Problem von Lea - 21 Jahre

Sexuelle Übergriffe in der Kindheit

Ich bin mir bewusst, dass mein Text, sofern ich eine Antwort erhalte, veröffentlicht wird. Daher möchte ich vorab die Warnung aussprechen, dass ich hier sexuelle Handlungen unter Kindern schildere. Dies ist für mich persönlich wichtig, um die Erinnerungen einfach ein mal loszuwerden. Wer sensibel auf das Thema reagiert, sollte den Text aber bitte nicht lesen.

Vor etwa einem Jahr sind plötzlich Erinnerungen hochgekommen, die ich zwar vorher nicht total verdrängt oder vergessen, aber einfach ausgeblendet hatte. Diese verfolgen mich immer wieder und auch wenn ich sie gefühlt eine Million mal analysiert habe und mir klar ist, wie ich darüber (rational betrachtet) denken SOLLTE - sie werfen mich einfach immer wieder aus der Bahn.

Es geht darum, dass ich im Alter von etwa 4-6 Jahren (so ganz genau weiß ich es nicht) immer wieder sexuelle Übergriffe durch meinen 1,5 Jahre älteren Bruder erlebt habe. Eine Erinnerung ist, wie ich auf der Schaukel saß und mein Bruder sich vor mir auf die Schaukel gestellt und mich gezwungen hat, sein Geschlechtsteil in den Mund zu nehmen, da er mich sonst nicht gehen lies. Dies passierte immer wieder und ich kann mich daran erinnern, dass diese Situationen extrem falsch angefühlt haben und für mich von Schuld, Scham und Angst geprägt waren. Mein Bruder hat auch abseits von sexuellen Übergriffen immer wieder seine Machtposition mir gegenüber durch psychische und physische Gewalt deutlich gemacht.
Eine andere sehr klare Erinnerung ist die, wie er mich im Zuge von Vater-Mutter-Kind-Spielen auf den Boden gedrückt und versucht hat, mich vaginal und anal zu penetrieren. Auch hier hatte ich große Scham- und Schuldgefühle und hatte riesige Angst, dass das jemand mitbekommen könnte.
Diese Schuldgefühle haben dazu geführt, dass ich angefangen habe, mir als Art Bestrafung im Intimbereich gezielt Schmerzen zuzufügen.

Das Ding ist: ich weiß, dass meinen Bruder keine Schuld treffen kann. Er war selbst noch ein Kind und hat das sicher nicht aus reiner Boshaftigkeit getan. Ich arbeite selbst in einer Kita und habe viel über die kindliche Psychologie gelernt. Er wird wohl selbst irgendein Problem gehabt haben, denn aus dem Nichts treten solche Verhaltensweisen ja eigentlich nicht auf und unsere Familie hatte generell viele Probleme. Daher kann ich ihm nicht böse sein.

Aber das ist auch irgendwie das Problem. Ich habe das Gefühl, dass es leichter für mich wäre, wenn ich denjenigen, der mir diese schmerzhaften Erinnerungen zugefügt hat, einfach hassen könnte, ohne differenzieren zu müssen. Ich habe so viele Emotionen aufgestaut und habe das Gefühl nicht abschließen zu können, ohne sie am Schuldigen zumindest gedanklich rauslassen zu können. Aber ohne Schuldigen gestaltet sich das schwierig.

Zudem haben mein Bruder und ich eigentlich eine sehr gute Beziehung zueinander. Wir haben immer sehr viel Spaß gemeinsam und auch wenn wir beide überhaupt nicht der Typ dafür sind, können wir mittlerweile auch ab und an über emotionale Themen sprechen. Aber das Thema könnte ich unmöglich ansprechen. Meist blende ich es komplett aus, wenn wir zusammen sind, aber manchmal schießt es mir plötzlich in den Kopf und ich weiß nicht, was ich denken soll. Mich umgibt dann immer eine Art Wolke aus Verunsicherung und Hilflosigkeit und ich fühle mich darin so verloren.

Ich denke mir oft, dass ich diese Erinnerungen einfach hinter mir lassen sollte, da es nichts bringt, darüber zu grübeln und meine Erfahrungen im Vergleich zu dem was andere durchgemacht haben auch recht harmlos sind. Aber der Schmerz geht einfach trotzdem nicht weg.

