Problem von Anonym - 23 Jahre

An Paul: Alles wiederholt sich

Lieber Paul (und lieber Anonymer),

danke für eure Antwort bzw. euer Feedback. Ich hatte mir vorgenommen, genauer auf beides einzugehen und euch die ein oder andere Frage zu beantworten, warum ich vielleicht oftmals sehr passiv agiere. Allerdings haben sich die Ereignisse so überschlagen, dass ich gerade nicht mehr weiß, was ich denken und fühlen soll.

Ein paar Kollegen, er (um es einfacher zu machen: M) und ich waren gestern auf einem Betriebsausflug. Einige Wochen hatte ich mich schon darauf gefreut, weil ich so die Möglichkeit haben könnte, M besser kennenzulernen. Wir sind mit dem Zug dorthin gefahren. Obwohl wir 13 Mann waren, saßen wir beide (sehr nah) nebeneinander, unsere Beine berührten sich beinahe die ganze Fahrt lang. Ich hatte das Gefühl, er würde sich extra etwas breiter machen, als er musste. Am Ausflugsziel angekommen, machten wir erst einmal eine anderthalbstündige Stadtführung. Es schüttete die meiste Zeit wie aus Eimern und er hielt sich und zwei anderen jüngeren Kolleginnen die ganze Zeit über den Regenschirm. Vor lauter Eifersucht war ich kaum fünf Minuten in der Lage, der Stadtführung zu folgen. Zwei, drei Mal sagte er, ich solle auch mit unter den Schirm kommen. Aber irgendwie war es mir zu blöd… Nach der Führung gingen wir in ein Restaurant etwas essen. Ich saß wieder ziemlich nah neben ihm. Jedoch nicht so nah, dass unsere Kollegen etwas dahinter vermuten konnten (zumindest nichts Offensichtliches oder Definitives). Da wir so durchgefroren und nass waren, war dies auch schon das Ende unseres Ausfluges und wir gingen nach drei Stunden wieder zum Zug, um nach Hause zu fahren. Erneut saßen wir beide nebeneinander – dieses Mal hätte er sich auch neben einen anderen Kollegen setzen können, aber entschied, sich neben mich zu setzen. Als wir an unserer Endstation ankamen, verabschiedeten sich alle Kollegen, sodass nur noch er, eine andere junge Kollegin und ich übrig waren. Nachdem wir ein paar Schritte gegangen waren, sagte sie, dass sie jetzt woanders abgeholt werden würde. Da waren es nur noch zwei. Wir liefen zu unserem Arbeitsplatz und wussten wahrscheinlich beide nicht so richtig, worauf das jetzt hinauslaufen würde. Wir wussten nur, dass wir beide noch nicht nach Hause wollten (auch wenn keiner es laut aussprach). Im Gebäude angekommen, gingen wir in den ersten Stock und setzten uns in unseren Pausenraum. Wir machten uns ein Bier auf und setzten uns nebeneinander, sodass wir beide nach draußen in die Dunkelheit schauen konnten. Und wir redeten und redeten… Ich weiß schon gar nicht mehr, worüber wir alles gesprochen haben. Wir waren beide sehr müde, aber wollten – wie gesagt – nicht nach Hause. Es war ziemlich kühl in dem Raum und er sagte, dass ihm kalt sei. Mir war auch nicht besonders warm, also holte ich meinen großen, flauschigen Schal und fragte „Willst du auch?“, dachte aber, dass er bestimmt ablehnen würde. Stattdessen legte er den Arm um mich und ich den Schal um unsere Schultern, sodass wir automatisch näher zusammenrückten. Das war vermutlich der Moment, in dem ich aktiv entscheiden konnte/musste: Und ich entschied mich, es passieren zu lassen. Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter und drehte den Kopf leicht zu ihm rüber. Und wir redeten weiter und weiter über Gott und die Welt. Über den Tag, über die Tatsache, wie wir nun da saßen und wohl morgens nicht damit gerechnet hatten, dass der Tag so enden würde, über sein Leben und über meins. Er streichelte meinen Arm mit der Hand, die er um mich gelegt hatte und ich kuschelte mich mit meinem Körper an ihn. Irgendwann drehten wir uns mit unseren Gesichtern zueinander und küssten uns. Ein, zwei Mal… Dann brach ich ab und sagte „Nicht schon wieder…“ Und ich erzählte ihm, dass ich das alles schon einmal mitgemacht habe. Er erzählte mir daraufhin, dass er glaubt, sich Hilfe holen zu müssen. Er wäre in den zwei Jahren seiner Ehe (das mit der Dauer der Ehe hattest du falsch verstanden in meinem letzten Text) nicht glücklich gewesen. Und dass er jetzt wieder am gleichen Punkt mit seiner Freundin steht, wie mit seiner Ex-Frau vor einigen Jahren. Er sagte mir, dass es das erste Mal ist, dass er seine jetzige Freundin betrügt. Ich fragte ihn, ob er glaubt, dass seine Freundin die Richtige ist. So richtig beantworten konnte er die Frage nicht. Nur, dass sie alles für ihn tut und merkt, dass es gerade nicht gut läuft. Er erzählte mir, dass er glaubt, Bindungsängste zu haben. So absurd es in dieser Situation klingen mag, aber seine Freundin tat mir leid. Wir saßen dort Arm in Arm, hatten uns gerade geküsst und seine Freundin tat mir leid. Ziemlich krank. Wir küssten uns wieder, sprachen wieder ein paar Minuten miteinander, küssten uns wieder und wieder… Wir wussten beide, dass es falsch war, aber es fühlte sich trotzdem so richtig an. Ich sagte ihm, dass ich offensichtlich doch keine so schlechte Menschenkenntnis hatte und sein Verhalten richtig gedeutet hatte. Irgendwann merkten wir, dass es in einem anderen Zimmer um Einiges wärmer war und gingen dorthin. Er setzte sich auf einen Stuhl und ich mich auf seinen Schoß. Ich kuschelte mich an ihn und versuchte, seinen Geruch für immer abzuspeichern. Wir küssten uns wieder, ich strich ihm durch die Haare und seinen Nacken, er streichelte meinen Rücken. Wir wurden etwas mutiger. Es war einfach zu schön um wahr zu sein. Auch wenn wir beide genau wussten, dass seine Freundin zu Hause auf ihn wartet: Wir gaben unser Bestes, das alles einfach auszublenden. Als gäbe es an diesem Abend nur noch ihn und mich. Ich knöpfte sein Jeanshemd auf und er zog sein Unterhemd hoch, sodass ich seine Brust sehen, streicheln und küssen konnte. Unser beider Atem ging immer stockender, wir waren beide nervös. Irgendwann spürte ich seine Erektion unter mir und er umfasste meinen Hintern. Wir konnten nicht damit aufhören, uns immer und immer wieder zu küssen. Er küsste meine Wangen, meine Stirn, meinen Hals. Er schloss die Augen und ich strich ihm behutsam durch die Haare und sein Gesicht. Wir machten noch ein paar Dinge, die ich lieber nicht so detailreich beschreiben möchte. Aber wir hatten keinen Sex. Er sagte, er hatte zwar viel Spaß mit anderen Frauen, als er sich von seiner Ex-Frau getrennt hatte, aber er hatte nie mit ihnen geschlafen. Ich war zuerst sehr ungläubig und sagte ihm, dass ich das damals ganz anders verstanden hatte und gedacht hatte, dass er mit „viel Spaß“ eben auch Sex gemeint hatte. Vielleicht glaubst du ihm das jetzt nicht – ich jedoch irgendwie schon. Es waren bald drei Stunden vergangen und als er zum dritten Mal sagte, dass wir jetzt wohl besser nach Hause fahren würden, sah ich ein, dass der Abend hier enden würde. Er sagte, dass sich das vielleicht ja mal wiederholen würde, aber er wollte auch hören, dass ich mir nicht direkt zu viele Hoffnungen machen solle. Ich weiß nicht mehr seinen genauen Wortlaut, aber ich sagte, ich würde zumindest versuchen, mir das alles nicht zu sehr zu Herzen zu nehmen. Dann verabschiedeten wir uns und fuhren nach Hause.

