Problem von Anonym - 26 Jahre

Ich kann meinem Vater nicht verzeihen

Meine beiden Eltern waren/sind Zeugen Jehovas. Ich und meine Geschwister wurden bis zu meinem 13. Lebensjahr entsprechend aufgezogen (mein soziales Leben war eingeschränkt, weil halt vieles verboten war). Antreibende Kraft war eher mein Vater. Er war sehr streng und oftmals mit vielen Situationen als Vater überfordert, sodass er viele Male überreagierte. Ich musste als Kind mit ansehen, wie er meine Schwester, meinen Bruder und auch meine Mutter zusammenschlug oder wie er sich selbst verletzte, weil er sich nicht unter Kontrolle hatte. Er hat unter anderem ein Alkoholproblem. Ich bin glücklich davon gekommen, weil ich immer gespurt habe und auch der jüngste war, trotzdem stand ich oftmals hilflos daneben.
Mein Vater ist ausgezogen als ich 13 war. Er meinte zu mir, er sei absofort nicht mehr mein Vater, eher ein Kumpel, der für ihn da ist. Als Teenager verstand ich die Welt nicht mehr. Wieso sagt man sowas zu seinem Sohn, wenn die Eltern sich trennen? Vermutlich wollte er die Situation etwas lockern.
Er veränderte sich, zog in eine andere Stadt und wurde wesentlich ruhiger und ausgeglichener. Er war zwar für mich da, jedoch ging es letztendlich immer nur um ihm. Gesehen habe ich ihn in den letzten 13 Jahren geschätzt zehn Mal, wir telefonierten jedoch öfters. In diesen Telefonaten ging es überwiegend um ihn und wie unzufrieden er doch immer mit allem ist.
Ich hatte immer Probleme damit, einen festen beruflichen Weg einzuschlagen. Mein Vater hat an jeder Inspiration und Idee, dich ich hatte, gezweifelt. "Was? Du willst dein Abitur nachholen? Wozu? Du bist nicht der Typ dafür!"
Egal, welchen Berufswunsch ich auch äußerte, er hatte immer eine Geschichte von Bekannten parat, die mit diesem Beruf unzufrieden sind.
Ich erkrankte vor sieben Jahren an Depressionen und habe bis heute damit zu kämpfen. Ich gebe teilweise meinem Vater dafür die Schuld. Er hat immer an mir gezweifelt und dadurch zweifele ich auch an mir und habe bis heute keinen richtigen Berufsweg einschlagen können, weil ich alles anzweifle und abbreche. Als mir dies 2016 auffiel, habe ich einen Cut gemacht. Ich hab jeglichen Kontakt zu meinem Vater abgebrochen. Er ist immer noch Zeuge Jehovas. Meine Schwester hat dieser Sekte/Religion (wie man es halt sehen mag) den Rücken gekehrt und wurde "ausgeschlossen". Sie hat alles verloren: Ihren Ehemann, ihr ganzes Umfeld und letztendlich auch ihren Vater. Dieser dürfe ja keinen Kontakt zu Ausgeschlossenen halten. Ich bin wegen vieler Dinge so sauer auf meinen Vater, obwohl ich weiß, dass er eigentlich unser ganzes Leben lang nur das Beste für uns wollte.
Trotzdem habe ich bis heute mit jeglichen Folgen zu kämpfen und werde vermutlich in erneute Therapie gehen, um eventuelle Traumata aus der Kindheit aufzuarbeiten.

Er hat noch Kontakt zu meinem Bruder. Sie telefonieren regelmäßig. Mein Bruder versteht einfach mein Problem in dieser ganzen Geschichte nicht und sagt, ich solle mich bei unserem Vater melden. Er vermisse mich nämlich. Man wüsste ja nicht, wie lange man noch lebe und vielleicht bereue man am Ende, dass man keinen Kontakt hat.

Ich weiß nicht, ob ich mich bei ihm melden kann. Ich denke oft an meinem Vater, aber eher im negativen Kontext.

Vielleicht hilft mir dieser Kummerkasten, besser mit der Situation umgehen zu können. Vielen Dank.

Nuala Anwort von Nuala

Hallo du!

Auch bei dir möchte ich mich für die sehr späte Antwort entschuldigen. Aktuell kommen wir aus vielen Gründen mit dem Beantworten der Zuschriften nicht hinterher.

