Problem von Anonym - 18 Jahre

Zukunftsangst Studienwahl

Hey erstmal :)
Ich bin 18 und habe dieses Jahr mein Abi mit 1,0 bestanden, ein Schnitt der einem alle Möglichkeiten eröffnet - oder in den Wahnsinn treibt. Seit Monaten überlege ich, was ich studieren soll (ich weiß, klingt alles furchtbar nach Luxusproblem), aber ohne Erfolg. Inzwischen drängt die Zeit, die meisten meiner Freunde haben bereits mit ihrer Ausbildung/einem dualen Studium begonnen. Und ich hocke immer noch Zuhause und grüble vor mich hin. Ich war in der Schule bei der Berufsberatung, hab tausende Tests im Internet gemacht zur Berufswahl, aber nichts passt zu mir. Hab eine Zusage für Medizin, Lehramt hatte ich mir ne Weile lang auch überlegt, aber überzeugt bin ich von nichts. Jeder, dem ich begegne fragt mich nach meinen Plänen, oft nach dem Motto "mit dem Abi musst du was aus dir machen", weshalb ich es bevorzuge gar nicht mehr rauszugehen. Ich setze mich wahnsinnig unter Druck bei der Studienwahl. Was mich traurig macht ist, dass ich nicht wirklich bestimmte Interessen habe, aus denen ich was machen könnte. In der Schule war ich ein Allrounder, jetzt soll ich mich spezialisieren, aber worauf? Dieser innere Druck und Stress zehrt inzwischen auch schon körperlich an mir, ich weiß nichts mit mir anzufangen, bin ständig müde, einsam und unzufrieden mit mir selbst (während meine Freunde ihren neuen Lebensabschnitt bereits begonnen haben, sitze ich Zuhause), fühle mich antriebslos. Manchmal frage ich mich, ob es sich überhaupt noch zu leben lohnt, wenn ich daran denke, dass ich etwas studieren werde, was mich nicht wirklich interessiert und den Beruf die nächsten 40 Jahre ausüben soll.
Sorry für das Gejammer. Weiß einfach nicht weiter und werde oft nicht ernst genommen mit meinen Luxusproblemen.

Nuala Anwort von Nuala

Hallo du,

ich möchte dir zum bestandenen Abitur beglückwünschen. Und damit folgende Einladung aussprechen, die einer enormen Übungsaufgabe gleichkommt: Versuche, den Ist-Zustand anzuerkennen, ohne so sehr gedanklich in die Zukunft zu eilen. Das ist herausfordernd, ohne Frage. Geduld, Demut und Vertrauen gehören hier hinein. Du darfst deinem Leben, dem Lebensfluss, vertrauen! Du darfst dahingehend vertrauen, dass sich alles zu deinem Besten fügen wird, wenn du dich auf dich und deine Kräfte verlässt.
Unterstützen kann dich der Müßiggang: Spazierengehen, lange schlafen, Spontantität, etwas für Andere tun...
Mir scheint, du erlaubst dir nicht, inne zu halten. Aber es ist so nebensächlich, was andere Abiturient:innen gerade machen, wo sie sich angemeldet und welche weiteren Entscheidungen sie getroffen haben. Du machst es eben anders bzw. befindest dich in deiner ganz eigenen Situation - und anders, eigen bedeutet nicht, dass es schlechter ist. Es kann unglaublich befreiend sein, die Gegenwart in ihrer Nicht-Perfektion, mit all der Unsicherheit anzunehmen. Denn oft wirkt das Leben so fragil, zerbrechlich, unklar. Und gleichzeitig liegt darin so viel Schönes verborgen, so viele Details, die entdeckt werden wollen. Und dafür ist es super, sich Zeit und Muße zu nehmen, sich den kleinen Dingen zu widmen, zu atmen und einfach zu SEIN.
Helfen kann auch das Schreiben: Lang und ausführlich Briefe und Tagebücher zu schreiben, Briefe beispielsweise an dich selbst - eine sehr aufregende Angelegenheit! Diese Briefe öffnet man dann erst zu einem viel späteren Zeitpunkt, z.B. nach einem Jahr. Wie interessant es dann ist, von damals zu lesen, von all den Emotionen und Gedanken, die eingeflossen sind!

Und nein, es ist kein Luxusproblem, was du hast. Es macht dich fertig und das darf dann auch als ernsthaftes Problem anerkannt werden!

Die Akzeptanz deines inneren Zwiespalts kann ein erster Schritt sein, den Knoten zum Platzen zu bringen.
Genauso kann es sinnvoll sein, deine aktuelle Lebensphase so anzunehmen, in der es einfach nicht so weit ist für dich, eine so weitreichende Entscheidung zu treffen. Sicherlich kommt auch viel (unterschwelliger) Druck von der Außenwelt, denn mit deinem Abiturschnitt sind gemeinhin leider viele (zu) hohe Erwartungen verbunden. Doch letztlich muss niemand etwas erwarten. Rein faktisch ist es egal, ob du 3,8 hast oder 1,0. Du hast zwar alle Möglichkeiten, doch du musst keine ergreifen - jedenfalls nicht sofort. Wer sagt denn, dass du nicht erst ein paar Jahre irgend etwas tun kannst? Oder gar nichts?! Vielleicht brauchst du noch viel Zeit zum Reifen, andere Erfahrungen, eine völlig neue Umwelt. Nicht umsonst tut es vielen Schulabgänger:innen sehr gut, zu reisen, irgendwo zu arbeiten und sich in verschiedenen Bereichen auszuprobieren. Und gerade weil du einen glatten Abischnitt hast, kannst du dir Zeit nehmen. Was spricht denn dagegen, einfach erstmal richtig auszuspannen, die Seele baumeln zu lassen? Warum solltest du gleich weiterhetzen wie in einem Hamsterrad? Warum solltest du genau das tun, was viele andere Menschen machen? Was soll dich daran erfüllen?

