Problem von Melina - 22 Jahre

Mein Freund ist Bipolar

Liebes Team von Mein-Kummerkasten,

Ich habe nun mehrere Monate immer wieder darüber nachgedacht, dieses Thema anzusprechen und hatte nie das Gefühl, es jemandem anvertrauen zu können und doch muss ich mir das endlich von der Seele schreiben.

Die letzten Jahre hatte ich mit viel privatem zu kämpfen - war lange unglücklich verliebt und fühlte mich einsam, hatte mehrere Jahre mit einer Angststörung zu kämpfen, usw.
Lange habe ich mich nach einer Beziehung gesehnt und danach, endlich jemandem zu begegnen, dem ich auf einer solchen Ebene vertrauen kann.

Im Oktober 2018 bin ich 600km von zuhause weggezogen und habe dort einen Jungen kennengelernt, mit dem ich mich so gut verstand, dass wir zwei Wochen später zusammengekommen sind. Die ersten Wochen waren super schön, auch für ihn war es die erste Beziehung, der erste Kuss, das erste Mal. Endlich hatte ich das Gefühl, nicht mehr unglücklich zu sein, die Sehnsucht war gestillt und das ständige vermissen solcher Situationen hatte aufgehört. In kurzer Zeit ist er mir unglaublich wichtig geworden, ich hätte schwören können, wir kennen uns schon viele, viele Monate. Denke das ist wichtig zu erwähnen um erklären zu können, wieso ich in den nächsten Wochen so viel ertragen habe, anstatt die Notbremse zu ziehen.
Nach 5 Wochen änderte sich etwas zwischen uns.. Ich habe Schwierigkeiten zu beschreiben, was genau es war. Ich bin, denke ich, von Natur aus eher jemand, der wenig von sich erzählt, eher nachdenkt bevor er redet und sich vorsichtig ausdrückt. Nicht, dass ich meine Meinung nicht vertreten kann oder total verschlossen bin, aber tendenziell höre ich eher zu, anstatt viel zu reden. Ohne Vorwarnung hat ihn das wohl so sehr aufgeregt, dass er ständig meinte, ich erzähle ihm nicht wirklich das, was ich wirklich denke, würde mich vor ihm verstecken und nur das sagen, was er hören will. Wir stritten lange, diskutierten und ich war völlig fertig. Noch nie zuvor hat mir jemand so sehr das Gefühl gegeben, alles falsch zu machen. Ich wusste irgendwann nicht mehr, wer ich eigentlich selbst bin. Er gab mir das Gefühl, dass ich nur gut genug wäre, wenn ich zu 100 Prozent das komplette Gegenteil von mir selbst bin. Er redete immer mehr von Spiritualität und Meditation, machte mir Vorwürfe, ich würde nicht meditieren und würde mich ja auf nichts neues einlassen. Wollte, dass ich eine andere Lernmethode anwende, dass ich Kaffee trinken probiere, auch wenn ich klar und deutlich gesagt habe, dass ich das nicht möchte. Das ging ein paar Tage so. Eines Abends bekamen wir wieder etwas Streit und er meinte, ich bin ihm zu depressiv und ich wäre besser dran, wenn ich mir jemanden suchen würde, der das auch ist, da er jemanden benötigt, der ihn in seiner Spiritualität versteht und unterstützt. Es hat ihm nicht gereicht, dass ich ihn mental unterstützt habe, er möchte lieber jemanden, der das ebenfalls praktiziert. Er fühlte sich erleuchtet und meinte, alles richtig zu machen und den totalen Durchblick zu haben. Dann machte er noch am gleichen Abend mit mir Schluss, wollte aber, dass ich bei ihm schlafe. Es war schon spät und ich war so kaputt, dass ich mich hinlegte, er verlangte, dass ich weinen soll, meine Gefühle zeigen muss. Ich fühlte gar nichts mehr, war völlig fertig. Er wollte trotzdem, dass ich Spiritualität verstehe und Überredete mich, sich von ihm Hypnotisieren zu lassen. Ich war so am Boden, dass ich ihm irgendwann jedes Wort glaubte. Ich dachte, ich würde tatsächlich verstehen, was er mir die ganze Zeit sagen wollte. Es wurde wieder hell, als er das ebenfalls mitbekam. Und dann sagte er mir, dass er es nicht ernst meinte, als er die Beziehung beendet hat, er wollte mich nur so sehr verletzen, dass ich am Tiefpunkt ankam, da man nur von dort aus Erleuchtung finden kann. Und ich war keinen einzigen Moment wütend, ich war nur völlig erleichtert, dass das mit uns nicht vorbei war. An diesem Tag sagte er mir zum ersten Mal, dass er mich liebt.

