Problem von Anonym - 21 Jahre

Wie konnte das passieren?

Ich habe etwas auf dem Herzen was mich sehr belastet. Mein Freund(25) und ich(21) sind jetzt seit 4 Monaten zusammen. Es war alles super, wir waren echt Glücklich bis es Dem letzt zu einem Vorfall kam. Es war abends, ich hatte sehr lange online Vorlesung und war den ganzen Tag schon nicht so gut drauf. Er kam dann abends zu mir, da wir eigentlich seit Anfang an jede Nacht zusammen verbringen. Jetzt hatte er unbedingt Lust auf Sex. Wir hatten schon öfters das ich am Anfang keine Lust hatte und sobald wir dann angefangen hatte, hatte ich jedoch immer Spaß daran. Doch dieses Mal war es anders. Ich habe ihm wie immer am Anfang gesagt ich wolle nicht und es lief eigentlich so ab wie immer. Ich habe dann zu ihm am Ende gesagt das ich es nur für ihn machen würde und wir ja Sex haben könnten. Natürlich war er dann sofort dabei. Jedoch hat bei mir dieses Mal die Lust gefehlt. Ich habe mich richtig schrecklich gefühlt und nur an die wand gestarrt während wir Sex hatten. Ihm ist das leider erst aufgefallen als er fertig war.
normalerweise ist er sehr einfühlsam und hat immer gemerkt wenn etwas nicht mit mir stimmte. Hat immer darauf geachtet wie es mir geht. Seit dem fühle ich mich eklig und leer. Mir kam es so vor als wäre ich in dem Moment nur ein Objekt für ihn gewesen um seine Lust zu befriedigen.
ich habe wenn ich ihn anschaue immer die Bilder im Kopf wie er dort über mir ist. Es fällt mir schwer ihn zu küssen, mich vor ihm umzuziehen oder wenn er mich anfasst.
ihm tut das alles schrecklich leid. Er weint seit Tagen immer wieder, kann nichts mehr essen und ist von sich selbst total verstört. Er versteht sein Verhalten überhaupt nicht. Er sagt mir auch immer wieder das ich keine Schuld daran habe das es dazu kam.

Kann man dabei von missbrauch sprechen?

ich möchte die Beziehung eigentlich nicht beenden, nur weis ich nicht ob ich damit klar komme. Er hat auch eine Riesen Angst mich zu verlieren.
er gibt mir auch alle Zeit der Welt um das zu verarbeiten und ist für mich da. Er würde auch mit mir zu einem Psychologen gehen.

ist sowas noch zu retten?

ich freue mich über eure Antworten

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Anonyme,

vielen Dank für dein Vertrauen in uns. Ich werde mich bemühen, eine Antwort zu finden, die das Ganze für dich überschaubarer macht. Ich weiß nicht, ob alles, was ich schreiben werde, für dich angenehm sein wird - wahrscheinlich nicht. Aber ich bin der Meinung, dass Offenheit immer dem Wunsch, Bestätigung und Zuspruch zu erhalten, vorzuziehen ist.

Mich hat folgender Satz stutzig gemacht:

"Ich habe ihm wie immer am Anfang gesagt ich wolle nicht und es lief eigentlich so ab wie immer."

Entscheidend ist hier das "wie immer" (gleich zweimal!). Daraus muss ich schließen, dass ihr schon vorher etliche Male Sex hattet, obwohl du ihm eindeutig gesagt hast, dass du es nicht wolltest.

Und das wiederum heißt: Es ist nicht so, dass du dich jeweils gerne darauf eingelassen hast - und sei es auch nur wegen des Hintergedankens, dass die Lust ja vielleicht noch wachsen würde. Sondern du hast es eigentlich stets nicht gewollt und schließlich trotzdem zugelassen, weil dein Freund ein "Nein" schlicht nicht akzeptieren wollte.