Der Druck sich zu Spezialisieren ist ein modernes Phänomen, das einigen Menschen nicht gerecht wird. Ich glaube auch nicht, dass du dich auf Biegen und Brechen spezialisieren solltest. Es kann sich zwar im Laufe der Zeit ein bestimmter Bereich herauskristallisieren, den du dann beruflich bedienst, weil damit am meisten Vorteile verbunden sind (wozu ich die Freude an der Arbeit absolut hinzuzähle!). Aber niemand sollte sich irgendwo festlegen, nur um nach außen hin "den schönen Schein zu wahren".
Manche Leute machen sich selbstständig, weil sie damit ihr Allrounder-Tum gut umsetzen können. Andere suchen sich ganz bestimmte Nischen, in denen sie querbeet etwas leisten können. Es gibt ja durchaus auch feste Berufe, in denen der Hang zum "Alleskönnen" positiv ist, z.B. als Lehrer:in bzw. generell in pädagogischen Berufen. Vieles kann man auch im Ehrenamt bzw. in der Freizeit ausleben.
Es scheint mir auch um die Frage zu gehen, ob du wirklich relativ "interessensarm" bist oder ob das gerade eine Folge deiner schlechten psychischen Verfassung ist. Hier solltest du dich genau beobachten und auch schauen, wie du z.B. als Kind warst.
Ich dachte beim Lesen deiner Beschreibung daran, dass du dich einmal mit dem Phänomen der Vielbegabung bzw. auch der "Scanner-Persönlichkeit" auseinandersetzen könntest, vielleicht würde dir das helfen, deine wahren Wünsche, Visionen und Stärken zu entdecken - und damit die niederdrückenden Gefühle loszuwerden. Barbara Sher hat beispielsweise dazu sehr lesenswerte Bücher geschrieben (v.a. "Ich könnte alles tun, wenn ich nur wüsste was ich will" sowie "Du musst dich nicht entscheiden, wenn du tausend Träume hast").

Ich habe außerdem den Eindruck, dass du dir mit dem Vermeiden des Rausgehens und der Konfrontation ein Eigentor schießt. Sinnvoller wäre es, wenn du lernst, souverän mit anderen Personen über das Aktuelle zu sprechen - dabei musst du weder viel von dir preis geben noch musst du unnötig etwas verschweigen. Es ist absolut okay, nicht so wild beruflich vorzupreschen, auch wenn das allerorten suggeriert wird! Du darfst dich da auch abgrenzen und signalisieren, dass du über bestimmte Themen nicht sprechen möchtest und dass dir niemand von außen vorzuschreiben hat, was du tun solltest. Es geht niemanden etwas an, nur dich!

Ich habe dir einmal ein paar passende Zuschriften zusammengestellt, welche ich dir zum Lesen empfehle:
- https://mein-kummerkasten.de/332767/Angst-vor-der-Zukunft.html
- https://mein-kummerkasten.de/332535/Immer-noch-nichts-erreicht.html
- https://mein-kummerkasten.de/327744/Zukunftsangst.html
- https://mein-kummerkasten.de/331521/Wie-geht-es-nach-dem-Studium-fuer-mich-weiter-Ungluecklich-unzufrieden-finde-keinen-Ausweg.html
- https://mein-kummerkasten.de/324325/Problem-bei-der-richtigen-Berufsauswahl.html

Zurück zu meiner Einladung zum Innehalten: Das allein ist schon ein fetter Brocken, der dich sehr intensiv beschäftigen kann. Meditation, Achtsamkeitsübungen, Entspannungsmusik, ätherische Öle etc. können dich dabei begleiten und dir helfen, dich mehr auf den Moment einzulassen. Vielleicht gibt es auch jemanden, die:der dich gerne einmal liebevoll massieren würde mit allem Drum und Dran.
Du hast Regeneration nach deinem Schulabschluss nötig und das darfst du dir auch alles gönnen. Auch wenn es dir wahrscheinlich zu Beginn sehr schwer fällt. Versuche es immer wieder, dir Zeit zu nehmen und mit dir selbst in den Austausch zu kommen.
Jetzt gibt es im Herbst auch viele VHS-Kurse, die können dir etwas Schöngeist, Ruhe und Ablenkung bescheren - und dich vielleicht derart inspirieren, dass du Lust hast, eine neue (berufliche) Fährte zu verfolgen :)

Ich hoffe sehr, dass ich dir mit meiner Antwort weiterhelfen und dir ein paar Denkanstöße liefern konnte.

Sei herzlich gegrüßt,
Nuala