Ich verstehe, dass du dich sehr benachteiligt und verletzt fühlst. Auch deine Bedenken kann ich nachfühlen.
Ich möchte dir aber aufzeigen, dass dein Vater nicht schuld an deinem Werdegang und an deiner Depression ist. Er hat zwar vieles getan, was sich nachteilig auf deine Entwicklung ausgewirkt hat. Sicherlich hat er auch viele Probleme, die er am liebsten loswerden möchte. Er ist ja nicht als Teufel hier unterwegs, um Böses zu verbreiten. Es ist definitiv nichts, was ich einem Kind wünsche und ich freue mich für jeden jungen Menschen, der in bedingungsloser Liebe aufwachsen darf. Doch du bist ein eigenständiges Wesen, das selbst für seine Gesunderhaltung verantwortlich ist - sowohl seelisch als auch körperlich. Dein Vater hat deine Depression nicht "erzeugt". Es sind komplizierte Prozesse, die vonstatten gingen und gehen, da spielen u.a. auch Faktoren wie zum Beispiel dein Charakter hinein, aber auch andere prägende Beziehungen und vieles mehr.
Wer weiß es schon, vielleicht hat es dein Vater oft genug bereut, so mit euch umgegangen zu sein? Vielleicht wäre er gerne anders gewesen und hat sich selbst insgeheim für seine Taten verabscheut. Es geht nicht um Schuld, zumindest ist eine Schuldzuweisung weder zielführend noch friedensstiftend. Sie zementiert lediglich das Gefühl von Hass, Ohnmacht und Resignation. Und genau das kann verhindern, dass es positive Veränderungen geben kann.

Ich kann deine Überlegung, eine erneute Therapie zu beginnen, gut nachvollziehen und würde dies anhand deiner Beschreibung unterstützen. Gerade die familiären Themen sind so tief verwurzelt, dass es einer intensiven Aufarbeitung bedarf.
Du kannst aber auch alleine viel erreichen. Du kannst dir allein schon durch gute Bücher, Seminare und Videos über Psyche, Kindheit und Depressionen solides Wissen und Werkzeuge zulegen, um Heilungsprozesse anzuregen. Letztlich geht es ja vor allem um deine Gefühlswelt - bei Depression vielfach um unterdrückte Gefühle. Es könnte z.B. um unterdrückte Wut gehen, die du nie so zeigen durftest, weil es sonst Sanktionen gegeben hätte. Das kann für dich ein Schlüssel sein, um einige deiner "inneren Verhärtungen" stückweise aufzuweichen und so Erleichterung zu schaffen. Schau gerne hier vorbei: https://www.deutsche-depressionshilfe.de/start
Vielleicht kennst du ja das Buch "Das Kind in dir muss Heimat finden" von Stefanie Stahl. Damit lassen sich viele alte Wunden beleuchten, die starken Nachwirkungen früher Kindheitserfahrungen besser verstehen und einen neuen Umgang damit finden.
Ebenso mit dem Verzeihen - es ist durchaus möglich, jemandem zu verzeihen, der einer:m schweres Leid zugefügt hat. Es beginnt schon mit deinem Problemtitel, der aussagt, du könntest es nicht. Prinzipiell kannst du das nämlich durchaus! Wenn du es denn wollen würdest. Versuche hier einmal anzusetzen und nach deinen wahren Bedürfnissen zu suchen. Du kannst deinem Vater verzeihen, also innerlich mit ihm Frieden schließen, musst aber deswegen nicht zwangsläufig Kontakt mit ihm pflegen. Du kannst aber auch sporadischen Kontakt mit ihm haben, aber dir dabei bewusst sein, was du willst und wo deine Grenzen liegen. Du hast mehr Möglichkeiten als du glaubst! Nur entscheidest du eben darüber, was gut für dich ist und nicht dein Bruder oder dein Vater. Also sollte die Entscheidungsfindung auch ohne deren Einfluss erfolgen. Hier ist eine therapeutische Begleitung sicherlich wieder sehr wertvoll. Übrigens kannst du auch ein Coaching in Anspruch nehmen.
Auch rund um das Verzeihen gibt es viel zu lesen, beispielsweise hier:
https://www.palverlag.de/Verzeihen.html
Im Verzeihen schlummern große Chancen. Es kann unglaublich erleichtern und zur eigenen Weiterentwicklung beitragen. Letztlich ist es eine große Stärke, jemandem zu verzeihen, wenn es so viel Leid gegeben hatte. Umso erfüllender kann es auch sein, diesen Frieden bewusst herbeizuführen. Gerade weil ich bei dir schon herauslese, dass du trotz der Steine, die euch dein Vater in den Weg gelegt hat, alles Andere als gleichgültig bist, kann es sich sehr lohnen, das Verzeihen anzugehen.

Ich hoffe, ich konnte dir ein paar hilfreiche Gedanken übermitteln. Ich wünsche dir viel Erfolg beim Erkunden deiner seelischen Tiefen und viele nützliche und motivierende Erkenntnisse!

Alles Liebe,
Nuala