Problem von Anonym - 19 Jahre

Perfektionismus in der Freundschaft

Hallo.

Mein Problem geht sehr weit zurück, deswegen wird der Text vermutlich ziemlich lang. Ich hoffe, dass das kein Stress ist. :) (An dieser Stelle vielen Dank, dass ihr die Seite überhaupt betreibt, ich bin gerade echt ein bisschen überfordert und das alles ein bisschen abzubauen fühlt sich gerade echt gut an!)

Erstmal, zum Anfang des Problems: Die Freundschaft mit einer meiner engsten Freundinnen (ich nenne sie einfach mal Z) geht sehr weit zurück. Wir kennen uns im Prinzip seit der Grundschule, waren dann auch auf dem gleichen Gymnasium und dort in der Unterstufe auch in der gleichen Klasse. In der Mittelstufe wurden wir erstmal getrennt, sie fand eine neue Freundesgruppe (im engeren Sinn), ich fand eine neue Freundesgruppe. Trotzdem haben wir unsere Freundschaft aufrechterhalten und sind immernoch echt gut befreundet. Für eine kurze Zeit hatte ich auch mal viel mit Einigen zu tun, mit denen Z sehr gut befreundet war, aber das war eher kurzfristig. Der Grund dafür hört sich jetzt echt blöd von mir an, und ich will wirklich, wirklich ihre Freundesgruppe nicht bashen oder runtermachen, aber es war insgesamt kein Geheimnis, dass es intern in dieser Gruppe einiges an Stress gab, vor allem als wir in der Oberstufe waren: In der "Clique", in der Z auch drin war, ging es viel um Noten, um Konkurrenz und um das "Bessersein" als andere (selbst als eigene Freunde!). Es gab ziemlich viel Stress, jeder wollte gut sein, vor allem besser als die anderen; und es gab eben einige, die das geschafft haben - oder zumindest einige, die das Selbstbewusstsein hatten, sich als gut und schlau zu präsentieren und jegliche Kritik an sich abprallen zu lassen.
Gerade in der Oberstufe war mir das ein bisschen zu stressig und ich habe mich wieder mehr von dieser Gruppe entfernt, weil ich diese Konkurrenz nicht wirklich ertragen konnte. Auf Z hatte das allerdings einen ziemlichen Eindruck, und da sie die ganzen Leute sowieso besser und länger kannte, war sie schon fester Bestandteil der Gruppe und ganz allgemein von der Vorstellung Gute Noten = Anerkennung überzeugt.
Soviel zur Vorgeschichte. Jetzt sind wir beide an der Uni; an derselben Uni und im selben Studiengang. Nicht das ich das per se als Problem empfinde, sie ist ja trotzdem eine sehr gute Freundin von mir und es könnte alles kein Problem sein.
Nur ist mir nie wirklich aufgefallen, wie sehr sie wirklich diesen Perfektionismus verinnerlicht hat; wie viel gute Noten für sie wirklich bedeuten - beziehungsweise, was es bedeutet "nicht gut (genug)" zu sein, und dass "nicht gut genuge" Noten auch gleichzeitig bedeuten, dass sie selbst als Person "nicht gut genug" ist. Ich fühle mich wie eine schlechte Freundin (auch wenn das erstmal ein anderes Problem ist, es geht mir wirklich erstmal um sie), weil ich nicht schon früher erkannt habe, wie unselbstbewusst sie ist, wie sehr sie an sich selbst und ihren Fähigkeiten zweifelt und wie sehr sie unbedingt gut sein will. Der springende Punkt ist, da ihre Freundesgruppe aus Schulzeiten jetzt alle andere Studiengänge verfolgen, fehlt ihr der Vergleich - und als Ersatz muss jetzt ich herhalten.
