traumatisierend sein, wenn die Lebensumstände sich schnell und auf sehr dramatische Art und Weise vollkommen verändert haben?

Im November 2015 fiel mir das erste Mal meine Erschöpfung auf. Ich dachte, es käme von der Umschulung, die erst seit Juli lief. Ich pendelte, arbeitete am Wochenende unbezahlt per Home Office weiter. Totale Workaholic und das liebte ich. Zur gleichen Zeit fand ich gerade meinen Platz als Kameradin in der aktiven Einsatzabteilung der freiwilligen Feuerwehr. Ich dachte einfach, das wäre alles etwas viel und ich würde mich schon daran gewöhnen. Im April 2016 war die Erschöpfung auf ihrem Höhepunkt, sodass ich selbst im Bus bei der Fahrt im Stehen einschlief, zwingendermaßen die Mittagspausen bei der Arbeit einhalten musste und meine schulische Leistung abfiel. Zu dem Zeitpunkt bekam ich lauter blaue Flecken auf dem Körper. Da dachte ich dann mal daran, doch zum Arzt zu gehen. Dieser entschied, es weiter zu beobachten, in der Übersetzung, nichts zu tun. Die Flecken kamen im September 2016 wieder. Eine Biopsie folgte und mit dieser endete mein damaliges perfektes Leben, auf das ich viele Jahre hin gearbeitet hatte bis zur totalen Aufopferung.
Zu dem Zeitpunkt war ich in den ersten Wochen einer Schwangerschaft, glücklich mit dem Freund, die Umschulung neigte sich dem Ende.
Nach der Biopsie folgte ein Schlag nach dem anderen. Die Biopsie verheilte nicht und die Wunde wurde größer. Dennoch war ich am Folgetag des Eingriffes damals schon wieder arbeiten, wollte nichts verpassen. Als es kritisch wurde, kam ich ins Krankenhaus. Alles weitere erkläre ich in Kurzformat, da es einfach zu lang wäre für alles ins Detail zu gehen.
Ich hatte 8 Monate lang ein offenes Bein, startete nach anderen Versuchen die erste Chemo, verlor die Kids in der 7. Woche, weil ich mich für einen medizinischen Abort entscheiden musste. Die Wahl stand zwischen am Leben bleiben und Bein behalten oder eventuell nicht am Leben bleiben und auf jeden Fall ein Bein weniger und schwerst behinderte Kids (Zwillinge waren es), die höchstwahrscheinlich nicht überleben würden und wenn doch, für immer Pflegefälle sein würden. Man sagt immer, man hat immer eine Wahl, aber das war keine faire.
3 Tage nach der ersten Chemo verließ mich mein Freund damals als ich noch im Krankenhaus lag. Ich schloss mich aus der Feuerwehr aus, versuchte die Umschulung weiter zu machen bis ich am Steuer auf der Landstraße im Firmenwagen vor lauter Erschöpfung einschlief. Noch am gleichen Tag meldete ich mich auf unbestimmte Zeit ab und diese unbestimmte Zeit waren 6 Monate außerhalb der Umschulung, in denen ich durch die Krankenhäuser surfte, wir das Bein zu retten versuchten und ich nebenbei alle ausbildungsspezifischen Themen in Eigenregie lernte. Ich beendete die Umschulung erfolgreich als Klassenbeste in der 27. Woche meiner ersten Chemo im Juni 2017. Die folgenden Monate versuchte ich, mein inzwischen geschlossenes Bein zu schonen, meinen Weg ins Leben zurückzufinden und finanziell irgendwie zurecht zu kommen. Im Dezember 2017 brach ich alle Zelte ab und zog zurück zu meiner Mutter, ein Stockwerk darüber, 600 km weit weg von dem Leben, das ich 10 Jahre lang gelebt hatte, von meinen Freunden und all den Menschen, die ich dort liebte.
Frisch operiert mit abermals offenem Bein, das nicht verheilen wollte, ging in der neuen alten Heimat die mezinische Rennerei weiter. Krankenhausgesurfe, Notaufnahmen an Wochenenden und Feiertagen, ich kenne sie alle hier und war überall schon zu allen Uhrzeiten.

Die Zeit rannte davon, das Bein war auf, dann wieder zu, dann wieder auf. Die zweite Chemo wurde gestartet bis der Körper gänzlich schlapp machte. Eine Essstörung entstand, die ich wieder im Griff habe. Es wurden diverse andere Medis versucht bis ich schlussendlich nun bei einem geeigneten Mittel aus den Biologics angekommen bin. Das Bein ist gerade wieder verheilt.

