Problem von Anonym - 25 Jahre

Jede*r ist enttäuscht von mir

Liebes Kummerkasten-Team,

ich habe das Gefühl, eine Enttäuschung für jede Person in meinem Umfeld zu sein. Sei es für meine Familie, meine Freund*innen, meine Lehrenden auf der Uni und meinem Partner. Alles in allem ist mein Selbstwert und auch mein Selbstbewusstsein nahezu nicht existent und es ist mir auch bewusst, das dies die primären Ursachen all meines Übels sind. Ich weiß momentan nicht, an welcher "Baustelle" ich zuerst arbeiten kann, um wieder aus diesem Loch herauszukommen.

Seit einiger Zeit isoliere ich mich von meiner Familie aufgrund meiner emotionalen Instabilität. Ich wohne bei meiner Mutter zuhause und würde das auch gerne weiterführen bis ich zu Ende studiert habe. Allerdings nimmt meine Mutter meinen Rückzug sehr aggressiv auf. Sie meinte, dass meine Familie mir nicht wichtig genug sei, um mit ihr Zeit zu verbringen, dass ich sie alle nicht leiden könne, dass ich eine Anpassungsstörung habe, dass mein aktueller Freund das eigentliche Problem sei usw. Diese Worte verletzen mich noch mehr und sind ein Mitgrund dafür, dass ich versuche auf Distanz zu gehen. Meine Schwester unterstützt meine Mutter und wirft mir vor, dass ich es nicht schätzen würde, was alles meine Mutter für mich tue.

Als ich mich mit diesen Problemen an Freund*innen wandte, bekam ich Unterstützung. Sie meinten ich solle einfach ausziehen, aber als ich das meiner Mutter vorgeschlagen habe, wurde ich von Vorwürfen überschwemmt. Ich habe leider begonnen Treffen abzusagen, da ich das Gefühl habe, dass ich meine Freund*innen nur enttäusche, weil ich an meiner Situation nichts aktiv geändert habe. Natürlich bekam ich zu hören, dass ich unverlässlich sei und bekam kein weiteres Verständnis mehr aufgrund meiner häufigen kurzfristigen Absagen, weil es mir nicht gut ging.

Hinzukommt, dass ich eine etwas problematische Beziehung mit meinem aktuellen Partner führe. Meine Freund*innen, denen ich mich anvertraut habe, sagen alle, ich solle ihn verlassen, da die Beziehung toxisch sei. Ich habe es heute probiert und er hat mich zum Bleiben überredet. Er meinte, er würde an sich arbeiten und ich möchte auch an mir arbeiten, da ich natürlich einsehe, dass ich Mitschuld trage. Als ich meiner besten Freundin mitgeteilt habe, dass ich die Trennung nicht durchziehen konnte, war sie enttäuscht von mir und fragte mich, wieso ich sie dann belaste, wenn ich doch sowieso diese Beziehung fortführen werde.

Es ist selbstredend, dass ich seit einiger Zeit keine Erfolge auf der Uni aufzeigen kann und ich bei allen Aufgaben hinterherhinke. Auch empfinde ich meine Jobs als eine zusätzliche Belastung, in denen ich weiterhin Bestätigung bekomme, dass ich nicht gut genug dafür bin.

Wie kann ich mich für mein Fehlverhalten entschuldigen? Wie kann ich meinen Mitmenschen, die mir viel bedeuten, dazu bringen, dass sie mir verzeihen? Ich respektiere es jederzeit, wenn ich einem Menschen verletzt habe und entschuldige mich sofort. Ich habe Verständnis, wenn jemand mal einen emotionalen Ausbruch hatte. Habe ich es geschafft, bei allen die Nerven zu überstrapazieren? Bin ich ein toxisches Umfeld für andere Menschen? Das sind die Gedanken mit denen ich den ganzen Tag beschäftigt bin und mich lähmen.

Allen voran danke fürs Zuhören!

Nuala Anwort von Nuala

Liebe Unbekannte,

das klingt alles total belastend - nicht nur durch deine gefühlsmäßige und erfahrungstechnische Beeinträchtigung, sondern auch durch die Überlagerung der verschiedenen Ebenen. Mich hat der Eindruck beim Lesen beschlichen, dass du dir zusätzlich zu deinen bereits vorhandenen Herausforderungen viel Druck machst, "liefern" zu müssen. Und das macht naturgemäß alles noch schlimmer. Und - bei aller Achtung vor deinen Mitmenschen - kommst du definitiv zu kurz. Das schreit förmlich aus deinen Zeilen, dass du extrem damit beschäftigt bist, was mit den anderen Leuten lost ist und was du alles falsch machst. Und das ist sehr schädigend, wie ich dir gerne beschreiben möchte.

