Problem von Anonymous - 52 Jahre

Wie soll ich weiter vorgehen?

Guten Abend und frohes neues Jahr,

Ich habe mich hier in dem Forum angemeldet, weil ich nicht mehr weiter weiß.

Ich bin 52(w) und unterrichte Englisch in der Sek 2 an einem Gymnasium. 2017 habe ich einen neuen LK bekommen. Die SuS waren alle sehr angenehm und der Kurs relativ ruhig. Nach ein paar Stunden viel mir eine Schülerin jedoch besonders auf. Sie war die ganzen Stunden über sehr ruhig und zurückhaltend. Sie sagte im Unterricht garnichts.

Im Laufe der Zeit bat sie mich um ein Gespräch, was mich sehr überrascht hat. Dennoch hat es mich beruhigt und gefreut,da ich herausfinden wollte, wieso sie in meinem Unterricht so still und abwesend war. Kurz vor dem Gespräch fragte ich eine Kollegin von mir, die mir bestätigte, dass die besagte Schülerin sehr ruhig ist. Ihre Mutter war beim Gespräch dabei. Die Schülerin öffnete sich mir zwar nicht, jedoch konnte ich unbewusst auffangen, dass sie sich in der Stufe sehr unwohl und teilweise gemobbt fühlte. Das Gespräch war jedoch sehr angenehm. Die besagte Schülerin kam mir sehr intelligent, empfindungsfähig und reif vor. Ich fühlte mich in dem Gespräch zu ihr hingezogen und habe sie in diesen 1-2 Stunden sehr ins Herz geschlossen. Ich versprach ihr, ihr bei der mündlichen Beteiligung unter die Arme zu greifen. Ich merkte, dass sie mir sehr dankbar war und mir vertraute.

In den nächsten Wochen wusste ich nicht, was mit mir geschieht. Ich dachte andauernd an diese Schülerin. Ich starrte sie im Unterricht an, ohne es zu merken. Dies war mir sehr peinlich, da ich versuche immer eine Distanz zu meinen Schülerin zu erhalten. Bei dieser Schülerin konnte ich es jedoch nicht. Ich sah, daß sie etwas belastete.

Ich versuchte trotzdem meine Gefühle nicht zu zeigen und ignorierte sie und ihre Situation. Dies tat unglaublich weh und fiel mir schwer.

Als wir auf Studienfahrt fuhren, saß sie im Bus alleine. Bei der Einteilung der Gruppen am ersten Abend sagte ich ihr, dass sie nicht alleine losgehen sollte. Der Kollege, der mich auf der Studienfahrt begleitet hat, fragte sie am Abend wie ihr Tag war und wieso sie so still sei, ob alles okay sei etc. Wir saßen an dem Abend alle zusammen. Sie wirkte sehr abweisend. Als wäre sie woanders. Bei einem Gruppenspiel am gleichen Abend wurde sie von ihren Mitschülern ausgelacht, als sie an der Reihe war. Ich konnte nicht anders, als sie anzustarren. Sie hatte Tränen in den Augen und war kurz davor zu weinen.

Ihre mündliche Mitarbeit würde etwas besser. Trotzdem war sie nicht überragend. Am Tag der Zeugnisvergabe wurden die Zulassungen für das Abitur vergeben. Ich wartete und wartete. Vergeblich. Die besagte Schülerin tauchte nicht auf. Später erfuhr ich, dass sie nicht zugelassen wurde. Natürlich blieb ich neutral, doch innerlich war ich wütend und enttäuscht. Sehr enttäuscht. Sie kam in meinen Unterricht und sagte einfach nichts. Es war offensichtlich, daß sie mir vertraute, da sie meine intensiven Blicke erwiderte. Anscheinend wollte sie mir zeigen, was sie fühlt, konnte es jedoch nicht. Ich wollte ihr doch helfen! Ich hatte manchmal das Gefühl, dass sie alle Menschen als Feind betrachtete. Sie war zwar eine ruhige Person, benutzte jedoch manchmal Sarkasmus,um nicht zu zeigen, wie sehr ihr etwas wehtat.

Ich war sauer, beschloss jedoch mit dieser Situation abzuschließen. Die Stufenleiterin der neuen Q2 war auch außerhalb der Arbeit eine gute Freundin von mir. Nach meinem Gefühlschaos versuchte ich mein Leben wieder so normal zu leben, wie ich es ohne diese Schülerin getan hätte. Mit meinem Partner.

Nach dem Schuljahr erfuhr ich von meiner Kollegin, dass sie die Zulassung zum zweiten Mal nicht bekommen würde. Ich war verwirrt und erstaunt. Ich vertraute mich meiner Kollegin an und erzählte ihr, dass ich mir unglaublich Sorgen um diese Schülerin machen würde. Sie sagte mir, dass sie kurz vor der Notengebung ein Gespräch mit der Schülerin geführt hat und in dem erfuhr, dass sie am Ullrich-Turner Syndrom litt. Sie sei heulend zusammen gebrochen und man hätte sie seit diesem Vorfall nicht mehr in der Schule gesichtet.