Während all dieser Zeit hatte ich allerdings keine Zeit, mein Leben, das ich verlor, zu betrauern und somit hat sich ein unglaublicher Kummer aufgebaut. Heute bin ich eine vollkommen andere Person. 25 Kilo schwerer durch die Medis, unsportlich, Frührente, wohne in einer Stadt, die mir fremd geworden ist, halte nur per Handy Kontakt zu den wenigen Freunden, die nicht verschwanden als ich krank wurde und bin bei einer Familie, zu der ich keine Bindung habe aus verschiedenen Gründen, die aber ein eigenes Thema wären.

Nun versuche ich seit langem schon, all den Verlust hinter mir zu lassen. Aber es ist so extrem schwer. Ich kann nicht auf neue Leute zugehen, keine Beziehungen eingehen, egal in welcher Art und Weise. Ich kann keine Liebe mehr empfinden. Für niemanden. Dabei versuche ich es doch so sehr! Alles, was ich manchmal fühle, ist ein unglaublicher Schmerz um den Verlust des Mädchens, das ich war und um das schöne Leben, die Kids, meinen Traumberuf, die Feuerwehr. Es fühlt sich so an als wäre das damalige Ich eine Person gewesen, die ich geliebt habe und die gestorben ist. Genauso. Kann ein Mensch um sich selbst nach so einer Geschichte genauso trauern wie um andere Menschen? Ich muss nicht erklären, dass die einzelnen Schläge schon schlimm genug waren. Allem voran die harte Entscheidung um die Zwillinge, weswegen ich mich über ein Jahr lang für ein Monster hielt. Ich vermisse das alles. Den Ort, den ich verlassen musste, weil ich nicht mehr allein mit der Erkrankung klar kam, die Menschen, die ich verließ, obwohl ich sie liebte und die mir mehr Familie waren als meine leibliche es jemals sein wird, meine beste Freundin, die wie meine Schwester war. Die Kameraden und die Feuerwehr, meine Arbeit, meine Gesundheit, die ich verlor.
Wie kann ein Mensch nach alldem weiter machen und mit was? Es ist nicht genug übrig um wieder glücklich zu werden und ich kann mich nicht für neue Dinge öffnen, weil ich einfach jedes Mal diesen Film im Kopf habe, dass ich mit einem Moment alles verlor und es jedesmal wieder so sein kann. Ich bin schon oft gestürzt. Bin auch jedes Mal wieder aufgestanden, aber das jetzt. Ich kann keinen weiteren Verlust von irgendwas verkraften. Also lebe ich nach dem Motto: Was man nicht hat, kann man auch nicht verlieren.

Natürlich habe ich versucht, diesen Angstkreislauf zu durchbrechen um nach vorn zu sehen. Einsamkeit>Unglücklichsein>Menschen ablehnen. Ich habe es richtig versucht, aber irgendwann mache ich immer dicht, jedes Mal und mittlerweile gibt es Gefühle, die ich nicht mehr entwickeln kann wie Liebe oder enge Zuneigung. Da ist nichts mehr dafür da. Doch eigentlich müsste es gehen. Denn wieso sollte ein Mensch, der kein Herz für Liebe hat, die Trauer um etwas verlorenes geliebtes sonst fühlen können.

Und ich habe ein derbe schlechtes Gewissen, weil ich um mich selbst trauere oder um mein altes Leben. Ich fühle mich dadurch so schwach und so selbstmitleidsmäßig, aber ich kann es nicht vergessen und ich kann das alles nicht vergeben. Mir nicht, den Menschen nicht, die mich im Stich ließen oder den Umständen, die zu allem führten und dieser Erkrankung, die ja nicht mal heilbar ist. Bei der ich nicht mal die faire Chance erhalte, sie zu bekämpfen bis sie weg ist. Ich war mal so ein starker Mensch. So ein Wirbelwind. Das ist alles weg. Und alle anderen sind weg.