Bis zum jetzigen Moment weiß ich nicht, was ich fühlen soll. Ich habe nicht so ein schlechtes Gewissen wie damals. Ich bin weder glücklich, noch traurig. Den ganzen Tag lang muss ich an die letzte Nacht denken. Ich weiß nicht, was ich erwarte. Irgendwie rechne ich damit, dass es für mich nicht gut ausgehen wird. Es könnte sehr wahrscheinlich wieder so laufen, wie du bereits gesagt hast: Dass es unwahrscheinlich ist, dass eine Beziehung aus einer Affäre entsteht. Am liebsten hätte ich ihn jetzt bei mir und würde all das wiederholen. Auf der anderen Seite sollte ich ihm ab jetzt klar machen, dass es sich nur wiederholen wird, wenn er sich entschließt, seine Freundin zu verlassen. Aber was hätte ich davon, wenn er vielleicht wirklich Bindungsängste hat? Als er mir all das erzählte, wollte ich nichts mehr, als das er weiterredet, sodass ich ihn besser verstehen kann. Was ich ihm darauf antworten oder raten sollte, wusste ich nicht und sagte ihm das auch. Ich kann nun mal besser zuhören als Ratschläge geben. Vielleicht ist es so, wie du es schon vermutet hast, Paul: Vielleicht missbraucht er mich gerade (insbesondere auf mentale Weise). Falls dem so ist, so glaube ich nicht, dass ihm das bewusst ist. Auch wenn es stimmt, dass er sich – warum auch immer – nicht mehr auf lange Sicht binden kann oder will: Ich möchte gerade nichts mehr, als für ihn da zu sein und ihm zuzuhören. Ich will ihn verstehen. Und ich will vielleicht auch die sein, mit der er sich vorstellen kann, eine neue Beziehung zu führen. Doch ganz theoretisch, es gibt keine Garantie dafür, dass ich irgendwann nicht in der gleichen Situation bin, wie seine Freundin heute. Vielleicht würde er sich nach einer Weile wieder nach jemand anderem umsehen.

Ich weiß nicht, ob ich mit dem, was ich getan habe, irgendeinen eurer Ratschläge umgesetzt habe. Ich glaube, ich bin momentan überhaupt nicht mehr in der Lage, zu bewerten, ob das, was ich tue, richtig oder falsch, aktiv oder passiv ist. Aber eines kann ich euch beiden sagen: Es hat sich verdammt richtig angefühlt und ich wünschte, es würde sich wiederholen.

Ich wünsche euch beiden ebenfalls eine schöne Adventszeit und ein gesegnetes Weihnachtsfest. Vielleicht schreibe ich in diesem Jahr noch einmal. Schließlich steht in zwei Wochen die Weihnachtsfeier an…

Liebe Grüße
Anonym

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Anonyme,

tja, das ist nun wieder viel Zeit vergangen... und in der Silvesternacht sitze ich da, und denke über deine Erzählung nach. Wie so oft in den letzten Wochen. Wie mag es dir wohl ergangen sein? Ich muss ehrlich zu dir sein: Ich bin nur noch wenig im Kummerkasten aktiv, weil meine eigene seelische Situation gerade nicht optimal ist, und diesen Umständen ist auch deine Zuschrift "zum Opfer gefallen". Ich weiß nicht, was in der Zwischenzeit geschehen ist. Allerdings muss ich dir auch sagen, dass es mir wirklich nicht leicht fällt, meine Gedanken zu dem, was du erzählst, in Worte zu kleiden. Ich möchte damit nicht ausdrücken, dass ich dir nicht mehr helfen möchte oder das nicht mehr möglich wäre - ich möchte nur sagen, dass ich dich an einem Punkt sehe, an dem du einen Bereich betrittst, der sich meiner Deutung und auch meiner Erfahrung entzieht.