Ich bin seit 3 Jahren in einer glücklichen Beziehung, aber habe Angst, dass mein Freund meinen Bruder mit anderen Augen sieht, wenn ich ihm davon erzähle. Vor kurzem habe ich meine Psychotherapie, die ich 1,5 Jahre gemacht hatte, freiwillig beendet, da ich mittlerweile auf einem guten Weg bin. Nur über dieses eine Thema habe ich mich nie getraut zu sprechen. Ich weiß, dass der Gedanke extrem absurd ist, aber ich habe irgendwie Angst, dass man sich vor mir ekelt wenn ich davon erzähle und denkt ich sei zu hässlich um sexuelle Übergriffe zu erleben. Auch wenn ich damals ein Kind war und mir absolut bewusst ist, dass das nichts damit zu tun hat, bleibt der Gedanke. Ich kann auch jetzt noch zu meinem Therapeuten, aber es fühlt sich unpassend an, aus dem Nichts mit so einem Thema anzukommen. Ich würde lieber mit jemand anderem sprechen, aber weiß nicht so wirklich mit wem. Und bei Beratungsstellen für Opfer von sexueller Gewalt habe ich das Gefühl, dass ich fehl am Platz bin, da es schon so lange her ist und ich gar nicht so recht weiß was ich wi.

Im Endeffekt weiß ich also, dass es wahrscheinlich einfach das schlauste wäre, mit meinem Therapeuten darüber zu sprechen aber diese Hürde zu überwinden kriege ich jetzt schon seit ca. nem Jahr einfach nicht hin und es wird einfach immer schwieriger und schwieriger.

Was ich jetzt für eine Antwort erwarte weiß ich auch nicht genau, aber da fremder Input häufig hilfreich sein kann und das Gefühl, dass sich jemand anderes mit dem Problem auseinandersetzt schon gut tut, wird es nicht das Schlechteste sein.

Ich bedanke mich im Voraus für die Antwort und die darin investierte Zeit.

Nuala Anwort von Nuala

Liebe Lea,

ich danke dir sehr für dein Vertrauen, das du uns entgegenbringst. Auch dafür, dass du die Triggerwarnung an den Anfang des Textes gestellt hast.
Ich glaube, es ist wichtig, dass der Text jetzt in dieser Form hier so stehen bleiben darf. Und ich verstehe, dass es für dich sehr bedeutsam war, das alles einmal konkret benennen zu können.

Du hast sehr schlimme sexualisierte Gewalt erlebt. Objektiv betrachtet und natürlich ganz subjektiv - damit will ich sagen: Niemandem steht es zu, etwas als "weniger schlimm", "weniger wichtig" zu bezeichnen, wenn es für die Betroffenen ganz klar schreckliche und z.T. schwer traumatische Erlebnisse gewesen sind. Selbst wenn du ganz andere Dinge erlebt hättest, die man gemeinhin als "harmlos" annehmen würde (auf den Fuß getreten, Kaugummiblase ins Gesicht bekommen, zum unpassenden Zeitpunkt ins Bad gestürmt, etc.pp.) und dich das noch Jahr später belasten würde, wäre das einfach Fakt und müsste als Beeinträchtigung akzeptiert werden.

Es ist sicherlich ein sehr verwirrender Zustand für dich, dass du deinen Bruder eigentlich so gern hast und ihr aktuell ein gutes Verhältnis zueinander habt. Das erschwert es einerseits, denn wie du schreibst, ist da irgendwo das Bedürfnis des Hasses. Andererseits ist eine gute Beziehung immer eine Ressource, mit der man arbeiten kann. Zudem ist Hassen oder auch pure Aggression keine dienliche Handlung, sondern kann das Gefühl von Ohnmacht, einen möglichen Rachewunsch und vielleicht auch Resignation verstärken. Das ist also keine sinnvolle Perspektive. Jedoch nicht zu verwechseln mit dem Zulassen der "dunklen" Gedanken und Gefühle! Das Gefühl der Wut darf selbstverständlich da sein und muss auch herausgelassen werden, um eine Veränderung zu bewirken!
Dir ist Unrecht geschehen, was dich in eine furchtbare Situation gebracht hat. Es sind sozusagen verschiedene Ebenen, um die es hier geht. Du darfst deinen Bruder für das damals verabscheuen, aber du darfst ihn gleichzeitig auch lieben und achten. Das ist kein Widerspruch. Dein Bruder ist nicht das Böse, so wie du es ja auch schon erkannt hast. Er ist auch nicht die Handlung. Es sind Dinge, die abgeschlossen, also nicht mehr zu ändern sind, aber dennoch eine große Wirkung auf die Gegenwart haben. Und darum geht es. Es geht nicht darum, deinen Bruder zu dämonisieren oder die Beziehung zu ihm zu sabotieren. Doch das, was dich so quält, muss gesehen und beachtet werden. Es ist nicht grundlos immer wieder in dir aufgestiegen. Es möchte aufgearbeitet werden. Es kann dich ungemein befreien, wenn du dich bewusst für die Aufarbeitung entscheidest.