Ich fühle mich, als ob ich nochmal klarstellen muss, dass es mir nicht darumgeht, sie runterzumachen. Im Gegenteil, ich will ja versuchen ihr zu helfen, aber ich weiß einfach nicht wie. Gerade dadurch, dass es nicht nur dieses perfektionistische Streben nach einem bestimmten Notendurchschnitt ist, sondern dazu eben noch diese ständige Angst, sie könnte abgehängt werden, oder, dass sie nicht gut genug sei, und das fehlende Selbstbewusstsein, dass sie dazu bringt ihre Ängste zu glauben und ihre Ziele als sowieso von ihr unerreichbar darstellt. Das führt dazu, dass sie die Lösungen von anderen Leuten grundsätzlich eher akzeptiert als ihre eigenen - und zwar in jeglichen Fragen.
Bei der Stundenplanerstellung hat sie auf für sie wichtige Kriterien geachtet, ich auf Kriterien die mir wichtig waren. Als sie meinen Stundenplan gesehen hatte, hat sie ihren stante pede umgeworfen und genau meine Kurskombination übernommen, damit wir auf dem gleichen Stand sind. Vor der Uni hab ich mir noch nicht so viel dabei gedacht, aber rückblickend geht sie immer nach diesem Schema vor, und vor allem jetzt in der Klausurenphase wird das besonders deutlich.
Z meinte von sich aus, sie lerne besser daheim. Ich war es von meiner Schulzeit gewohnt, in die Bibliothek zum lernen zu gehen. Z kommt jetzt auch immer in die Bibliothek, wenn ich da bin.
Wenn wir in der Bib dann Aufgaben machen, dann ist sie manchmal schneller fertig als ich. Sie schaut dann auf mein Blatt, während ich die Aufgaben fertig mache, und bevor wir es auch nur ansatzweise diskutieren und bevor ich mir über meine Lösung Gedanken machen kann oder ihre Lösung auch nur fertig anschauen kann, radiert sie sie weg und übernimmt meine.
In den Kursen ist es das gleiche - wir kriegen manchmal eine Art "Hausaufgabe", zu Beginn der nächsten Sitzung wird die Lösung aufgelegt. Wenn wir in dem Raum ankommen, und ich meine Sachen auspacke und auf den Tisch lege, schaut sie immer meine Aufgaben an, vergleicht sie mit ihren, und übernimmt jegliche Lösungen, die sie anders hat, auf meine - obwohl ich es ja auch meist nicht besser weiß und die "richtige" Lösung vom Dozenten ja sowieso in maximal 10 Minuten aufgelegt wird.
Beim Mitschreiben überprüft sie nach jedem Absatz, ob ich Zusatzinformatione, oder insgesamt irgendwas anderes, habe und übernimmt diese, egal was es ist.
Kurze Zwischeninfo: Ich bin immer dabei, wenn man Notizen mit Mitstudenten vergleicht; es ist ja nicht möglich alles immer mitzubekommen oder alles richtig zu haben. Aber es sind wirklich die kleinsten Sachen; auch synonyme Wörter, die sie dann zu meinen ändert, damit wir wirklich alles gleich haben?? Aber ich weiß ja auch nicht, ob meines stimmt. Im Gegenteil, ich bin ja auch nur ein Mensch, und ich weiß, dass meine Aufzeichnungen oder Aufgaben nicht immer am korrektesten sind, noch weniger das Maß aller Dinge.
Das schlimme ist, sie weiß und sagt offen, dass sie perfekt sein will und dass sie sich mit anderen vergleicht, damit sie nicht abgehängt wird. Aber sie sieht das als etwas gutes an, als ein Zeichen harter Arbeit und Durchhaltevermögens und einfach generell als Bestätigung "ihres Wertes". Und wenn man sie daraufhin weißt, dass es okay ist, Fehler zu machen, oder Zeit zu brauchen um etwas zu verstehen, dann nimmt sie das als negative Kritik auf; ähnlich, als ob sie gerade auf höchste beleidigt hätte. Sie weiß, dass es einen Unterschied zwischen ungesundem Perfektionismus und gesundem Streben nach guten Noten gibt, und schlimmer noch, sie weiß, dass sie perfektionistisch ist, aber sie will es gar nicht ändern, und sie will erst recht nicht drüber reden.
Für mich hat das eine ganz schöne Macke in unserer Freundschaft hinterlassen, weil das Thema "gut sein" extremst, extremst dominant geworden ist. Ich weiß nicht mal, wann wir das letzte Mal über etwas geredet haben, dass nicht so oder anders mit der Uni und Noten zusammenhing. (Vielleicht vor einem Jahr??)