Ich habe den Eindruck, dass du das - verständliche - Bedürfnis hast, den Mann, in den du dich verliebt hast, in ein gutes Licht zu rücken. Du möchtest, natürlich, dass seine Beweggründe gut und edel sind; und vielleicht sind sie das ja auch. Allerdings kommt es letztlich darauf an, ob du weißt, was du willst, und ob er es weiß, und ob ihr euch entscheiden könntet, die Vergangenheit ruhen zu lassen und etwas Neues zu wagen. Ich sehe das Problem, dass du einerseits unbedingt möchtest, dass er ein besonderer Teil deines Lebens wird. Gleichzeitig aber kreisen deine Gedanken um das, was früher war, du versuchst, Licht in das Dunkel des Weges zu bringen, der ihn an diesen Punkt mit dir geführt hat, und ein für dich zufrieden stellendes Bild von ihm zu entwerfen. Letztendlich wäre es egal, wie er in der Zeit seit seiner Ehe gelebt hat, solange du nur sicher sein kannst, dass du für ihn das bist, was du für ihn sein möchtest. Kann er dir diese Gewissheit geben? Ich habe das Gefühl, dass das nicht so ist. Und ich trauere, weil ich auch denke, dass du irgendwie nicht einmal das Jetzige (wenn es noch aktuell ist), die Aufregung und Lust und Leidenschaft, wirklich genießen kannst. Einfach so, ohne schlechtes Gewissen. Weil du niemandem etwas schuldig bist, und weil er alt genug ist, seine Handlungen selbst zu wählen. Aber ich frage mich, ob er sich so viele Gedanken über dich und dein Leben, deine Person, deine Motive und Ziele und Intentionen macht, wie du dir über seine. Und das stimmt mich nachdenklich. Je länger du in Ungewissheit verharrst, versuchst, aus seinen Erzählungen ein Bild zu konstruieren, das positiv ist, und je länger das der Wirklichkeit widerspricht (weil er sich nicht für dich entscheidet), wird dein Leidensdruck größer werden.

Zwar sagst du, es habe sich richtig angefühlt und dass du dir eine Wiederholung wünschst. Aber ist das, was du willst, liebe Anoyme, tatsächlich eine Wiederholung der gewesenen Situation, oder hoffst du nicht vielmehr deshalb darauf, weil du seine Gefühle weiter in deinem Sinne beeinflussen möchtest - oder sie aufdecken, wenn sie schon da sind? Du kannst nicht zufrieden sein, denn du wünschst dir mehr. Und solange er es dir nicht gibt - solange er dir nicht immer mehr gibt, und schließlich sich selbst ganz - wird die Unzufriedenheit früher oder später spürbar werden. Und irgendwann dann auch, wie gehabt, zur Belastung. Und ich hoffe, dass das nicht geschehen wird. Noch stehst du gewissermaßen "auf dem Abstellgleis", bist noch ein Eisen, das er im Feuer hat. Ob er das aus Gründen seiner Befriedigung tut (was weder du noch ich hoffen!), oder, weil du ihm wirklich viel bedeutest und er es sich mit dir nicht verderben will, sei dahingestellt. Trotzdem müssen wir am Ende überlegen, ob du in den Platz in seinem Leben hineinwachsen kannst, den seine Partnerin zurzeit innehat. Genauer: Ob er bereit ist, dir diesen Platz zu gewähren.