Ich habe noch nie jemandem davon erzählt, auch wenn ich das so dringend nötig habe, aber ich habe Angst, jemand könnte ihn für einen schlechten Menschen halten, was er wirklich nicht ist. Irgendwie war mir da wohl schon klar, dass er nicht wirklich etwas für sein Verhalten in dieser Zeit konnte.
Mittlerweile ist diese Erinnerung so krass schmerzhaft und verletzend, dass ich sie endlich los werden musste. Danke, dass du mir zuhörst!

Ungefähr drei Tage später fuhren wir übers Wochenende nach Berlin. Er hatte in 10 Tagen nicht mal 5 Nächte geschlafen, war dann plötzlich völlig überdreht, konnte keinem erkennbaren roten Faden folgen.. Dort wurde mir klar, dass er gerade total manisch ist. Am letzten Tag wollte ich abends langsam den Rückweg angehen, er versprach mir, in spätestens zwei Stunden hier weg zu sein. 5 Stunden später hatte er sich spontan eine Gitarre gekauft (nein, er kann sie nicht spielen), sicher in diesem Zeitraum 70-80 Leute angequatscht und ließ nicht erkennen, dass er daran denkt, zu gehen. Ich war total fertig, durchgefroren und überfordert, es war mir einfach zu viel, ich bat ihn mehrmals, endlich zu gehen, doch er nahm keine Rücksicht. Ich hatte die zwei Nächte davor fast nicht geschlafen, weil er mich wach hielt. Ehrlich, ich war am Ende meiner Kräfte, ich bin irgendwann in aller Öffentlichkeit kraftlos und weinend zu Boden gesunken, weil ich so fertig war. Ich konnte überhaupt nicht damit umgehen, wollte die Verantwortung für ihn nicht übernehmen und schaffte es, ihn dazu zu überreden, mit mir zu seinen Eltern zu fahren. Wir stiegen in den letzten Zug und fuhren die ganze Nacht durch. Auch dort lief er die ganze Zeit im Zug auf und ab, bestens gelaunt und energiegeladen, ich kauerte mich auf einem Sitz zusammen. Ich kann es niemandem verübeln, der uns fragte, welche Drogen wir bitte genommen hätten, ich denke, so sahen wir tatsächlich aus. Ich wollte nur noch schreien, aber war zu kraftlos. Er wurde zeitweise total paranoid, sprach von Geheimorganisationen, die ihn verfolgen würden..
Morgens kamen wir bei seinen Eltern an, die sofort merkten, dass etwas nicht stimmt.. Die nächsten zwei Wochen verbrachte er dort in einer Psychiatrie mit der letztendlichen Diagnose einer Bipolaren Störung und einer Psychose.

Zur gleichen Zeit starb meine Oma, ich bin dann nach Hause gefahren um für meine Familie da zu sein, sah ihn durch die Weihnachtsferien dann bis Januar nicht mehr. In den Wochen danach war alles wie immer, er redete nicht mehr so wirr, war ruhiger und wir verstanden uns wieder richtig gut, so wie es am Anfang war.

Das ganze ist jetzt 9 Monate her und in dieser Zeit haben wir so viele schöne Momente zusammen gehabt, sind zusammengezogen, haben unseren ersten gemeinsamen Urlaub verbracht, unsere Familien gegenseitig gut kennengelernt. Er schätzt mich so, wie ich bin, gibt mir genug Freiraum und schränkt mich nicht ein, unterstützt mich jeden Tag und hört zu, egal wie unbedeutend es auch sein mag. Es könnte nicht besser sein momentan und doch holen mich die Erinnerungen aus letztem Dezember immer wieder ein. Ich habe ihm nie die Schuld dafür gegeben, habe versucht so viel Geduld und Verständnis wie Möglich zu haben. Niemals im Leben hätte ich auch nur daran gedacht, ihn in dieser Situation alleine zu lassen, auch wenn mich viele gefragt haben, wieso ich das mitgemacht habe. Es hat sich einfach wie das Richtige angefühlt, auch wenn es verdammt schwer war und ich deutlich meine Grenze der Belastbarkeit erreicht hatte.

Momentan bemerke ich wieder hin und wieder eine Änderung seines Verhaltens, er ist viel gesprächiger, genau wie damals in seiner Manie. Wird stellenweise wieder paranoider als er es sonst war und ich habe Angst, dass sich das ganze wiederholt. Mir ist völlig bewusst, dass irgendwann wieder die nächste Manie ansteht, das lässt sich natürlich nicht verhindern und doch habe ich Angst, wieder so verletzt zu werden. Ich möchte für ihn da sein und ihn unterstützen und weiß doch nicht, wie ich dann damit umgehen soll, wenn es soweit ist. Wir haben später natürlich darüber geredet und er hat sich für viele Dinge auch entschuldigt, denke aber, er weiß nicht wie furchtbar schwer diese Situation für mich war, ihm ging es die ganze Zeit etwas zu gut, er konnte das irgendwie ertragen, ich absolut nicht.

