Problem von Anonym - 31 Jahre 28.11.19

Feedback zu "An Paul: Neuer Versuch"

Feedback zu folgendem Problem: https://mein-kummerkasten.de/332305/An-Paul-Neuer-Versuch.html

Liebe Anonyme,

ich hoffe, es ist in Ordnung, dir ein Feedback zu schicken, auch wenn dein Anliegen explizit an Paul gerichtet war. Du hast von ihm ja auch schon einige sehr wertvolle Antworten erhalten.

Deinen bisherigen Texten nach zu urteilen, bist du eine sehr selbst reflektierte Person. Das finde ich sehr bewundernswert. Mir kamen noch ein paar Gedankenimpulse, die dir bei deiner Selbstreflexion vielleicht zugute kommen könnten. Du kannst ja einfach mal schauen, ob du dir mein Feedback durchlesen und es auf dich wirken lassen möchtest oder nicht.

Da ich schon seit einigen Jahren beim Kummerkasten immer wieder mitlese, kann ich mich noch dunkel an deine Situation mit H. erinnern.
Die Parallele zu deiner jetzigen Situation liegt natürlich auf der Hand - es handelt sich beide Male um Personen, die bereits vergeben sind. In dem Sinne also „nicht mehr zu haben“.
Nun kann man natürlich sagen, dass man sich emotional auch mal an eine Person binden kann bzw. sich verlieben kann, die bereits vergeben ist. Das kann auch schonmal zweimal geschehen. Viele Menschen würden dies dann allerdings direkt akzeptieren und sich anderweitig orientieren. Dir allerdings scheint es sehr schwer zu fallen, diese Menschen dann emotional „loszulassen“.
Da könnte es sich vielleicht lohnen, mal zu schauen, woran dies liegen könnte.

Zunächst mal kam mir der Gedanke, dass es bei solchen Konstellationen oftmals nie zu einer echten Liebesbeziehung kommt, sondern es eher „Träumereien“ sind, denen man sich dann hingibt. In solchen Fällen fällt es leicht, die andere Person anzuhimmeln, ohne sich damit auseinandersetzen zu müssen, wie diese Person sich in einem echten Beziehungsalltag verhalten würde. Denn dieser Beziehungsalltag findet ja nicht statt. Das heißt im Umkehrschluss auch, dass du selbst dich mit einer echten Beziehung nicht auseinandersetzen musst.
Bezüglich Beziehungen wäre es vielleicht auch von Vorteil, wenn du dir mal ganz genau überlegst, welche Wünsche und Bedürfnisse du bezüglich einer Liebesbeziehung hast. Denn dann weißt du grundsätzlich auch, was du willst. Und was du ggf. nicht willst. Und kannst besser entscheiden, was sich für dich richtig und gut anfühlt und was nicht und kannst dich ggf. auch besser abgrenzen.

Des Weiteren ist mir aufgefallen, dass du dich meist in eine sehr passive Rolle begibst, während du deinem Gegenüber eine aktive Rolle zuweist. Konkret heißt dies z.B., dass dein Gegenüber sich für oder gegen eine Beziehung entscheiden kann (oder dich auch einfach warten lassen kann, während sie weiter von dir angehimmelt wird), während du die passive Rolle des Wartens auf die Entscheidung des jeweils anderen übernimmst. Damit gibst du genau genommen jedoch auch Verantwortung ab. Der andere kann aktiv entscheiden, während du dich von seiner Entscheidung abhängig machst.
Zu dieser „Rollenverteilung“ ist mir folgender Satz von dir besonders aufgefallen, der das Ganze nochmals sehr verdeutlicht: „Würde er mich küssen wollen, ich glaube, ich könnte mich nicht selbst davon abhalten. Würde er mich ausnutzen, wie der andere Arsch damals, ich würde es wahrscheinlich wieder mit mir machen lassen, in der Hoffnung, dass ich doch die Eine für ihn bin und er sich früher oder später für mich entscheidet.“
Er könnte also theoretisch aktiv entscheiden, ob er dich küssen möchte oder nicht, während du es vermutlich einfach geschehen lassen würdest, ohne dich aktiv dafür oder dagegen zu entscheiden.
Ebenso würdest du dich deiner Aussage nach vermutlich nicht aktiv dagegen entscheiden, ausgenutzt zu werden, sondern passiv darauf warten, ob er sich doch für dich entscheidet.
Eine Frage zum Reflektieren wäre hier z.B., woran es liegen könnte, dass du so viel Verantwortung und auch Entscheidungen abgibst? Hast du möglicherweise Angst davor, selbst Entscheidungen zu treffen? Falls ja, weshalb?
Und - wie viel bist du dir selbst wert? Wie sieht es mit deiner Selbstliebe aus?

Noch zwei Sätze von dir sind mir besonders ins Auge gesprungen. Du schreibst: „Wieso sollte ich jahrelang unglücklich sein, immer auf die Gefühle anderer achten, wenn mich nur der richtige Mann an meiner Seite so wirklich glücklich machen kann? Wenn er überhaupt kein Interesse hätte oder seine Freundin ihn komplett erfüllen würde, würde er sich doch nicht so verhalten, oder?“
Aus diesen Sätzen lese ich heraus, dass du von deinem Partner erwarten würdest, dass er dich komplett glücklich macht. Ebenso gehst du wohl auch davon aus, dass die Freundin deines Kollegen die „Aufgabe“ hat, ihn komplett zu erfüllen?
Das ist so eine Sache, die kaum jemand leisten kann. Wenn du mit dir selbst nicht glücklich bist, wie sollte jemand anderes dir dieses Glück schenken können?
Verstehe mich diesbezüglich bitte nicht falsch. Eine schöne und ehrliche Beziehung kann sehr erfüllend sein. Keine Frage! Aber kann sie uns das Glück und die Erfüllung schenken, die wir uns selbst nicht geben können?
Was fehlt dir im Leben, um mit dir selbst glücklich zu sein? Oder anders gefragt: Was kannst du konkret tun, um dich selbst glücklich zu machen?
Denn wenn du es schaffst, dir selbst Glück und Erfüllung zu schenken, dann bist du nicht abhängig davon, dass jemand anderes dich glücklich macht. Dann bist du so oder so glücklich. Und dann - da bin ich mir sehr sicher - kannst du eine sehr erfüllende Beziehung mit jemandem führen, der ebenfalls mit sich selbst glücklich ist. :)

Ganz liebe Grüße