Ich kann niemandem erzählen, wie unglaublich ich leide. Niemand steht mir nah. Ich vertraue es niemandem an, weil ich es nicht kann und wenn ich es versuche, kann ich nicht so ins Detail gehen wie es nötig wäre, weil ich einfach daran zerbreche. Ich dachte, wenn ich erst mal die richtige Behandlung finde und mich die Medis und die Erkrankung gesundheitlich nicht mehr so fertig machen, könnte ich langsam starten, mir ein neues Leben aufzubauen, das mir Spaß macht und das mich glücklich macht. Doch jetzt, wo es mir gesundheitlich okay geht, bin ich nur noch emotional fertig, vollkommen fertig und auf eine unvorstellbare Weise in tiefster Trauer um alles und um jedes Detail der letzten Jahre. Dennoch ist dieses Leben lebenswert. Ich wünsche mir all das wieder. Ich würde niemals aus Verzweiflung an Suicid denken. Dafür wünsche ich mir viel zu viel und irgendwo glaube ich einfach nicht, dass das schon alles war, was es für mich in diesem Leben gibt. Ich möchte all das oder vergleichbares wieder. Harmonie, Glücklichsein, sich gebraucht und geliebt fühlen, selbst lieben. Nur wie?

Vielen Dank für Eure Arbeit hier und Eure Hilfe für alle die Kummerseelchen, die sich hierher verirren.

Viele Grüße

Lotta

Anwort von CarolineL

Liebe Lotta,

zunächst: Danke, dass du dich uns so ausführlich anvertraust, ich finde es sehr mutig von dir so offen und ehrlich über deine Sorgen und Ängste zu schreiben und sie damit eben auch erstmal Gefühle in Worte zu fassen. Ich bin mir sehr sicher, dass man unter den Umständen und dem gesundheitlichen Leidensweg, den du schilderst, das "alte", unbeschwerte Leben vermisst. Ebenso kann ich deine Beschreibung sehr gut nachvollziehen, wenn du schreibst, dass es sich anfühlt als sein dein 'altes', dein früheres Ich gestorben, weil dein jetziges, dein gegenwärtiges Ich nichts mehr mit dem anderen, früheren Ich gemein hat. Eine Reflexion über die Umstände und Veränderungen des eigenen Lebens, die einen so dermaßen kalt erwischen können und das eben auch unangekündigt tun, bleibt in dieser Zeit nunmehr aus, sodass es sich rückblickend für dich sicher nur noch schwer nachvollziehen lässt, wie sich all das dermaßen gewandelt hat und sich dein 'altes' Leben, das du so liebtest, aktuell und eventuell auch zukünftig nicht mehr realisieren lässt. Ich glaube auch, dass Trauern okay ist, Abschied nehmen ist okay und sicher notwendig – du musst dir eben auch selbst die Zeit geben, diese gesundheitlichen Rückschläge und die Jahre mit Chemo und Genesung zu verarbeiten, eventuell verstehen zu lernen. Dass du Schuldgefühle dir gegenüber und deiner 'Entscheidung' (die streng genommen keine war, weil sie eine Aussicht zur Debatte stellte, die dem Kindeswohl wohl nicht entsprochen hätte) ist nachvollziehbar, aber unbegründet: Bitte tu dir selbst den Gefallen und verzeih' dir.

Ich möchte dir raten, das Leben von einer anderen Seite aus zu betrachten: Schau nicht auf das, was war oder was früher alles möglich war und was du 'verloren' hast, schau auf all das, was ist und was du jetzt machen kannst. Was du jetzt eben tun kannst, was sich eventuell auch an Potenzial aus deiner Geschichte ergibt und dich zu einem (im positiven Sinne) Umdenken bewegt. Frage dich – darüber hinaus – vielleicht auch selbst, ob dein früheres Leben oder deine Vorstellungen davon nicht möglicherweise nur eine Fassade waren, ein Muster, in das du reinpassen wolltest und hineingepasst hast, von dem du glaubtest, es würde dir Erfüllung und Glück versprechen und garantieren. Aber wäre es wirklich ein erfülltes Leben geworden, wärest du noch mit dem Mann zusammen, der dich in deiner größten Leidenszeit verlassen hat? Würdest du dich noch mit solcherart "Freunden" umgeben wollen, die nur zu dir halten, sofern du in den Rahmen passt, solange du diesem Lebensmuster erfolgreich entsprichst? Dein Lebensweg und die Umstände haben dich nunmehr auf dich selbst, auf deine Persönlichkeit zurück geworfen; das könnte also eine Möglichkeit sein, sich in einen Menschen zu transformieren, der sich nicht länger hinter der Fassade versteckt und jemand zu werden, der nicht mehr nur nichts mehr verstecken kann, sondern auch nichts mehr verstecken will. Das Leben besteht eben nicht nur aus dieser Fassade, dem Muster aus Arbeit, Familie, Freunden und Hobbys, das einem suggeriert wird. Vielleicht ist dieser Umweg, den du gehen musstest, den du dir nie vorstellen konntest und wolltest zu gehen auch der Weg, den du gehen musst, um auf eine andere Art und Weise glücklich zu werden.