Ich will das ja irgendwie ändern, aber es geht einfach nicht, weil das Thema automatisch darauf zurückfällt. Und dadurch, dass wir alle Kurse jetzt auch noch gemeinsam belegen (siehe Stundenplan), ist das Thema Unizeug quasi omnipräsent. Ich hatte gehofft, dass es vielleicht im Laufe des ersten Semesters besser wird, aber es ist immer schlimmer geworden, da sie den Druck immer weiter auf mich überträgt, da sie sich und ihre Arbeiten in der Uni immer und ständig mit mir vergleicht, und das stresst mich, weil ich mich nicht mit ihr vergleichen will, aber ich weiß nicht wie ich das stoppen kann? Ich will mich ja irgendwie auch nicht von ihr distanzieren - a) weil es ihr offensichtlich mental nicht gut geht und sie sich und alles was sie macht ständig runterzieht und ich ihr da schon helfen will, und b) weil wir ja eigentlich so gut befreundet waren??
Ah, ich rede so viel und ich weiß nicht mal ob mein Problem irgendwie verständlich ist. Ich weiß selbst nicht mal, was konkret das Problem ist, es sind einfach so viele Sachen die zusammenspielen.
Sie will gut - sehr gut, am besten - sein, aber sie ist überzeugt, dass sie es selbst nicht kann. Deswegen stützt sie sich immer mehr auf mich und was auch immer ich mache, und setzt sich - und mich in gewissen Graden - dadurch extremst unter Druck und das stresst mich - und sie selbst - übelst. Es ist als ob sie die Welt gar nicht mehr realistisch war nimmt, als ob sie immer, wenn sie jemanden sieht, einen Vergleich vornimmt, nach dem Motto "Kann ich besser sein als diese Person? Ich muss besser sein als diese Person". Es ist wie damals in der Oberstufe diese eine Clique, nur, dass es damals so war, dass jeder diese Haltung vertreten hatte und jeder konkurriert hat und das in gewisser Maßen die Basis der "Freundschaft" bei ihnen war. Nur treffen Konkurrenz und Vergleich erstmal in großer Linie nur noch mich, und ich will das nicht, aber für sie ist das quasi alles, was sie ist.
Habt ihr irgendeinen Rat für mich? :( Ich weiß nicht, ob es okay ist zu sagen ich distanziere mich, weil es mich belastet und ich nicht damit umgehen kann, wenn sie mich jetzt in das Zentrum ihres Perfektionismus stellt. Für sie ist klar: Eigentlich 1,0. Das wäre so das Hauptziel. Wenn nicht, dann muss es aber überdurchschnittlich sein. Und das Maß der Dinge - das Objekt des Vergleichs sozusagen - bin in ihrem Fall halt ich geworden, was mir absolut nicht recht ist, aber für sie ist es normal, sich mit Freunden zu vergleichen, und in dem Studiengang sind wir halt die, die uns am besten kennen und mit denen wir eigentlich am engsten befreundet sind.
Oder ob es meine Pflicht als Freundin ist, dem standzuhalten und ihr zu helfen, zu lernen, sich selbst zu lieben und mit sich selbst zufrieden und im Frieden zu sein? Ich fühle mich so, als ob das die richtige Wahl ist, aber ich weiß absolut nicht mehr weiter, weil durch Reden scheint es einfach nicht zu klappen. Ich will ihr ja helfen, aber ich weiß beim besten Willen nicht, ob ich das kann. Ich bin ja auch nur ein Mensch. Aber mich zu distanzieren, das würde ja heißen sie quasi mit ihren Problemen alleine zu lassen?
Argh, ich weiß auch nicht. Ich muss irgendwann mal einen Schlusspunkt finden, und ich hoffe wirklich, dass das alles irgendwie einen Sinn ergeben hat.
Vielen vielen Dank fürs Durchlesen und dem damit Beschäftigen schonmal im Voraus!! Wirklich, danke!