Am gleichen Abend informierte ich mich über diesen Gendefekt. Ich verstand nun, wieso meine ehemalige Schülerin kleiner als Gleichaltrige war.

Mich belastet dieser Fall sehr. Sie ist seit April 2019 aus der Schule raus. Ich würde so gerne wissen, wie es ihr geht. Ich habe ihre Email noch. Jedoch weiß ich nicht,wie sie reagieren wird,wenn ich sie anschreibe.

Ich frage mich, ob sie auch an mich denkt. Ich weiß, dass sich das alles sehr skurril anhört.

Ich hoffe, dass mir hier jemand mit meinem Problem helfen kann.

Nuala Anwort von Nuala

Liebe Anonyme,

ich freue mich, dass du dich an den Kummerkasten gewandt hast.
Ganz generell kann ich dir versichern, dass es für mich nicht skurril ist, was du beschreibst. Ich habe einmal etwas Ähnliches erlebt und kenne daher einige Aspekte, die du benannt hast.
Ja, sie denkt bestimmt an dich. So intensive Zeiten mit den dazugehörigen Personen vergisst man nicht so leicht.

Ich kann gut nachempfinden, wie schwer dieser Spagat für dich gewesen sein muss. Es ist heikel, wenn man sich selbst in seiner Professionalität nicht gefährden möchte und dann eventuell eine harte Schale wachsen lässt. Bei dir lese ich da schon ein gewisses Bedauern heraus. Du schreibst auch, dass du wütend bist - hier würde ich dich einladen, das sehr gründlich zu hinterfragen, was genau dich alles wütend gemacht hat und noch immer tut. Was steckt da im Kern dahinter? Was berührt dich daran so sehr?

Es kann sein, dass du dich in deine Schülerin verliebt hast. Das solltest du für dich ganz ehrlich erforschen. Dabei ist auch nichts Verwerfliches!
Solltest du das für dich ausschließen oder eher als unwahrscheinlich einstufen, wäre eine weitere Überlegung die Folgende:
Es gibt einfach Dinge auf dieser Welt, die sind nicht rational zu erklären. Und dazu zählen meines Erachtens spezielle zwischenmenschliche Verbindungen, die etwas Magnetisches haben. Näheres findest du heraus, wenn du in Richtung Seelenpartnerschaft im Internet suchst, ich will das an dieser Stelle nicht weiter ausführen. Du kannst dich da mal unverbindlich umschauen und - hören und abgleichen, ob das deine Situation gut widerspiegelt.

Es kann auch einfach sein, dass diese junge Frau etwas an sich hat, was dich an dich selbst erinnert, an Früher, andere Menschen, bestimmte Wesensmerkmale und so weiter... bei dem Punkt mit dem Anstarren musst du selbst herausfinden, was dabei in dir vorgegangen ist.

Alles in Allem glaube ich, dass du enorm an diesen Erfahrungen wachsen können wirst, weil du viel über dich selbst und dein bisheriges Leben lernen kannst. Intensive menschliche Erlebnisse und Begegnungen kommen nicht von ungefähr, da bin ich mir mittlerweile sicher.

Doch nun zu der pragmatischen Frage, wie du weiter vorgehen solltest. Und da möchte ich dir keine Vorgaben machen. Du allein kannst wissen, was richtig ist - die Antwort kannst du dir selbst geben. Dein Herz wird dich leiten, das ist ebenfalls eine meiner Überzeugungen.
Ich kann dir das zumindest sehr nahelegen, weil pure Verstandesentscheidungen selten zielführend sind und viel kaputtmachen können - so wie es bei euch mehr oder weniger gelaufen ist. Also falls du den Wunsch hättest, Kontakt mit ihr per Mail aufzunehmen, dann solltest du es auch tun. Was kannst du schon verlieren? Sie ist keine Schülerin mehr von dir. Zudem könntet ihr beide davon profitieren. Ihr könntet euch auch jetzt noch gegenseitig Kraft spenden, du könntest dich ggf. bei ihr entschuldigen, wenn du das Bedürfnis danach hättest. Vieles könnte aufgearbeitet und geklärt werden. Allein deswegen wäre es die Kontaktaufnahme wert! Und falls sie das nicht wollen und den Kontakt ablehnen würde, dann hättest du es wenigstens versucht. --> Bereuen entstammt so viel öfter von nicht getanen Sachen als von denen, die man gewagt hat. :)
Und bei wichtigen Personen für eine:n selbst sollten gesellschaftliche Konventionen und Schranken eine sehr niedrige oder gar keine Priorität haben. Denn solange es allen Beteiligten gut geht und das Verhältnis von Wertschätzung und Nähe geprägt ist, ist das etwas Herrliches und nichts, was es zu verstecken gilt.

Übrigens: Solltet ihr bald Kontakt haben, wäre ja eine Option, sie noch für das Nachholen ihres Abiturs zu motivieren und sie dabei zu begleiten. Wenn sie so fit ist, wie du sie einschätzt, würde sie es mit der entsprechenden Ermutigung bestimmt souverän meistern können.

Ich wünsche dir viele spannende Erkenntnisse, Mut zur Innenschau und ein ebenso interessantes neues Jahr!

Herzliche Grüße,
Nuala