Vielleicht findest du in anderen Tätigkeiten Erfüllung, vielleicht in Musik, vielleicht in Kunst, vielleicht in Literatur oder im Schreiben? Vielleicht hilft dir die Natur, die Dankbarkeit wiederzufinden, die wir alle in unserem Alltag und Stress über unsere Gesundheit vergessen. Dankbarkeit dafür am Leben zu sein. Dankbarkeit auf dieser Erde sein zu dürfen. Dankbarkeit für die gedankliche Freiheit, die uns geschenkt wird. Es muss schwer sein bei körperlicher Beeinträchtigung Abstriche machen zu müssen – sicher schmerzhaft, dies in jenen Bereichen tun zu müssen, die einen einst so erfüllten (wie du schriebst: die Feuerwehr). Aber Freiheit und Autonomie beschränken sich nicht auf die Physis. Freiheit ist auch eine geistige Haltung und die kannst du nach wie vor leben; vielleicht sogar mehr als in deinem 'früheren' Leben, als dir keine Zeit blieb – keine Zeit für Gedanken, keine Zeit für Reflexion, keine Zeit, um durchzuatmen.

Eventuell gibt es einen Verein in deiner Nähe, dem du beitreten kannst, vielleicht entschließt du dich dazu, ein neues Instrument (autodidaktisch) zu lernen, zu zeichnen, malen, töpfern. Vielleicht findest du deine Erfüllung in der Musik, im Gesang, im Theater oder in Literatur. Vielleicht kann dir letztere Beistand leisten oder dich in fiktive Welten – fernab deiner eigenen Lebenswirklichkeit – entführen. Möglicherweise wäre politisches Engagement eine Option für dich, Aktivismus oder Ehrenamt? Es gibt so viele sinnvolle Tätigkeiten, die es sich lohnt auszuprobieren und die einem sehr viel zurück geben, einen erden. Ich wünsche dir, dass du etwas findest, das dir (intrinsische) Wertschätzung entgegenbringt, sodass du dich selbst wieder wertvoll und 'gebraucht' fühlst. Gerade auch die Interaktion und Kommunikation mit anderen Menschen kann sehr sehr heilsam sein und vielleicht generierst du über diesen – dir auferlegten Umweg – ein Umfeld, das loyal, das treu ist und so womöglich auch besser zu dir passt als die Freunde, die dich aufgrund der Umstände fallengelassen haben.

Ich würde dir – ganz unabhängig davon – aber zunächst raten, dich mit dir selbst und deiner Persönlichkeit auseinanderzusetzen. Frag dich, was du an dir selbst magst. Damit meine ich nicht, was du gut kannst oder was in dieser leistungsorientierten Gesellschaft anerkannt wäre, nein. Frag dich, welche Eigenschaften, welche Attribute dich besonders schön machen. Bist du vielleicht hilfsbereit und freundlich? Oder bist du besonnen und witzig? Bist du aufmerksam und emphatisch? Oder bist du (und das würde ich dir an dieser Stelle definitiv zuschreiben) mutig und tapfer? Mach dir selbst klar, wer du als Persönlichkeit bist. Nicht, wer du warst – denn mein Eindruck ist, dass dein altes Ich eben in dieser Leistungsgesellschaft und diesem Hamsterrad an Karrieresystem gut funktioniert hat, woraus du deine eigene Wertigkeit gezogen hast. Aber du bist nicht nur wertvoll aufgrund eines Berufs, aufgrund von Freunden und einer eigenen Familie – das sind nur die Werte, die uns das System auferlegt hat. Man muss sie jedoch nicht erfüllen, um glücklich und zufrieden zu werden. Du bist wertvoll, weil du du bist. Mit all deinen Narben, in all deinen Farben. Am Ende des Lebens fragst du dich nicht, was du beruflich geleistet hast, wem du was im Leben bewiesen hast, sondern es sind die Gefühle, die dein Leben geprägt haben und das Lächeln, das du anderen Menschen auf die Lippen gezaubert hast. Es ist die Freude, die Trauer und das Leid; es sind die tiefen Gefühle, die du zu und mit anderen gemeinsam empfunden hast, die bleiben und derer man sich im Hinblick auf dich gern erinnern wird. Und vielleicht ist es gerade diese 360 Grad-Wendung, die dir aufzeigt, dass du als Mensch mehr bist als der Workaholic, der alles gut auf die Reihe bekommt und von einem Termin zum anderen hetzt. Mir fällt an dieser Stelle auch ein Lied ein, das genau diese Thematik behandelt – sich nicht genug zu fühlen: "Schön genug" von Lina Maly. Möglicherweise findest du dich im Text wieder.