Ich möchte zunächst auf deine Beschreibung mit deinen Freund:innen eingehen. Ich bin überrascht, dass mit Enttäuschung und sogar Vorwürfen reagiert wurde - das ist meines Erachtens nicht so sonderlich wohlwollend dir gegenüber. Klar, die Person(en) will/wollen nur eine Besserung für dich. Doch Enttäuschung und Angriffe stehen niemandem zu. Du hast Gründe, die dich zum Handeln bzw. Nicht-Handeln bewegt haben. Durch Zerren und Ziehen und falscher Erwartungshaltung wird sich nichts zum Positiven verändern.
Davon abgesehen möchte ich dich ermutigen, dich bei deinen Liebsten zu outen, was deine kurzfristigen Absagen angeht. Es mag dich große Überwindung kosten, deine Lügen zuzugeben. Doch ist die Wahrheit das Heilsamste, was du anstreben kannst. Die auch Erleichterung mit sich bringen kann. Denn nichts ist schlimmer, als zusätzlich zu den schon vorhandenen Problemen noch niederdrückende Geheimnisse mit sich herumschleppen zu müssen.
Ich bin da sehr radikal: Wer sich dir nicht annimmt und deinen Worten nicht lauschen möchte, hat in der Riege von echten Freund:innen nichts zu suchen. Echte Freund:innen sind an dir interessiert, geben dir eine neue Chance und helfen dir, wo sie können.
Allerdings solltest du auch diese Werte vertreten und ausleben. Das kannst du! Lass dich an dieser Stelle, auch bezüglich der Ehrlichkeit, nicht von Scham und Angst hemmen. Sei bitte mutig und gehe auf sie zu. Nur so wirst du die erste Mauer durchbrechen können. - Falls es dir leichter fällt, kannst du auch Briefe schreiben. Diese machen auch einen besonderen Eindruck, zudem kann man sie immer wieder lesen und auf sich wirken lassen.
Dies kannst du analog bei deiner Familie anwenden - ich glaube, du hast sehr lange gewartet und keine Aussprache gehabt. Diese wäre aber sehr hilfreich, um endlich einmal deine Empfindungen verständlich zu machen und deinen Angehörigen zu berichten, was wirklich in dir vorgeht. Sieh es einmal so: Vielleicht sind sie sehr verzweifelt und spekulieren deswegen wild herum, weil sie sich nicht erklären können, weswegen du dich so verhältst! Es wäre fair, ihnen alles zu erzählen. Zumindest soweit, wie es für dich vertretbar ist.

Nun zu deiner Aussage, alle seien enttäuscht von dir. Ich möchte dir eine andere Sichtweise zeigen. Drehe den Spieß einmal um: Du bist eigentlich von dir selbst enttäuscht, was dir deine Mitwelt in verschiedenen Konstellationen zeigt. Denn deine schlechten Gedanken erzeugen entsprechende Gefühle, was sich wiederum auf dein Tun auswirkt. Und das merken alle um dich herum und verhalten sich entsprechend. Folglich wird dir nicht nur in deinem Privatleben, sondern auch in deinem Studium sowie in deinen Jobs gespiegelt, wie unzufrieden du mit dir bist. Erst wenn du dich innerlich aufgerichtet und sortiert hast, wird sich die entsprechende Ordnung und Erfolgsausrichtung in deiner Außenwelt einstellen können.

Du schaust sehr stark nach außen, anstatt ganz bei dir zu sein. Das birgt viele Quellen, sich chronisch unzufrieden und traurig zu machen. Denn wenn man sich selbst verlässt, wird man sozusagen zu einem Spielball für Andere, der alle (scheinbaren) Erwartungen aufnimmt und völlig überfordert damit ist. Doch damit du wieder autonom und ausgeglichen werden kannst, ist es sehr wichtig, dass du dich als wichtigste Person deines Lebens anerkennst und dein Leben strikt danach ausrichtest. Dies darfst du nicht mit Egoismus verwechseln; es geht schlicht und ergreifend um die Orientierung am eigenen "inneren Kompass" mit all den vorhandenen Bedürfnissen, Wesensmerkmalen, Wünschen und Ideen. Natürlich auch Ziele, Visionen, Abneigungen, Vorlieben und vieles mehr.