Mit anderen Worten: Wenn wir uns fragen, wie das passieren konnte, liebe Anonyme - dann sollten wir nicht nur das Ereignis vor Kurzem betrachten, sondern eure ganze Beziehung. Denn auch wenn du sagst, dass ihr bis neulich wirklich glücklich wart, scheint eure Beziehung davon geprägt zu sein, dass dein Freund über deinen Körper verfügt. Wenn er sich also jetzt Vorwürfe macht, dann sollte er sich vielleicht fragen, ob er selbst nicht durch seine Gleichgültigkeit und Selbstsucht die Voraussetzungen dafür geschaffen hat.

Dass du, wenn es einmal zum Sex gekommen ist, allmählich doch noch Spaß daran haben kannst, ist auf keinen Fall eine Entschuldigung. Aus zwei Gründen: Erstens, wenn ihr Sex habt, dann sollte es dir von Anfang an Spaß machen. Ansonsten hältst du regelmäßig etwas aus, was dir nicht gefällt, und daran ändert sich auch nichts, nur weil es dann womöglich doch noch schön wird. Es ist einfach nicht richtig von deinem Freund, das in Kauf zu nehmen. Und es ist spannend, dass du in deinem Text eine Rechtfertigung für sein Verhalten präsentierst, obwohl doch klar ist, dass es dir ohne das besser gehen würde. Und zweitens: Sex ist ganz generell nichts, was man (oder frau) einfordern darf. Wenn eure sexuellen Bedürfnisse nicht zusammen passen, dann ist das ein durchaus ernstzunehmender Grund, die Beziehung zu überdenken.

Vielleicht liegt es aber gar nicht daran, dass eure Bedürfnisse so verschieden sind? Ich glaube das nämlich eigentlich nicht. Ich glaube, es wäre die Aufgabe deines Freundes, wenn er Lust auf Sex hat, für dich einen Rahmen zu schaffen, in dem du dich ihm gerne hingibst. Und die einfachste Möglichkeit wäre, dein "Nein" konsequent zu aktzeptieren und im Übrigen bei Küssen und Kuscheln zu bleiben. Oder vielleicht einfach mal fragen, ob du massiert werden möchtest, geleckt werden möchtest, zusammen duschen möchtest etc. etc.? Wohlgemerkt, ohne für irgendetwas davon eine Gegenleistung zu erwarten! Vielleicht würdest du dann von dir aus Lust auf mehr bekommen und es wäre für euch beide gleichermaßen schön. Auf jeden Fall würdest du an emotionaler Freiheit gewinnen, weil du nicht mehr damit rechnen müsstest, "überfallen" zu werden - und dadurch wäre in deinem Kopf und in deinen Gefühlen auch mehr Raum, deine eigenen Wünsche wahrzunehmen und deine Lust selbstständig umzusetzen. Dann würdet ihr mit einiger Wahrscheinlichkeit auf Dauer nicht weniger Sex haben, weil du viel entspannter wärst und entsprechend freier, Erregung zuzulassen und zu bemerken. Voraussetzung wäre allerdings, dass dein Freund beherzigt, was eigentlich selbstverständlich sein sollte. Nämlich dass es - ganz grundsätzlich - nur schön ist, wenn ihr es beide wollt. Von Anfang an.

Ich respektiere die Trauer und den Schmerz deines Freundes, liebe Anonyme. Und ich will nicht sagen, dass er ein schlechter Mensch wäre. Was ich sagen will, ist: Er hat sich - gleich, wie sehr er dich liebt - ziemlich oft äußerst egoistisch und unsensibel dir gegenüber verhalten. Ich kann dir nicht sagen, ob du es als Missbrauch ansprechen solltest - ich glaube aber, dass dieser Begriff nicht ungerechtfertigt wäre. Letztlich hängt es davon ab, wie DU es nennen möchtest, um damit am besten umgehen zu können. Denn: Es bleibt eine Tatsache, dass er dein Vertrauen, deine Offenheit und deine Erschöpfung missbraucht hat, um an seine Befriedigung zu gelangen. Auf die er kein Recht hat - und selbst wenn du jedesmal drei Orgasmen gehabt hättest. Es geht hier ums Prinzip.

