Problem von Anonym - 17 Jahre

Sexuell missbraucht

Hallo. In diesem Text schreibe ich über das wahrscheinlich intimste und totgeschwiegenste Thema in meinem Leben. Ich traue mich nicht diese Gedanken jemandem anzuvertrauen, der mich persönlich kennt, denn sie sind moralisch ziemlich bedenklich. Deshalb dieser Text. Ich hoffe wirklich, dass man mir hier Ratschläge geben kann, vielleicht auch einfach eine objektive Sicht auf meine Situation. Ich rede nicht länger um den heißen Brei herum.

Ich wurde als Kind sexuell missbraucht. Ich weiß nicht mehr wie alt ich damals war, es muss vor der 4. Klasse gewesen sein, da ich damals nicht wusste, was das zu bedeuten hatte und wir erst in der 4. Klasse Sexualkunde in der Schule hatten. Nebenbei bemerkt habe ich damals im Unterricht meinen Freunden erzählt, ich wolle niemals Sex mit einem Mann haben und werde später Kinder adoptieren. Damals habe ich das aber nicht bewusst mit dem Missbrauch in Verbindung gebracht. Ich habe das was passiert ist sehr lange verdrängt. Wobei verdrängen nicht das richtige Wort ist, es war keine bewusste Entscheidung mich damit nicht auseinander zu setzen. Es ist einfach als hätte dieser Tag nie statt gefunden, ich habe ihn einfach vergessen. Erst mit 15 oder 16, als ich angefangen habe mich intensiver mit meiner Sexualität auseinander zu setzen, habe ich mich wieder daran erinnert und begriffen, was damals wirklich passiert ist. Der Mann, der mich angefasst hatte, war mein fünf Jahre älterer Cousin, den ich heute immer noch regelmäßig auf Familienfeiern sehe. Wir haben so gut wie nichts miteinander zu tun. Ich habe eine sehr große Verwandtschaft und viele Cousins und Cousinen, deshalb fällt das auch nicht auf. Falls wir reden, dann ganz normal und auch nur über Belangloses, so wie ich mit jedem in meiner Familie rede. Manchmal frage ich mich, ob er noch weiß, was damals passiert ist oder ob er manchmal darüber nachdenkt, was er getan hat.

Als Kind war ich sehr männerfeindlich eingestellt. Das könnte aber hauptsächlich daran liegen, dass es in meiner Familie - trotz der Tatsache, dass wir im 21. Jahrhundert leben - eine strikte Rollenverteilung gibt. Ich verstand nie warum nach jeder Feier ausschließlich meine Tanten und Cousinen den Abwasch machen mussten, während die Männer sich weiterhin besaufen durften. Ich empfand das als ungerecht und als meine Mutter in der Pubertät anfing mich dazu zu drängen, ihr im Haushalt zu helfen, weigerte ich mich. Ich wollte niemals putzen müssen nur weil ich eine Frau war. Das war nämlich ihre Begründung, wenn ich sie fragte, wieso ich ihr helfen musste und mein Bruder nicht.

Irgendwie entwickelte sich in mir schon sehr früh ein Feindbild gegenüber Männern, das ich in der Schule öfters zeigte. Ich prügelte mich mit gleichaltrigen Jungen, meist wegen sexistischen Bemerkungen ihrerseits. Und weil ich den Drang hatte ihnen zu zeigen, dass ich mehr war, als nur ein schwaches, wehrloses Mädchen. Ich fühlte mich schon immer, als müsste ich das weibliche Geschlecht verteidigen. Ich hatte das Gefühl sie beschützen zu müssen, sie besser und mit Respekt behandeln zu müssen, weil es sonst keiner tat. Als ich älter wurde, bekam ich diese Männerfeindlichkeit nach und nach aber in den Griff. Ich verstand, dass nicht jeder Mann schlechte Absichten hatte, obwohl das für einen Außenstehenden wohl selbstverständlich klingen muss.

Wie schon gesagt habe ich mich mit 15/16 dann näher mit meiner Sexualität auseinandergesetzt. Mir war schnell klar, dass ich auf Frauen stand und dass ich nach wie vor kein Interesse an Männern hatte. Und jetzt kommen wir langsam zu dem unangenehmen Teil dieses Textes, dem "Tabu"-Thema. Ich habe mich wieder daran erinnert, was damals geschehen ist, aber wenn ich heute darüber nachdenke, wenn ich meinen Cousin auf den Familienfeiern sehe, dann spüre ich nichts. Es ist nicht als wäre ich jetzt traumatisiert für mein Leben, zumindest fühlt es sich nicht danach an. Ich habe eher das Gefühl, dass diese "Ich-Wurde-Sexuell-Missbraucht"-Geschichte viel schlimmer klingt, als sie eigentlich ist. Ich habe nie darunter gelitten was passiert ist.

Vor ein paar Jahren hatte ich einen Traum, in dem ich Sex mit dem Cousin hatte. Dem, der mich missbraucht hatte. Doch das Paradoxe an diesem Traum war, dass es mir gefallen hat. Dass ich trotz dieser Sache als Kind, dass ich trotz meiner Sexualität, trotz der Tatsache, dass er mein Cousin war, Gefallen daran gefunden hatte mit ihm zu schlafen. Es hat mich sexuell erregt. Nicht nur das, ich finde die Fantasie von Gewalt und sexuellen Übergriffen generell sexuell erregend. Ich weiß, dass das moralisch einfach nur fraglich ist. Gerade weil ich selbst gegen meinen Willen angefasst wurde und das mit der Gewalt ist auch irgendwo präsent, nur war es viel mehr ich, die anderen welche zugefügt hat. Mir ist klar, dass Vergewaltigungen etwas Schreckliches sind, dieses Gefühl der Machtlosigkeit ist einfach frustrierend, nein, es gibt keine Worte, die beschreiben könnten, wie schrecklich das wirklich ist. Und dennoch fühle ich so.

Wenn ich "Filmchen" dieser Art sehe, dann versetze ich mich gedanklich immer in die Rolle des Mannes, was mich noch mehr verwirrt. Das ist auch der Grund wieso ich niemals was mit einem Typen haben will. Weil ich mich als biologische Frau einfach nur vergewaltigt fühlen würde. Daher glaube ich, dass Homosexualität auch so etwas wie Gleichberechtigung und Freiheit bedeutet, da man frei von diesen Klischees ist. Man ist einfach nur "gleichwertig".

Nuala Anwort von Nuala

Liebe Unbekannte!

Auch an dich: Es tut mir sehr leid, dass du erst jetzt eine Antwort bekommst.

Ich finde es sehr mutig und stark von dir, dass du dich an uns gewandt und deine Geschichte niedergeschrieben hast! :)
Oh ja, deine Wut kann ich wirklich nachempfinden. Es gibt so viel Leid, das Frauen* angetan wird - daher sollten wir uns alle zusammentun und dafür sorgen, dass es mehr Mitmenschlichkeit, Fürsorge und Liebe untereinander gibt und Betroffene von Gewalt rasch die Hilfe erhalten, die sie benötigen.
Ich schreibe am Ende noch etwas zum Thema Engagement.

Im besten Fall hat deine Offenbarung schon etwas bewirkt: Nämlich die Beschäftigung mit dem, was alles vorgefallen ist. Das kann die allmähliche Heilung deiner seelischen Wunden in Gang setzen. Dazu gehört, sich professionell helfen zu lassen, denn sexualisierte Gewalt ist in den meisten Fällen etwas, was langanhaltend zu psychischen Problemen führt. Deswegen ist es auch essentiell, nichts zu verharmlosen, als "verjährt" anzusehen oder sich einzureden, dass man irgendwie zurecht kommt. An irgend einer Stelle kommt der Bumerang zurück. Bei dir hat es sich vermutlich über deinen Traum gezeigt - und in deinem Verhältnis zu Männern*, was aus der Balance geraten zu sein scheint.
Nichts zu spüren ist übrigens eine häufige Reaktion und bedeutet beileibe nicht, dass es schon irgendwie in Ordnung sei! Es kann sehr gut sein, dass das eine unbewusste Schutzreaktion ist, um dich psychisch nicht zu überfordern. Darum wäre eine therapeutische Aufarbeitung so wichtig, um all das sichtbar werden zu lassen und das Heilen anzuregen. - Vielleicht hast du dich ja schon um eine psychotherapeutische Begleitung gekümmert - wenn nicht, das lege ich dir sehr ans Herz!
Du kannst außerdem gemeinsam mit dem Weißen Ring e.V. schauen, ob und wie du mit deiner Vergangenheit umgehen könntest. Schau gerne hier vorbei: https://weisser-ring.de/

Keine Sorge, es hat nichts mit "Moral" oder "Unmoral" zutun, was und wie du träumst und was und wie du empfindest. Das so anzunehmen, führt eher zu einem schlechten Gewissen und kann verhindern, dass du dir selbst richtig helfen kannst. Nimm es so, wie es ist - ohne es zu werten. Sonst machst du dich selbst noch indirekt zur Täterin, obwohl dein Cousin der Täter ist. Und das ist schon schlimm genug.

Es kann durchaus eine Folge deines Erlebten sein, dass bei dir (masochistische) Sexfantasien aufkommen. Das habe ich auch von anderen Betroffenen sexualisierter Gewalt mitgekriegt. Es kann auch sein, dass sich da verschiedene Aspekte vermischen - eventuell findest du bestimmte Unterwerfungsfantasien einfach an sich erregend, damit bist du nicht allein! Was sich dazu mischt, steht auf einem anderen Blatt. Ich finde es aber wichtig, dass du deine Lust annimmst, ohne sie mit Argwohn und Abwehr zu betrachten. Was dir sexuell gefällt, hat doch seine Daseinsberechtigung. Niemand sagt, dass du dir wirklich wünschst, dass dir Gewalt angetan wird. Fantasien sind ja meistens so geartet, dass man sie nicht unbedingt in die Tat umsetzen könnte und wollte.
Doch wenn es dich sehr stört und du dich schlecht dabei fühlst - also wirklich vom Gefühl her, nicht vom "Moralischen" - könntest du auch hier ansetzen und bewusst neue Bilder und Szenen entstehen lassen. Du kannst das sehr wohl steuern! Zum Glück gibt es auch genug "gute" Pornos, die eine Frau* als aktive Akteurin inszenieren und sie nicht als Objekt benutzt wird. Schau einfach mal, was du im Avantgarde/Alternativporno-Bereich alles entdecken kannst. Auch im BDSM-Spektrum könntest du Medien finden, mit denen du dich wohlfühlen kannst.
Ich empfehle dir, dich sehr genau zu den Schlagworten "Reinszenierung", "Bewältigungsstrategie" "Abwehrmechanismus" zu belesen und mit deiner Situation und deinem Empfinden abzugleichen. Ich habe dir hierzu ein paar beispielhafte Links zusammengestellt:
* https://www.lichtweg.de/folgen.php
* https://www.alterundtrauma.de/basiswissen/sexualisierte-gewalt/folgen-der-opfer.html
* https://www.michaela-huber.com/files/vortraege2015/trauma-im-kindesalter-und-die-folgen.pdf