Ich fürchte, der einzige Weg, der bleibt, ist der Weg der Vergebung: Vergib dir, vergib deinem Umfeld (also auch jenen Menschen, die gegangen sind) und auch deinem Lebensweg als solchen und sieh ihn viel mehr als Chance zum Umdenken. Es könnte ein Neuanfang sein, dazu ist es nie zu spät. Neue Menschen kennenlernen, dich selbst neu erfinden und das eigene Wertesystem überdenken. Frag dich selbst, was das für ein Sinn ist, dem du dem – deinem eigenen – Leben zuschreibst. Was wünschst du dir vom Leben? Hast du Ziele, Wünsche und Sehnsüchte, die du – auch in deiner jetzigen Situation verwirklichen kannst?

Ich bin froh, dass du schreibst "Dafür wünsche ich mir viel zu viel und irgendwo glaube ich einfach nicht, dass das schon alles war, was es für mich in diesem Leben gibt.", denn ich bin mir sicher, dass das (im positiven Sinne) nicht alles war, was dir dieses Leben gibt. Du wirst Erfüllung finden. Möglicherweise nicht mehr in dem, worin du in deinem alten Leben Erfüllung gefunden hast, aber dafür in anderen Aufgaben, anderen Tätigkeiten, anderen Leidenschaften und Interessen.

Zuletzt möchte ich dir noch eine Literaturempfehlung aussprechen, weil ich bei deiner Nachricht so oft daran denken musste und das Buch für mich genau das aufgreift, was du beschreibst: Das alte Leben hinter sich zu lassen, ein anderes Ich zu werden oder gezwungenermaßen werden zu müssen und sich dann – das tut das Buch - zu fragen, ob das alte Leben denn wirklich so erfüllt und sinnvoll war, wie man retrospektiv empfindet oder ob der andere Weg, den man geht, nicht neue, bessere Optionen und Denkweisen beinhaltet, die man sich sonst nie zu wagen und zu denken getraut hätte. Ich weiß nicht, ob du den Regisseur Christoph Schlingensief kennst; er ist mit 47 Jahren an Lungenkrebs erkrankt und hat den Prozess der Krankheit, vor allem aber seine Gedanken seinerzeit auditiv festgehalten. Daraus sind schließlich zwei Bücher entstanden; das erste trägt den Titel "So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein" – ich finde es unendlich berührend und authentisch. Schlingensief hinterfragt sein altes Leben, hinterfragt die eigenen Arbeiten und seine Vorstellungen und Erwartungen, die er vom Leben hatte. Trotzdessen ist es ein Buch, das vor Dankbarkeit und Lebensbejahung nur so strotzt. Ich hoffe sehr, dass ich dir mit meinen Worten ein wenig helfen konnte oder dir zumindest für einen Moment deine Last nehmen konnte.

Ich möchte noch mit zwei Zitaten von Schlingensief enden, die mir immer wieder hilfreich erscheinen, um sich selbst vor Augen zu halten, wie wertvoll dieses Leben ist, das wir haben, wie kostbar es ist und wie sehr wir doch daran festhalten sollten:

"Auf der Erde kann man so viel machen, das ist doch ein sensationeller Ort: Man kann Frieden schließen, man kann die Natur achten, man kann Menschen lieben, man kann einfach alles tun! Dass wir es nicht geregelt bekommen, dafür kann doch die Erde nichts."

"Das Leben ist zu schön, um uns Menschen permanent mit kommendem Unglück zu drohen. Gottes Liebe und Hilfe – egal, wer oder was das auch sein möge – sind keine Erziehungsdrops. Die Liebe Gottes manifestiert sich vor allem in der Liebe zu uns selbst! In der Fähigkeit, sich selbst in seiner Eigenart lieben zu dürfen, und nicht nur in dem, was wir uns ständig an- und umhängen, um zu beweisen, dass wir wertvoll, klug, hübsch, erfolgreich sind. Nein! Wir sind ganz einfach wunderbar. Also lieben wir uns auch mal selbst. Gott kann nichts Besseres passieren."

Ich wünsche dir an dieser Stelle von Herzen alles Beste und Liebe!

CarolineL