Problem von Niemand - 17 Jahre

Gewaltvideo: Wie emotional damit umgehen?

Halllo liebes KuKa- Team,
in unserer (Klein)Stadt kam es diese Woche zu einem Mordfall. (Mann fährt Frau tot, schlägt mit Axt auf sie ein, die Frau hatte vorher im Frauenhaus Schutz gesucht)
Wie es mittlerweile so ist, wurde ein Video davon gedreht, und geteilt.
Ich habe dieses Video in meinem Klassenchat erhalten, aber den Chat erst gar nicht geöffnet, sondern eine Person gebeten, dass Video zu löschen.
Als ich heute Abend durch die Medien meiner Klassengruppe scrollte, um eine andere Aufnahme zu finden, bin ich auf dieses Video gestoßen, von dem ich geglaubt habe, es wurde gelöscht.
Man muss dazu sagen, dass ich vorbelastet bin, man hat mich vor einem Jahr mit PTBS diagnostiziert, ich bin aber nicht in Behandlung.
Ich bin zunächst in eine Art Schockstarre gefallen. Es war alles zu viel für mich. Dann habe ich es geschafft, das Handy wegzuschmeißen. Der Inhalt war... Wie soll man soetwas umschreiben?
Wie gehe ich mit soetwas um, also rein emotional? Ich weiß nicht, ob es nur wegen meiner PTBS so ist, ob ich irgendwie überempfindlich bin, aber ich stecke die Bilder irgendwie nicht so leicht weg, wie meine Klassenkameraden. Immer wenn ich die Augen schließe, sehe ich die Bilder... Ich beschreibe sie nicht, ich glaube ich brauche nicht zu erwähnen das ein Mord grausam ist.
Und es ist ja nicht so, als ob ich nicht selbst noch "eigene" Bilder habe, die immer ungefragt kommen. Und auch wenn es "nur" ein Video war. Es war eben "nur" ein Video. Ich glaube fr mich persönlich hat sich dieses Gefühl der Handlungsunfähigkeit noch verstärkt. Und eigentlich alles. Irgendwie...klar betrifft es mich nicht persönlich.

Nuala Anwort von Nuala

Liebe Unbekannte!

Ich kann dein Entsetzen absolut verstehen! Und das ist auch das, was eigentlich als normal gelten muss: Sich traurig und bestürzt zu fühlen - ohne sich daran zu berauschen oder den Inhalt völlig gleichmütig weiterzugeben. Wenn Menschen jegliches Mitgefühl, aber auch Schamgefühl ablegen oder verlernt haben, läuft einiges falsch. Damit möchte ich sagen, dass du eine sehr gesunde Reaktion zeigst (einmal abgesehen davon, dass du vorbelastet bist, ist es wichtig, als Mensch sensibel auf Gewalt zu reagieren!). Du brauchst dich also nicht zu fragen, warum "die Anderen" das angeblich nicht so schlimm finden. Vielleicht finden sie es ja auch schlimm. Du kannst dich stattdessen fragen: Was kann ich tun, um MICH zu schützen - und gleichzeitig, wenn ich das möchte, wie kann ich etwas Positives an die Stelle der Grausamkeit setzen?
Abgrenzung hast du bereits probiert. Jetzt wurdest du ungewollt damit konfrontiert. Es gibt mehrere Strategien, wie du damit umgehen könntest. Am besten hörst du auf deine innere Stimme. Ich kann dir ein paar Beispiele geben und du kannst erfühlen, ob und was du davon umsetzen möchtest.
Zum Einen kannst du deine Klasse für das Thema Gewalt und deren schädliche Auswirkungen sensibilisieren, d.h. darauf aufmerksam machen, was solche Bilder und Videos im Gehirn anrichten. Und im Herzen. Du kannst von dir erzählen, was es in dir ausgelöst hat. Du kannst sozusagen das Emotionale aufgreifen, damit es deine Klassenkamerad:innen besser nachempfinden können, wie sehr hier die Grenzen der Moral und der Mitmenschlichkeit verletzt wurden. Das setzt aber voraus, dass du dich bereit für eine solche Öffnung fühlst und auch mutig sein willst. Wahrscheinlich wäre es schon sehr effektiv, weil das Schweigen und damit Akzeptieren dieses Teilens durchbrochen werden würde. So könnten sich dann auch andere Schüler:innen trauen und sich dazu bekennen, wie schrecklich sie den Umgang mit der Grausamkeit finden und das nicht mehr länger erdulden wollen.
Eine andere Möglichkeit wäre, dass du dich ersteinmal mit deinen engsten Vertrauten besprichst und dich seelisch auffangen lässt. Dann könnten daraus dann Ideen entstehen, wie du bzw. ihr damit umgehen wollt. Genauso natürlich mit einer Therapeutin oder einem Therapeuten, was ich dir auch sehr ans Herz legen würde - vor allem wegen deiner Vorgeschichte mit der PTBS.
Reden ist ein wunderbares Mittel, um seelische Anspannungen zu lösen, die eigenen Gefühle auszudrücken und die Gedanken, die noch diffus sind, greifbarer zu machen. Es erleichtert ungemein, mit belastenden Ereignissen nicht allein zu bleiben. Auch Schreiben ist super! Hier bieten sich handgeschriebene Tagebücher, Blogs, und Notizen an.
So kannst du natürlich auch den Kontakt zu deiner Klasse suchen und einmal gezielt fragen, ob es wirklich so spurlos an ihnen vorbeigeht oder ob sie eigentlich auch daran zu knabbern haben. Hier kann viel Nähe entstehen!
Übrigens kannst du auch mit deiner Klassen - oder der Schulleitung sprechen, um z.B. ein Schulprojekt anzustoßen. Denn Gewalt auf Handys und das Filmen von Brutalität ist ja leider ein verbreitetes Phänomen. Da wäre es super, Expert:innen von außen einzuladen, um u.a. Workshops durchzuführen. Davon können alle profitieren, egal mit welcher Ausgangslage. Oder noch simpler: Ihr sprecht einmal ausführlich im Unterricht darüber - das passt ja auch stellenweise zum Lehrplan (z.B. in Deutsch, Ethik, Religion und Geschichte).
Hierzu habe ich dir beispielhaft Materialien herausgesucht (du kannst noch mehr finden):
- https://www.polizei-beratung.de/medienangebot/detail/46-gewaltvideos-auf-schuelerhandys/
- https://www.lernando.de/magazin/247/Gewaltvideos-Gewaltpraevention-und-Neue-Medien