Mir fällt auf, dass du sehr stark versuchst, deine Erlebnisse mit dem Kopf zu bearbeiten. Das kann aber nicht funktionieren. Es wird erst durch den Weg der Gefühle und tief verborgenen Erinnerungen klappen, dass du einen dauerhaft guten und befriedigenden Umgang mit der damaligen Gewalt entwickeln kannst. Es ist keinesfalls ratsam, es zu verdrängen, herunterzuspielen oder hintenanzustellen. Deine Seele wird solange rebellieren, bis du dich hingibst - dich dem Schmerz bewusst hingibst. Erst wenn du bereit bist, deine eigene Hölle zu betreten und dir dabei das größte Vertrauen zu schenken, das du aufbringen kannst, wirst du am Ende an das Licht treten und tief ein-und ausatmen können.

Es gibt auch nicht DIE Art, mit bestimmen Erlebnissen umzugehen oder über sie zu denken. Du scheinst dich damit eher zu blockieren, anstatt einfach zu akzeptieren, dass du als Individuum Lea anders fühlst als deine Nachbarin, dein Freund oder dein Vater. Jeder Mensch reagiert auf seine spezielle Weise auf Dinge, auch wenn es bei Gewalt schon häufige und typische Reaktionen gibt, wie du sie ja auch beschreibst (Scham, Schuldgefühl, Autoaggression...). Aber glaube bitte nicht, dass es einen bestimmten Umgang gibt, den du jetzt nicht hast, der jedoch eigentlich der einzig wahre ist. Jede:r Betroffene kann sich einen einzigartigen Umgang mit dem Erlebten erarbeiten und gemäß der verschiedenen Bedürfnisse und Gegebenheiten umsetzen. --> Du kannst getrost deiner leisen inneren Stimme lauschen, anstatt dich in Grübeleien und kognitiven Strategien zu verheddern. - Natürlich kann man sich auch "geistige" Werkzeuge zunutze machen, wenn man sie begleitet durch Coaching oder Psychotherapie erlernt und in Kombination mit nicht-geistigen Methoden anwendet. Aber für sich im stillen Kämmerlein mit dem herkömmlichen Verstand etwas zu zähmen, was so viel tiefer geht, kann nicht die Lösung sein.

Ich denke, perspektivisch wäre die Konfrontation mit deinem Bruder das Heilsamste - nur sollte das mit Bedacht vorbereitet und mit einigen vertrauten Personen flankiert werden. Nicht unbedingt im Sinne von Anwesenheit in dem Moment, aber dass du sie im Hintergrund wüsstest und damit einen Kreis von Vertrauten im Privaten und Therapeutischen um dich hättest.
Ich kenne eine ähnliche Geschichte, bei der das eine Geschwister einen Brief verfasst hatte. Allein das hat sehr viel lösen können - natürlich bleiben die Erinnerungen bestehen. Aber es kann sich eine Erleichterung einstellen. Und das Gefühl, selbstwirksam zu sein, sich helfen und damit befreien zu können. Es kann der Beginn von weiteren Annäherungen an den Konflikt darstellen.

Mein Vorschlag: Lasse dich einmal unverbindlich in einer einschlägigen Beratungsstelle beraten, um einen Gesamtüberblick und zu deinen Optionen zu bekommen. Auch was deine Therapie und weitere Schritte betrifft.
Übrigens geht es einigen so, dass sie besonders diese sehr "extremen" Bereiche ihrer Vergangenheit nicht oder kaum aussprechen können, auch wenn sie sich schon länger in Therapie befinden. Es ist nun mal kein Pappenstiel und psychisch extrem energieraubend. Das darfst du auch so anerkennen.