Ich würde deine sexuelle Orientierung nicht an deine Kindheitserlebnisse geknüpft sehen. Sicherlich kann es da gewisse Verbindungen bzw. Beeinflussungen geben, doch ob du "rein lesbisch" bist oder nicht, lässt sich auf dein gesamtes Leben gerechnet sowieso nicht komplett erfassen. Denn auch wenn du dich als "überwiegend lesbisch" ansiehst, kannst du dich theoretisch auch einmal in einen Mann* verlieben (und umgekehrt: Wenn sich jemand als heterosexuell definiert, bedeutet das nicht, dass das zu 100% in jeder Situation gelten). Sexualität und sexuelle Orientierung sind relativ fluide und wandelbar. So wie der gesamte Mensch :) Was dir Mut machen kann, dass du weder mit deinen Schatten der Vergangenheit unverändert leben musst noch deine Lebensqualität leiden soll. Auch deinen Groll gegen Männer* hat viel mit der Gestaltung deiner Gedanken zutun, woraufhin sich auch deine Gefühle ändern können. Vielleicht wäre dieses Buch etwas für dich: "Gedanken verändern Gefühle" von Greenberger & Padesky.
Allgemein möchte ich dich ermuntern, deinen Blick auf die Geschlechter zu weiten und dir stets zu vergegenwärtigen, wie sehr wir zu "Scheuklappendenken" und Schubladisierungen neigen. Jede Person hat sowohl männliche als auch weibliche Anteile - oder auch von einer anderen Perspektive betrachtet: Wir sind in erster Linie Individuen und haben als eine von vielen Eigenschaften einen bestimmten Körper. Darum ranken sich dann massenhaft Zuschreibungen und Vorurteile.
Ich muss dir aber auch sagen: Frau* zu sein bedeutet nicht, gewaltfrei zu sein! Eine Frau kann genauso vergewaltigen, töten, schlagen... Gerade _weil_ es dieses gefährliche Bild von der harmlosen Frau* gibt, fallen etwaige Straftaten nicht auf. Wenn eine Mutter beispielsweise ihr Kind vergewaltigt. Und da musst du dich an die eigene Nase fassen: Wenn du glaubst, Gewalt sei ein reines Männerphänomen, bist du auf dem Holzweg und tust dir keinen Gefallen damit. Auch in einer lesbischen Beziehung kann es körperliche Gewalt und Demütigung geben.
--> Je mehr du beginnst, Menschen als Menschen zu sehen und sie nicht auf ihr Geschlecht zu reduzieren, desto freier wirst du selbst. Sowohl im Denken als auch im Fühlen.

Du kannst dir vornehmen, dich nur mit Männern* näher zu umgeben, bei denen du dich richtig aufgehoben und verstanden fühlst. Am besten mit Feministen oder sehr empathischen Zeitgenossen, die sich selbst so geben, wie sie eben sind. Ohne einen Panzer aus toxischer Männlichkeit beispielsweise.
Es hat eben viel mit unserem Umfeld zutun, welche guten oder schlechten Erfahrungen wir machen. Siehe deine Verwandtschaft - du hast den Klassiker an negativen Erfahrungen beschrieben, in welchem klare Geschlechterrollen für Ungerechtigkeit und letztlich für Unfreiheit aller Involvierten sorgen.

Ich finde es immer wichtig, einen konstruktiven Umgang mit dem Drang, etwas zu verändern, zu finden. Dazu kann Engagement in jeder Form zählen, sofern es positiv gestaltet wird. Eine Mitgliedschaft in einem Verein, einer Selbsthilfegruppe etc. kann dein Anliegen fördern und deinen Wunsch, etwas gegen die Ungerechtigkeiten zu unternehmen, unterstreichen. Hier wärst du also genau richtig mit deinem Tatendrang! Schau z.B. hier vorbei:
* https://www.gegen-missbrauch.de/
* https://www.schauthinev.de/
* https://www.dunkelziffer.de/startseite/
... sowie diverse feministische Organisationen und Initiativen deiner Wahl.

Vielleicht kannst du mittlerweile schon eher in Worte fassen, was dir widerfahren ist. Wie gesagt, du hast keinen Grund, dich zu schämen und alles für dich zu behalten. Du musst aber auch nicht alles und Jeder, Jedem erzählen.
Es kommt sicherlich stark darauf an, was dir am meisten Befreiung bescheren würde - manchen hilft Reden super, andere müssen schreiben, wieder Andere beides. Nur solltest du keinesfalls ganz alleine mit dem Thema sexualisierte Gewalt bleiben. Es wächst dir sonst über den Kopf. Neben dem Sprechen mit dir nahestenden Personen gibt es auch die Möglichkeit, an Gesprächskreisen oder Selbsthilfegruppen teilzunehmen. Durch Corona kann das Angebot anders aussehen oder sehr eingeschränkt sein. Nichtsdestotrotz gibt es im Netz viele Anlaufstellen, beispielsweise Foren. Das kann reale Treffen und Aussprachen zunächst und ggf. auch dauerhaft gut überbrücken. Zusätzlich sind Tagebücher, Blogs, Notizen usw. sehr nützlich und erleichternd.

Ich hoffe, dass ich dir mit meinen Ausführungen weiterhelfen kann. Auch dir möchte ich versichern, dass du uns jederzeit erneut schreiben kannst und ich für meinen Teil mein Bestes gebe, dir dann viel schneller zu antworten.

Alles Liebe wünsche ich dir,
Nuala