Du bist ein ganz wundervoller Mensch, der erstens niemandem Rechenschaft ablegen muss und zweitens Grenzen setzen darf. Dies bedeutet, dass dein Wert nicht von deiner Umwelt abhängt, sondern schon immer existiert hat. Und genau so darfst du tagtäglich leben, lieben und handeln!
Genauso darfst du NEIN sagen, wenn du spürst: Hier geht es mir zu weit, hier benötige ich Ruhe, Zeit für mich, exklusive Zeit mit bestimmten Menschen, etc. Auch JA zu sagen ist wesentlich. JA zu dir und deiner Persönlichkeit, die nicht verändert werden muss. Ja zu deinen Eigenheiten. Ja zu deinen Leidenschaften, die für dich typisch sind. Hier kannst du immer wieder neu erfühlen und reflektieren, was dir gefällt, was dir unangenehm ist, was dich weiterbringt, zurückwirft und dergleichen mehr.

Zu deiner Beziehung: Ich kann nicht beurteilen, ob sie toxisch ist. Auffällig ist aber in deiner Darstellung, dass du nicht schreibst, dass DU dich nicht wohlfühlst und das Gefühl hast, sie würde dir nicht gut bekommen. Es ist tatsächlich total nebensächlich, was deine Freund:innen meinen - wenn du dich glücklich mit deinem Partner fühlst und ihr beide gleichberechtigt eure Themen angehen möchtet, sollte es diese Möglichkeiten geben, ohne dass es jemanden etwas angeht.
Ohne Grund werden die Freund:innen allerdings nicht zu solchen drastischen Einschätzungen gelangt sein. Ich kann nur wieder an deinen inneren Kompass appellieren: Wenn du auch nur den Hauch eines schlechten Gefühls in deiner Partnerschaft haben solltest, das in Richtung "Hilfe, ich muss hier weg!" geht, dann horche ganz genau hin! Insbesondere dann, wenn du dich des Öfteren herabgewürdigt, nicht respektiert, missbraucht und sonstwie schlecht behandelt fühlst. Traue deinen Wahrnehmungen, schreibe sie am besten auf. Du bist die Expertin für dich selbst und niemand anderes kann so gut über dich Bescheid wissen wie du selbst!
Zu giftigen Beziehungen kannst du u.a. Videos von Christian Hemschemeier ansehen: https://www.youtube.com/watch?v=52biQCGDKpM&t=63s
Falls du wirklich Schluss machen müsstest, um seelisch nicht unterzugehen, kann ich dir die Unterstützung einer Frauen - oder Paarberatungsstelle ans Herz legen.

Fange irgendwo an, beispielsweise mit der Klärung deiner Beziehungen zu deinen Mitmenschen. Es ist im Grunde nicht so entscheidend, wo und wie du beginnst, Hauptsache du hast Mut und bekennst dich zu deinem wahren Ich. Alles Weitere ergibt sich dann, da kannst du ruhig Vertrauen in den Fluss des Lebens haben.
Ganz generell kann ich dir ein psychologisches Coaching (psychologische Beratung) sehr empfehlen. Da kann gezielt an deinen Themen gearbeitet werden. Falls du auf eigene Faust oder anderweitig vorankommen möchtest, gibt es einige empfehlenswerte Bücher, Videos und (Online)Seminare dazu. Ich verlinke dir einmal eine frühere Zuschrift, in denen du entsprechende Hinweise finden kannst:
* https://mein-kummerkasten.de/331843/Kann-man-die-Liebe-satt-haben.html
Außerdem eine kleine Auswahl an ähnlichen Anliegen zum Weiterlesen:
* https://mein-kummerkasten.de/332251/Selbsthass.html
* https://mein-kummerkasten.de/332274/Vergangenheit.html
Im Archiv des Kummerkastens kannst du noch viele mehr finden.

Ich wünsche dir einen angenehmen Jahreswechsel und ein für dich vielversprechendes Jahr 2020.

Alles Liebe!
Nuala