Dass es zu juristischen Folgen kommen kann, wird in folgendem Zitat deutlich:
"Das Weiterleiten des Videomaterials ist nicht nur in Neuseeland strafbar, sondern auch in Deutschland, erklärt der hallesche Rechtsanwalt für Medienrecht, Michael Geiger. Das Ansehen an sich sei nicht strafbar, das Teilen schon, "weil ich damit das Persönlichkeitsrecht Dritter verletze und das steht auch in Deutschland unter Strafe."
Nach deutschem Recht ist das Filmen oder Weiterleiten von Bildmaterial, in dem die Hilflosigkeit einer anderen Person zur Schau gestellt wird, strafbar. Es drohen bis zu zwei Jahre Gefängnis oder eine Geldstrafe." (https://www.mdr.de/nachrichten/politik/inland/verbreitung-gewaltvideos-in-deutschland-strafbar-100.html)

Neben den Gesprächen, die ich dir sehr empfehlen kann, kannst du auch noch viele andere Dinge tun, um dich zu entspannen und Gleichgewichte zu schaffen.
Zunächst einmal finde ich es bedeutsam, das Gute zu betonen. Sonst entsteht rasch der Eindruck, die Welt würde nur aus finsteren Dingen bestehen. Doch gerade durch die Medien werden die erfreulichen Meldungen und Entwicklungen in den Hintergrund gedrängt, obwohl sie dauernd existieren (z.B. Erfolge im Umweltschutz, mehr Rechte für Minderheiten, neue Erfindungen, die hilfreich sind etc.).

Es ist für viele Jugendliche durch die permanente Flutung schwer vorstellbar, doch ist ein phasenweiser Verzicht oder einfach eingeschränkter Konsum von Handyinhalten sehr wohltuend. Nicht nur deswegen, weil es oft zuviel ist, sondern auch, weil es eben zur Einseitigkeit neigt. Menschen brauchen Zeiten zur Ruhe, zum Nachdenken, zum Verarbeiten. Wenn man dauernd am Handy ist, nimmt man sich das und schadet sich langfristig. Du kannst dir also gezielt Auszeiten nehmen und dann schöne Sachen unternehmen. Ohne Handy joggen gehen, einen Waldspaziergang machen, deiner Lieblingsmusik lauschen, etwas Handwerkliches tun usw. Ich verlinke dir noch meine Antwort auf eine Zuschrift, in der das ausführlich Thema ist. https://mein-kummerkasten.de/331733/Sorgen-und-Versagensangst.html

Es ist wunderbar, gefühlvoll zu sein und Unrecht als solches zu erkennen. Sieh es als Stärke! Du kannst dich als jemanden wahrnehmen, die intensiv fühlt und daraus etwas für die Umwelt bewirken kann. Gerade dann, wenn vergessen wird, worauf es im Zusammenleben wirklich ankommt: Auf Wärme, Nähe, Verständnis. Und nicht auf Klicks, Likes und Härte.

Mein abschließendes Fazit ist: Du bist kein Spielball im Meer von Gewalt. Du hast viel mehr Macht, als du glaubst. Du hast zwar Dinge gesehen, die dich verstört haben. Doch diese müssen dich nicht bestimmen und dauerhaft herunterziehen. Du kannst dir professionelle Hilfe suchen und dadurch viele nützliche Werkzeuge erlernen, wie du mit deiner Vergangenheit umgehen kannst. Du kannst dich sehr bewusst auf das Schöne besinnen. Du kannst dich so viel wie möglich entspannen. Du kannst dich verwöhnen. Du kannst mitfühlend sein, ohne dich auszubeuten.
Man kann also aktiv etwas gegen Abstumpfung und Verrohung tun! Es ist nicht das unabwendbare Schicksal der Menschheit, immer brutaler und gleichgültiger zu werden - wir befinden uns in vielen Hinsichten sogar auf dem Weg, wieder mehr "human" zu werden, indem wir spüren lernen, was wir brauchen. Durch Vorbilder, die sich gegen Gewalt aussprechen und das Gute betonen, wird dies leichter und schneller erreicht.

Ich wünsche dir alles Gute!
Nuala