Falls du mir Tipps geben kannst, wie ich das Ganze verarbeiten kann, wäre ich sehr dankbar. Ansonsten hat es schon sehr sehr gut getan, das mal unterschreiben zu können. Tut mir Leid, dass das so lange geworden ist, aber auch das ist schon sehr stark gekürzt, wollte aber, dass mein Standpunkt dennoch erkennbar wird.

Vielen Dank und liebe Grüße,
Melina

Nuala Anwort von Nuala

Liebe Melina,

da hast du sehr intensive und belastende Phasen durchlebt. Dafür Hut ab - damit hast du große innere Stärke bewiesen, weil du dich trotz dieser immensen Herausforderung nach wie vor zu deinem Freund bekennst. Und das finde ich richtig gut von dir. Wie schnell werden Menschen im Regen stehen gelassen, nur weil ihr Partner, ihre Partnerin nicht ganz so "einfach" ist oder man sich vor gemeinsamen Aufgaben scheut! Du kannst damit wirklich als Vorbild gelten!

Generell ist eine psychische Erkrankung ja nichts, was gegen eine Beziehung spricht. Denn die betroffene Person ist ja nicht die Krankheit. Sie ist genauso liebenswert und wundervoll wie jeder andere Mensch auch. Sie bedürfen sogar umso dringlicher die zärtliche Zuwendung ihrer Umwelt, um - bestenfalls - wieder gesunden zu können.
Speziell bei dir scheint es für dich ja auch eine sehr schöne Verbindung zu sein, die du nicht aufgeben möchtest. Vielleicht ist das eure aktuelle gemeinsame Aufgabe, mit der bipolaren Ausprägung umgehen zu lernen. Manchmal steckt in solchen "extremen" Konstellationen viel Potenzial für persönliches Reifen und Lernen. Du kannst gerne entdecken, was es mit dir macht - im Positiven! Du wirst bestimmt überrascht sein, wie viel du dabei entdecken kannst, auch mit ihm gemeinsam.
Du betonst, dass es so besonders mit deinem Freund sei und dass es durchaus auch kritische Stimmen in deinem Umfeld gibt. Die darf es auch geben, denn diese können durchaus auch eine mahnende Funktion haben, wenn du eventuell einmal zu wenig auf dich achtest und er dir zuviel Energie abzieht. Denn wo Licht ist, ist Schatten. Und umgekehrt!

Es gibt also Dinge, die zu beachten sind. Eine gute Absprache beispielsweise, und Grenzensetzen.
Ich würde dich bitten, dies zu forcieren. Auch wenn du genau weißt, warum dein Freund X oder Y tut - du musst nicht alles in dem Moment zusammen mit ihm durchstehen, wenn es deine eigenen Ressourcen und Grenzen sprengt!
Hier solltet ihr klar besprechen, wann Schluss ist in einer Situation. Also angenommen, du weißt ganz allgemein, dass du dir nie wieder eine sehr erniedrigende, peinliche Erfahrung antun möchtest, dann sollte das dein Freund wissen. Dass er weiß: Melina ist jetzt gegangen, ich weiß warum. Es ist okay. Du kannst ihm ja auch einen Zettel in die Hand drücken, auf den er schauen kann, wenn er bissl klarer geworden ist. Oder die Info geben, dass er dich anrufen kann.

Eines ist allerdings sehr wesentlich: Er sollte wirklich dauerhaft in psychiatrischer Behandlung verbleiben, solange er immer wieder Schübe durchlebt! Hier ist nämlich durchaus die Schwelle zu Co-Abhängigkeit, Missbräuchlichkeit und Auslaugung erreicht - und all das, was dir widerfahren ist, klingt sehr schlimm! Und es wäre ganz wichtig, dass du dich in solchen Phasen von ihm fernhältst, sofern er keine Besserung durch Psychopharmaka spürt. Hier geht es um dich und um deinen Schutz! Ich gehe sogar so weit, dass du überlegen solltest, ob du zumindest selbst ein psychologisches Beratungsgespräch in Anspruch nehmen möchtest. Dies könnte eventuell auch helfen, im Umgang mit deinem Freund noch ein paar Kniffe zu erlernen.