Eine Idee wäre, dass du mit deinem Freund beginnst und im Gespräch mit ihm übst, dich zu offenbaren. In einer vertrauensvollen Partnerschaft ist das etwas, was seinen Platz findet und dort gut aufgehoben ist. Bitte lasse dich da nicht von Zweifeln und Ängsten leiten, sondern gehe danach, was dich psychisch entlastet. Und dein Freund sollte zumindest in Ansätzen erfahren, dass du Gewalt erlebt hattest und diese dich schwer mitnehmen. Verheimlichen ist nur wieder so etwas Auszehrendes, Niederdrückendes, was der Partnerschaft sogar sehr schaden kann. Stelle es dir wie eine dunkle Wolke vor, die über allem schwebt. Diese muss sozusagen einmal heftig abregnen, um dann wieder die Sonne durchzulassen.

Eine Sache möchte ich noch betonen: Sexualisierte Gewalt hat nichts mit der Optik des betroffenen Menschen zutun. Das ist ganz wichtig, dass du dir das vor Augen führst. So wie du niemals Schuld an der Gewalt hattest und es auch Nebensache ist, wie lange das Ganze zurückliegt, hatte und hat dein Aussehen auch keine Relevanz in dem Ganzen.
Den Gedanken wirst du zwar nicht mal eben verscheuchen können, das wäre sicherlich auch Aufgabe innerhalb deiner Therapie, die Hintergründe zu beleuchten und zu schauen, wie sich dieses Denken etablieren konnte. Vielleicht genügt es zuvor aber schon, wenn du ihn sanft, aber bestimmt als Illusion betitelst, sobald er wieder auftritt. --> Es gibt da ein nützliches Arbeitsbuch, das könnte etwas für dich sein: "Mind over mood" oder auf Deutsch "Gedanken verändern Gefühle" von Greenberger und Padesky.

Wenn du ein sehr gutes Verhältnis zu deinem Therapeuten hast, was ja auch u.a. die Basis für eine gelingende Therapie ist, fehlt dir sozusagen nur noch das Quäntchen Mut, um das Paket auf den Tisch zu legen. Und das ist zwar ein großer Akt, weil du dich schon so oft davor gedrückt hast und es gleichzeitig gerne tun würdest, wie es auf mich zumindest wirkt. Aber es ist wenigstens klar umrissen: Ansprechen und dann sehen, was daraus wird. Hier kann eben ein vorbereitendes Gespräch mit anderen Fachpersonen, z.B. in einer Beratungsstelle, nützlich und ermutigend sein.
Du kannst dich auch an die folgenden Einrichtungen wenden, vielleicht wäre das vorerst ein Kompromiss zwischen direkter Offenbarung und dem Schutzbedürfnis, das du vielleicht hast. Also zunächst neben dem Kummerkasten andere Online - und Telefonangebote wahrzunehmen. Hier auf der Startseite steht ja auch noch die Nummer der Telefonseelsorge.

- https://www.hilfetelefon.de/
- https://weisser-ring.de/praevention/tipps/vergewaltigung
- https://wildwasser.de/ (mit Forum)

Ich hoffe sehr, dass du etwas für dich aus meinen Überlegungen ziehen kannst. In jedem Fall wünsche ich dir sehr viel Kraft für den Mut, den du wahrscheinlich aufbauen müsstest. Und auch allgemein wünsche ich dir, dass du es wagen können wirst, dich zu öffnen und dir die professionelle Hilfe zugestehst. - Ich bzw. auch die anderen Mitglieder des Kummerkastenteams bin/sind gerne wieder für dich da, wenn du dir wieder etwas von der Seele schreiben möchtest. Dies kannst du auch ganz für dich tun - Tagebuch schreiben, Briefe an dich selbst schreiben usw. Vielleicht kannst du auch eine Brieffreund:innenschaft aufbauen, in welcher der Raum für intensiven emotionalen Austausch gegeben ist. Also: Gehe die Schritte, die du schon ahnst, lasse deinen Verstand mal außen vor, erfühle dein Ich und hole dir deine innere Stärke hervor. Du hast sie! :)

Alles Liebe,
Nuala