Ich kann dir nicht sagen, wie du dich jetzt entscheiden solltest. Die zentrale Frage ist doch: Siehst du eine Möglichkeit, dass das Vertrauen zwischen euch wiederhergestellt wird? Und, genauso wichtig: Siehst du das Potenzial, dass euer Sexleben endlich auf Gleichseitigkeit und dem Respektieren von Grenzen beruht? Denn wenn dein Freund das Problem nur in der einen Situation sieht, die - sprechen wir es aus - viele als Vergewaltigung bezeichnen würden, dann greift trotz aller Tränen sein Problembewusstsein zu kurz. Ihm muss klar werden, dass er selbst sich nicht einfach "nur" einmal von seinen Trieben hat mitreißen lassen, sondern dass er es seit langem versäumt hat, deine Grenzen zu kennen und zu beachten. Und vor allem muss er verstehen, dass das Dramatische dieser Situation nicht nur darin besteht, dass du beim Sex kein Vergnügen empfunden hast. Sondern vor allem darin, dass er trotz deiner Aussagen, dass du es nicht willst und nur für ihn machst, trotzdem noch bereit war, es überhaupt mit dir zu machen. Ich glaube schon, dass er das einsehen kann - aber ob das eure Beziehung noch rettet, bleibt dennoch fraglich.

Am besten wäre es wohl, wenn du deinen Freund um eine Auszeit bittest und ihm deutlich machst, dass du ihm nicht garantieren kannst, dass eure Beziehung fortgeführt wird. Also: Vorerst keine Übernachtungen, und wenn Chatten, Telefonieren oder gar Treffen, dann nur sehr begrenzt und nur auf deinen Wunsch hin. Wenn er dich liebt, sollte er das akzeptieren. Vergiss dabei vor allem eines nicht, liebe Anonyme: Ganz egal, wie viel er weint - er hat kein Recht darauf, dass du ihm das verzeihst. Es liegt allein bei dir, ob du ihm noch eine Chance geben willst oder nicht. Denn du solltest wirklich aufpassen, dass aus seiner Trauer - die ja sehr aufrichtig sein mag - nicht am Ende wieder eine emotionale Erpressung herauswächst - nach dem Motto "Du bist hartherzig, mir trotz allen Schmerzes nicht zu verzeihen." Denn du entscheidest nicht mit dem Verstand darüber, ob du verzeihen kannst, sondern du musst in dich hineinhören, deine Gefühle erkennen und entscheiden, ob diese Möglichkeit besteht. Und ob du wieder Annäherung zulassen kannst. Es versteht sich von selbst, dass ihr euch während der Beziehungspause möglichst nicht sehen solltet und dass Berührungen tabu sind. Wenn er dich liebt, wird er respektieren, dass seine einzige Chance jetzt darin besteht, dir den nötigen Freiraum zu geben und dich mit Bitten, Nachrichten und sonstigen Aktionen zu verschonen. Wenn wir es recht bedenken: Nachdem er sich bisher so viel genommen hat, was gegen deinen Freiraum war, der dir zusteht - wäre das doch das Mindeste, was er jetzt tun kann? Du solltest ihm klar machen, dass die Antwort auf die Frage, ob es weitergehen kann, nicht davon abhängt, wie viele Geschenke er dir macht, wie flehentlich er dich bittet oder wie viele Tränen er vergießt. Es muss sich in seinen Handlungen zeigen, dass er weiß, wo eine Grenze ist, und darauf vertrauen kann, dass du die richtige Entscheidung triffst. Und "richtig" ist das, was sich für dich gut anfühlt und wodurch du glücklich wirst. Auch wenn es ihm weh tut. Und wenn er dich liebt, wird er das begreifen.

Ich hoffe, dass ich dir etwas Klarheit bringen konnte. Es tut mir leid, falls du deinen Freund nicht angemessen gespiegelt findest - ich kenne ihn nicht, und letztlich kannst nur du entscheiden, was dir gut tut. Ich würde mich freuen, wieder von dir zu hören und zu erfahren, wie die Sache ausgegagen ist. Vorerst wünsche ich dir die nötige Einsicht, deine Bedürfnisse zu kennen, und die Kraft, daraus die Schlüsse zu ziehen, die sich für dich am besten anfühlen.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul