Problem von Alexander - 13 Jahre

Ich bin vermutlich schuld an der Depression meiner Mutter

Hallo, ich weiß nicht wirklich wie ich anfangen soll, naja es geht um mein Zuhause. Vor 2 Monaten ungefähr hab ich mich (ziemlich rücksichtslos) als Transgender geoutet. Das Problem ist seither ist alles beschissen. Ständig Streiten wir. Meiner Mutter habe ich am meisten geschadet. Sie ist seitdem sehr eigenartig gewesen. Neulich sprachen wir wieder darüber, sie hat gesagt wie schlimm die letzte Zeit war, das sie teilweise nicht aufstehen wollte und sich manchmal einfach nur wünscht Tod zu sein. Es sei kalt zuhause geworden (was stimmt) sie sei allein. Da hab ich gesagt was sie hören wollte das es nur eine Phase war. Einen Tag später hatte sie einen Zusammenbruch oder ähnliches sie hat einfach angefangen zu weinen. Sie denkt sie habe Fehler gemacht, mich falsch erzogen und ähnliches. Dann fand ich die Zetteln über Burnout und Depressionen mit ihrer Handschrift Notizen dazu. Ich fühle mich so schuldig und so hilflos.
Ich hab keine Ahnung wie ich damit umgehen soll. Seither sind aber auch viele Worte ihrerseits gekommen wie: Kannst du nicht einfach einmal NORMAL sein? Oder wie selbstsüchtig ich sei und wie wenig Mitgefühl ich habe. Sie weiß nicht das ich die Zetteln gelesen habe. Was soll ich tun, wie kann ich ihr helfe?
Lg Alex

Nuala Anwort von Nuala

Lieber Alexander,

das liest sich in der Tat sehr niederdrückend. Es wäre so schön, wenn deine Mutter dich so annehmen und sehen würde, wie du eben bist.
Gleich vorneweg: Du bist NICHT schuld! Schuld ist ohnehin ein sehr schwieriger Begriff, weil er nicht wirklich helfen kann, Schwierigkeiten auf eine sanfte und konstruktive Weise zu beseitigen. Ich möchte ein bisschen darauf eingehen.
Kinder neigen dazu, eine angebliche Schuld auf sich zu laden - doch sind sie keinesfalls schuld daran, dass ihre Eltern nicht bestimmten Dingen zurechtkommen, unausgeglichen sind, eigene Probleme haben und dergleichen mehr. Die Eltern sind die Erwachsenen. Sie sind in ihrer Entwicklung an einem ganz anderen Punkt und haben obendrein die Verantwortung für das Wohlergehen ihrer Kinder. Deswegen brauchst du dir diesen Schuh in keinster Weise anzuziehen, auch wenn dich deine Mutter damit total unter Druck setzt: Du bist niemals schuld daran, dass ein anderer Mensch nicht klarkommt! Du hast vielleicht etwas ruppig gesagt, dass du dich körperlich anders fühlst, als es bisher von dir wahrgenommen wurde. Dafür kannst du dich ja entschuldigen. Doch alles andere ist kein Grund, sich schlecht zu fühlen! Vielmehr ist es einzig und allein die Sache deiner Mutter, mit Überraschungen angemessen umzugehen. Außerdem gehört es dazu, dass es mit heranwachsenden Kindern vermehrt Streit und Diskussionen geben kann, das ist also auch nicht sooo dramatisch, wenn man als Eltern psychisch im Gleichgewicht ist. Es kommt ja letztlich darauf an, wie man als Familie insgesamt funktioniert, wie gut der Zusammenhalt ist. Es lässt sich über alles reden! Wer das leugnet und mit dem Finger auf eine einzelnes Familienmitglied zeigt, hat selbst das Problem.
Dein Outing ist letztlich und ganz sachlich gesehen nicht mehr als eine Überraschung mit einer Umstellung im Denken und Handeln für die Zukunft. Das darf natürlich auch dauern und sehr ungewohnt sein, keine Frage! Doch mit Schuld darf ein Outing nicht verknüpft werden!
Alles, was sie dir um die Ohren wirft, sind gesellschaftliche Normvorstellungen, wie etwas oder jemand zu sein hat. Doch sie kann weder verlangen, dass du dich krampfhaft anpasst, noch dir Schuld zuweisen. Das ist moralisch inakzeptabel.

Depressionen müssen übrigens diagnostiziert werden. Deine Mutter kann sich miserabel fühlen, aber solange sie nicht ärztlich bzw. therapeutisch die offizielle Bestätigung hat, dass sie psychisch erkrankt ist, kann sie das nicht einfach so behaupten (auch nicht unterschwellig). Und auch du solltest nicht davon ausgehen und dich davon einschüchtern lassen).