Nuala Anwort von Nuala

Hallo du!

Ich habe lange hin - und herüberlegt und verschiedene Aspekte näher beleuchtet, die mit deinem Problem zusammenhängen. Letztlich komme ich zu dem Ergebnis, dass es eine recht simple Lösung geben kann, die ich auch in wenigen Worten auf den Punkt bringen möchte. Die Frage ist aber, ob du meinen Lösungsvorschlag für dich annehmen kannst und willst.

Vorweg: Deine gute Intention ist sehr offensichtlich. Ich finde es natürlich wunderbar, dass du eine "vorbildliche" Freundin sein möchtest. Dagegen ist natürlich rein gar nichts einzuwenden.

Aber: Hier stehst du an einem Punkt, der einem ganz wesentlichen Grundkitt einer Freund:innenschaft zuwiderläuft: Es ist einseitig. Und zwar völlig einseitig. Nicht nur bezüglich des "Ich will eine gute Freundin sein und ein offenes Ohr haben", sondern auch hinsichtlich des grundsätzlichen zwischenmenschlichen Interesses und des gegenseitigen Respekts. Davon lese ich in deiner Beschreibung nämlich nichts.
Kurz: Deine frühere Freundin kann sich aktuell nicht auf das einlassen, was dir so wichtig ist. Sie steht völlig neben sich - sie hat sich selbst verlassen und hechelt rein äußerlichen, äußerst fragwürdigen Idealen hinterher, mit denen sie zu 100% ins Unglück galoppieren wird. Doch wieder ein Aber: Das_ist_nicht_deine_Baustelle! Das musst du sehr deutlich von dir trennen. Du bist nicht ihre Erziehungsberechtigte, noch ein Teil von ihr. Sie allein ist für sich selbst verantwortlich.

Gerade fungierst du als ihre Krücke, indem du das Spiel mitspielst. Doch die Krücke verhindert eine langfristige Emanzipation! Wie soll dieser Mensch eigenständig laufen lernen, wenn er sich permanent aufstützt?! Und damit meine ich, dass sie ihre eigenen Erfahrungen machen und aus (schmerzlichen) Situationen lernen muss. So wie jeder andere Mensch auch. Wenn du beginnst, sie nicht mehr zu schonen, sondern ihr ihre Verantwortung zurückzugeben, kann wahrer Respekt und wahre Augenhöhe einsetzen.

Zudem vergisst du dich selbst in dem Ganzen. Also: Konzentration auf dich, lerne Grenzen zu ziehen und auf deine eigenen Bedürfnisse zu hören. Lass dich nicht weichkochen, manipulieren und verunsichern. Du spürst ja, dass es so, wie es nun geworden ist, jenseits von Gut und Böse ist. Es wird höchste Zeit, dass du wieder bei dir selbst ankommst und dich allmählich daran gewöhnst, dass du nicht das haben kannst, was du dir erhoffst: Deine alte Freundin.

Die guten alten Zeiten kannst du ja trotzdem in würdiger Erinnerung in dir tragen. Und auch für die Zukunft spricht nichts gegen eine (erneute) Freundinnenschaft mit diesem Menschen - nur ist die Gegenwart eben nicht so, wie es einer echten Freundinnenschaft gebührt. Und auch das sollte als Gegebenheit anerkannt werden.
Du kannst ihr das ja alles deutlich kommunizieren - doch erwarte nicht, dass sie darauf hört. Entscheidend ist deine innere Haltung, dein Wille. Und das wird sie fühlen.
Du kannst sie auf die Möglichkeiten der psychosozialen Beratung für Studierende hinweisen. Viele Unis bieten das an. Darüber hinaus gibt es vielfältige andere Beratungsformate. Vielleicht könntest du sie auch begleiten - das solltest du dann gut abwägen und dich selbst nicht hinten anstellen.

Hier habe ich noch einen Artikel für dich, der thematisiert, wie "natürlich" es sein kann, dass sie Freund:innenschaften eines Tages verflüchtigen: https://www.faz.net/aktuell/stil/leib-seele/ich-du-er-sie-es/freundschaft-am-ende-wir-haben-uns-nichts-mehr-zu-sagen-16579078.html
Dazu findest du im Netz und in Büchern noch viel mehr. Ich könnte mir vorstellen, dass dir diese Meta-Auseinandersetzung damit helfen könnte, allmählich loslassen zu lernen und eine ggf. neue Vorstellung von einer für dich passenden Freundinnenschaft zu entwickeln. Wir haben hier im Archiv des Kummerkasten auch noch etliche Beiträge rund um Selbstliebe, Selbstwert, Freund:innenschaft, etc. Da kannst du also ruhig noch stöbern und weitere Lesetipps und Input erhalten.

Ich wünsche dir alles Gute.
Nuala