"Beziehungsunfähigkeit" ist manchmal nämlich eine sehr bequeme Entschuldigung dafür, wenn jemand für die eigenen Handlungen keine Verantwortung übernehmen will. Sie stellt das, wofür doch jeder selbst die Verantwortung trägt - mit wem man sich trifft, mit wem man schläft, wem man Hoffnungen und Versprechungen eingibt - als etwas Pathologisches, nicht selbst Verschuldetes dar; nach dem Motto: "Es ist nicht so, dass ich meinen Partner betrüge und mit verschiedenen Menschen mein Vergnügen suche - ich bin nun einmal wankelmütig und tue eigentlich nur etwas Gutes, wenn ich auf verschiedenen Hochzeiten tanze und mich für keine entscheide; ich bin ja auf Selbstfindung und lebe mich aus, was besser ist, als mich zu bezwingen. Es ist nicht so, dass ich der Kommunikation mit einem Menschen, der mich liebt und auf eine gemeinsame Zukunft hofft, ausweiche, dass ich lieber mit einem Menschen, den ich kaum kenne, dieses Gespräch führe und ihn damit belaste - schließlich ensteht ja weniger Schaden, wenn ich bleibe, wie ich bin, und alle in Unklarheit zurücklasse." Nein! Denn so ist es eben nicht. Niemand ist heute mehr gezwungen, in einer Beziehung zu leben, die ihn nicht befriedigt oder ihm menschlich nicht entspricht, und auch Monogamie ist heute nicht mehr zwingend. Aber man muss in der Lage sein, sich zu entscheiden, und sich in absehbarer Zeit soweit selbst zu hinterfragen, dass man weiß, was man braucht. Im Augenblick ist dein Schwarm nicht entscheidungswillig, liebe Anonyme. Aber du kannst ihm das nicht abnehmen. Es ist nicht deine Aufgabe, zu deuten und zu verstehen, was er selbst nicht versteht. Du kannst nur den Raum füllen, den er dir freiräumt, indem er Entscheidungen trifft. Du musst ihm nicht helfen, das Chaos in seinem Leben zu ordnen, denn das kann er nur selbst tun. Sicher kannst du ihm deinen Rat und dein Ohr anbieten, aber er muss auch wissen, dass es dir um mehr geht als um einen Akt der Nächstenliebe. Sonst wäre nämlich sehr schnell der Punkt erreicht, an dem deine Selbstlosigkeit und eure Freundschaft tatsächlich in emotionale Auslaugung und "Missbrauch", wie ich es (vielleicht etwas hart) genannt habe, umschlagen. Es ist an dir - so sehr du es derzeit auch genießt - wachsam zu sein und von ihm zu fordern, dass er aus dem, was zwischen euch geschieht, Konsequenzen ziehen muss. Wenn er es nämlich nicht kann, wird er es auch weiter nicht tun; und würdet ihr ein Paar werden, wäre das eine große Hypothek. Das kennst du schon.

Ich bin froh darüber, dass du - wie du sagst - kein schlechtes Gewissen hattest. Und ich weiß ja nicht, ob die Situation, oder Vergleichbares, sich inzwischen wiederholt hat. Wenn ja, so hoffe ich, dass dein unbestimmtes Gefühl sich in Glück verwandelt hat. Dennoch bleibt eines übrig, nämlich, dass es zu dem Zeitpunkt, als du mir geschrieben hast, eben noch kein vollendetes Glück war. Eigentlich kein wirkliches. Denn wieder einmal hat dich dieses Erlebnis in einem Zustand der Unfertigkeit zurückgelassen, emotional wie sozial: Du weißt weder so richtig, was er für dich fühlt, noch, was ihr nun füreinander seid. Man kann zusammen sein, ohne sich tief und innig zu lieben - sogar, ohne sich zu lieben; man kann sich aber auch lieben und keine Form des festen Zusammenseins wählen, weil das beiden besser erscheint. Doch sollte es immer auf gegenseitigem Einverständnis und auf Kommunikation basieren. Ist das bei euch der Fall? In gewisser Weise, ja. Er hat dir sehr offen von seinem Gefühlsleben und von seiner Beziehung erzählt, und er legt Wert darauf, dass du bestimmte Vorurteile über ihn nicht hast. Das zeigt zumindest - und das beruhigt mich - dass er daran interessiert ist, dass es dir mit dem Ganzen emotional gut geht. Am Ende wird er aber trotzdem nicht verhindern können, dir Schmerz zuzufügen - wenn er nicht die Fragen, die er sich stellt, zu einer Antwort entwickelt, die in deinem Sinne ist. Wir müssen uns nichts vormachen: Du willst mit ihm zusammen sein, oder wünschst dir zumindest, dies möge im Raum stehen. Es ist aber unwahrscheinlich, dass du dies von ihm geboten bekommst. Solange er also den Kontakt mit dir als ein Mittel nimmt, sein Seelenleben zu deuten (sei es nun durch Gespräche, sei es durch Sexualität), erzeugt er bei dir eine Erwartungshaltung. Ich möchte ihn nicht als schlechten Menschen hinstellen: Es ist nicht leicht, das nicht zu tun, sich "richtig" zu verhalten, wenn es einem passiert, dass jemand sich in einen verliebt, während das eigene Leben gerade in einer Phase der Unsicherheit und Unklarheit feststeckt. Dennoch könntest du von ihm eine Sicherheit gebrauchen, nämlich, was du für ihn werden könntest, und was nicht. Er hat dir gegenüber (zumindest, soweit du es mir erzählt hast) nicht gesagt, dass er in dir eine potenzielle Partnerin sieht. Das aber war es ja, was du mit der Frage, ob seine jetzige Freundin "die Richtige" sei, eigentlich herausfinden wolltest, oder?