Und: Depressionen entstehen vor allem durch das lange Unterdrücken von Gefühlen - und kommen nicht mal eben so, weil man etwas erfahren hat, was einen schmerzt, enttäuscht, erschreckt, etc. Da gehört schon deutlich mehr dazu! Ich würde sogar behaupten, dass es deiner Mutter schon (länger) vorher schlecht ergangen sein muss. Das ist natürlich spekulativ, doch wenn man seinem Kind mehr oder weniger den Vorwurf macht, schuld an der eigenen schlechten Verfassung zu sein, lässt das auf gravierendere Persönlichkeits - oder Lebensprobleme schließen. Es kann durchaus sein, dass bei euch in der Familie schon vorher etwas faul war und dein Geständnis (endlich) mal einen Durchbruch gebracht hat. Positiv betrachtet besteht jetzt also die Chance auf langfristige Veränderungen, die allen helfen können!

In jedem Fall bitte ich dich, innerlich davon Abstand zu nehmen, was sie sagt und von dir verlangt. Bitte verleugne dich nicht selbst! Es mag sein, dass du eines Tages anders empfindest als aktuell, doch das ist eben etwas ganz Anderes, als jemandem Anderen zuliebe zu lügen und sich dabei selbst zu verraten. Dabei kannst du nur verlieren. Im schlimmsten Fall ergeht es dir dann selbst seelisch sehr mies, was du absolut verhindern kannst, indem du gut auf dich achtest, ehrlich bleibst und - ganz wichtig - dich entschieden von deiner Mutter und ihren Wünschen distanzierst! Du kannst ihr immer zeigen: Mama, ich habe dich lieb!, Mama, ich nehme dich in den Arm, ich tröste dich. Aber du bist nicht ihr emotionaler Fußabtreter! Wenn sie Probleme mit diversen Lebensentwürfen, Körperempfindungen und Verwirklichungen hat, muss sie lernen, damit klarzukommen. Das ist IHRE Aufgabe als erwachsene Frau und ihre Pflicht als deine Mutter, ihr seelisches Wohlergehen von deinem eigenen zu trennen! Man kann durchaus psychisch an einem Tiefpunkt sein, ohne dem Kind die Schuld zu geben bzw. das Gefühl der Kälte zu vermitteln. Man kann sich traurig und verunsichert fühlen und gleichzeitig seinem Kind zeigen, wie sehr man es liebt. Dass man sich dafür einsetzt, dass wieder rosigere Zeiten nahen. Zumindest kann man dafür sorgen, dass es aufwärts geht, auch wenn dann phasenweise mal weniger Zärtlichkeit und Nähe herrscht.

Zusammengefasst: Es ist kein bisschen egoistisch, sich selbst zu entdecken und das mutig mitzuteilen! Ganz im Gegenteil, du hast großen Mut bewiesen und solltest dafür entsprechenden Respekt von deiner Familie ernten (zumindest wäre das der Idealzustand). Du bist auch nicht gefühllos, der Zusammenhang passt ja gar nicht. Also: Die Vorwürfe sind haltlos und zeigen nichts anderes, als dass deine Mutter dringend professionelle Hilfe suchen sollte. Aber nicht wegen dir als Person mit deinem Denken, Fühlen und Verhalten, sondern weil sie mit sich selbst im Unreinen ist.

Da das Thema sehr schwierig zu sein scheint und es deiner Mutter offenbar sehr schlecht geht, solltest du dir direkte Hilfe in deiner näheren Umgebung suchen. Ich denke da an Beratungsstellen für Kinder und Jugendliche (auch für Familien), da kannst du einen Termin ausmachen und alles erzählen. Dort arbeitet Personal, das sich super mit solchen Konflikten auskennt. Ob du solch einen Termin gemeinsam mit deinen Eltern oder erstmal allein machen möchtest, müsstest du entscheiden.

Falls du so eine Beratungsstelle in der Nähe haben solltest, wäre auch noch eine im Bereich LSBTIQ+ hilfreich, weil Themen wie Outing, Normen, Elternreaktionen, gekränkte Vorstellungen vom eigenen Kind, etc. da möglicherweise noch genauer besprochen und Hilfestellung geleistet werden könnte.

Außerdem habe ich dir einen Link zu einer queeren Telefonberatung herausgesucht, dort gibt es auch eine Chatoption und Mailfunktion: https://comingout.de/
Sehr empfehlenswert zum Austausch mit anderen Jugendlichen bzw. mit einer Liste von Anlaufstellen ist diese Plattform: http://www.meingeschlecht.de/anlaufstellen/
Und hier kannst du nach Landesverbänden des Lamba schauen, um dich ggf. vor Ort direkt zu vernetzen oder Gesprächsmöglichkeiten zu erhalten: https://lambda-online.de/ueber-uns/

Ich wünsche dir alles Gute für diese herausfordernde Zeit - bitte lass' dich nicht unterkriegen, bleibe dir treu und halte durch, es wird besser werden, wenn du fest an dich glaubst und dir vertraust. Du bist gut so, wie du bist. Ohne Wenn und Aber.

Ich grüße dich herzlich,
Nuala