Du hast dich stark distanziert von den angeblich spirituellen Inhalten, die dir dein Freund aufzwingen wollte. Bitte sprecht das aber immer wieder gemeinsam durch, denn das ist wirklich ein fetter Brocken und echt gefährlich! Wenn er sich aufführt wie ein hochmanipulativer Guru, der deine Persönlichkeitsrechte ignoriert, ist WEGRENNEN angesagt! Oder anders: So etwas darf schlicht und ergreifend nie wieder zwischen euch passieren. Gerade weil du selbst eine Angststörung hattest/hast, ist dies sehr bedeutsam!

Vielleicht könnt ihr euch auch als Paar dazu beraten lassen. Beratungsstellen bei psychischer Erkrankung, Gesprächskreise und Selbsthilfegruppen stehen in vielen Regionen zur Verfügung. Dort kann dein Freund auch allein hingehen. Denn so schön es auch ist, dass du für ihn da bist, so wichtig ist es auch, dass er die absolute Verantwortung für sich übernimmt. Du kannst und solltest dich natürlich informieren - doch nur so weit, dass es dir nützlich ist, u.a. beim Abgrenzen.

Ich habe dir Internetseiten herausgesucht für Angehörige:
- https://dgbs.de/fuer-angehoerige/ , davon für dich besonders https://dgbs.de/fuer-angehoerige/zwischen-liebe-und-abgrenzung/ sowie drei Regeln im Umgang in Krankheitsphasen: https://dgbs.de/service/dgbs-newsletter/newsletter-oktober-2013/drei-regeln
- https://www.klinik-friedenweiler.de/blog/bipolare-stoerung-wichtige-informationen-angehoerige/
- https://www.oberbergkliniken.de/service-navigation/aktuelles/bipolare-stoerungen-ratgeber-fuer-angehoerige/
- Ein Forum, das deinem Freund bestimmt dienlich sein kann: https://www.bipolar-forum.de/

Ein Thema, das vermutlich auch gesondert in eurer Beziehung steht, ist dieses Ding mit dem Zuhören, Abwarten, Reden. Da bin ich nicht so ganz dahinter gestiegen, ob das im Vorfeld des Manischen passiert ist oder nicht. Ich möchte aber betonen, dass die unbedingte Akzeptanz des Gegenübers mit seinen charakterlichen Eigenheiten die Grundlage einer harmonischen Beziehung ist! Also auch hier meine Bitte, deine Würde und deine Grenzen zu setzen und deine Standpunkte freundlich, aber bestimmt zu vertreten.

Ich glaube, du hast schon ein super Gespür für die Solidarität mit deinem Freund. Und das ist auch genau richtig so. Wenn du jetzt noch mehr in die Selbstliebe gehst, dich in liebevollem Abgrenzen übst und ihn ermunterst, ständige psychiatrische Unterstützung zu suchen, könnt ihr eine stabile und lange Partnerschaft etablieren, da bin ich zuversichtlich.

Und noch etwas nur für dich: Schreiben erleichtert nachgewiesenermaßen enorm. Du kannst für dich vielleicht ein Tagebuch anlegen, in welchem du deine Gedanken und Gefühle festhältst.
Außerdem möchte ich dich ermuntern, eine vertraute Person in deinem direkten sozialen Umfeld einzuweihen, auch wenn du davor aktuell noch zurückschreckst. Auch gezieltes Suchen nach Leuten via Internet kann sehr nett sein; da kannst du über geteilte Interessen bestimmt gut Anschluss finden und allmählich bereichernde Sozialkontakte knüpfen. Naheliegend wäre es mitunter, mit anderen Partner:innen in Kontakt zu treten, welche ebenfalls einen Menschen mit bipolarer Störung an ihrer Seite haben. Diese würden dann nicht mit dem Finger auf deinen Freund zeigen, weil sie genau wissen, was Sache ist!

Es wäre sicherlich auch fein, wenn du exklusiv für dich schaust, was du (noch) brauchst: Mehr Ruhe, ein neues Hobby, ehrenamtliches Engagement, Horizonterweiterung, etc. ...?
Ich finde es sehr, sehr zentral, dass du nicht zu viel gedanklich und gefühlsmäßig um deinen Freund kreist. Sei in dir und bei dir. Das ist dein innerer Kompass. Suche dir therapeutische Hilfe, falls du merkst, dass du feststeckst. Gehe deinen Regungen nach. Lasse dich leiten. Binde deinen Freund an den Stellen ein, wo er die Macht hat, dir maximal viel Gutes zu tun!
Du bist immer die erste Wahl in deinem eigenen Leben. Vergiss das bitte nie.

Alles Liebe und Gute!
Nuala