Was hingegen daraus entstanden ist, liebe Anonyme ist, eine sehr fragwürdige Situation: Denn zwar war es richtig von ihm, dir keine Wiederholung zu versprechen und sich dein Bewusstsein bestätigen zu lassen, dass du nicht zu viel darin siehst. Aber dennoch muss er, weil es eben bisher nicht geklärt ist - es ist weniger als vorher klar, was es denn jetzt ist oder werden kann! - irgendwann Farbe bekennen. Und ich denke mir das nicht so sehr darin, dass ihr nicht mehr küsst oder Sex habt, oder was auch immer - es ist eure Entscheidung, ob ihr das miteinander tun wollt, und ob ihr die Konsequenzen tragen möchtet. Ich bin nicht berufen, hier den Moralapostel zu spielen, und ihr wisst selbst um die Probleme einer Affäre für alle Beteiligten - den Betrogenen und die Betrügenden. Wie es auch immer sein mag, habt ihr keine Übereinkunft erzielt, sondern euch einander durch die Blume klargemacht, dass ihr einander begehrt, verliebt seid - du sicher, er "vielleicht irgendwie so ein bisschen" - und dennoch nicht besprochen, wie es denn zwischen euch weitergehen soll. Das macht mir Sorgen. Du kannst seine Affäre werden, du kannst seine Freundin werden, du kannst seine platonische Freundschaft sein - alles hat seine Vorzüge und seine Gefahren. Und ich kann nicht für dich entscheiden, was dir lieber ist. Aber ich möchte dir dennoch raten, liebe Anonyme: Dringe in ihn, dass er sein Leben ordnet, und dass du einen Abstand zwischen dich und ihn bringen wirst, wenn ihm das nicht gelingt. Das muss nicht das Ende eurer Freundschaft bedeuten, wohl aber eine gesunde Menge an Selbstschutz. Das Jetzige tut dir auf Dauer nicht gut, und ihm auch nicht. "Bindungsunfähigkeit" ist entweder eine Aussage, die bedeutet, dass er dir nicht bieten kann, was du dir wünschst. Dann musst du wählen, ob du ihn so sehr begehrst, dass es dir wenigstens eine Affäre wert ist. Oder auch nicht. Oder aber, es ist ein Problem, an dem man arbeiten muss - an dem er mit seiner Partnerin, oder mit dir, arbeiten sollte. Denn wir reden hier nicht von einem unabwendbaren Schicksal, sondern von der rationalen Entscheidung, die eigenen Gedanken und Gelüste zu bezähmen und sich bewusst für etwas Bleibendes zu entscheiden. Eine Beziehung auf Augenhöhe zwischen zwei Menschen, die sich respektieren, und Unsicherheiten in ihren Gefühlen aussprechen, statt sie als schicksalhafte Zeichen zu interpretieren, dass man eben nicht für eine Beziehung gemacht ist. Unsicherheiten gehören dazu. Er hat deine dir gegenüber benannt - kann er die Konsequenzen daraus ziehen? Ich hoffe für euch beide, dass er es kann.

Ich wünsche dir ein wundervolles neues Jahrzehnt, liebe Anonyme! Bleibe die bewusste, zielstrebige, selbstreflektierte junge Frau, als die ich dich kenne! Gehe deine Weg konsequent! Und ich bin gewiss, du wirst dein Glück finden!

Herzlichst, dein Paul.