Problem von Anonym - 18 Jahre

Ist so was "Missbrauch"? Und kann ich mit meiner Therapeutin darüber reden?

Ich bin mit meiner Mutter und meiner Großmutter in einem Haus aufgewachsen. Meine Eltern waren und sind getrennt, glücklicherweise ohne große Streitereien, aber dadurch hatte ich früher verhältnismäßig wenig Kontakt zu meinem Vater.

Da meine Mutter lange Arbeiten musste, passte meine Großmutter meistens auf mich auf. An diese Zeit habe ich noch ein paar Erinnerungen. Es endete, als ich ca. 14 Jahre alt war. Ich habe keine Ahnung, wann es angefangen hat.

Aber ich erinnere mich daran, dass meine Großmutter mich häufig recht unschön beschimpft hat, selbst für kleine Fehler oder abweichende Meinungen. Wenn ich ihrem Willen nicht folgte, konnte sie schon auch mal zuschlagen, sie hat mich aber nie so richtig verprügelt. Immer nur ein paar Mal zugeschlagen, meistens auf den Hintern oder gegen den Hinterkopf, gelegentlich auch mit der Faust in den Bauch, oder sie hat mich gekratzt/gekniffen. Einmal hat sie sich auch so auf mich drauf gelegt, dass ich kaum Luft bekommen habe und nicht wegkonnte. Wenn ich zu nah an ihr vorbeigelaufen bin, hat sie mir an den Hintern gefasst, bei anderen Gelegenheiten auch in den Intimbereich und als sie dann gewachsen sind auch an die Brüste. Meistens war ich dabei entweder angezogen oder beim Umziehen, aber ich erinnere mich auch daran, wie ich unter der Dusche stand und sie mich im Intimbereich angefasst hat und ihren Finger in mich gesteckt hat. Sie hat gesagt, dass sie mir so ihre Liebe zeigt, und dass ich es keinem sagen darf, weil ich sonst weggeschickt werde, dass ich selbst schuld bin und außerdem würde mir eh keiner glauben.

Als ich ca. 13-14 war, wurde ihre Gesundheit immer schlechter. Es fing an mit leichten Anzeichen von Demenz, ihre Diabetes (Typ 2) wurde schlimmer, außerdem konnte sie immer kürzere Strecken gehen und kaum noch Treppen gehen. Das habe ich dann ausgenutzt und es fast vollständig vermeiden können, in ihrer Nähe zu sein.

Inzwischen ist sie körperlich sehr schwach, benötigt oft einen Rollstuhl, kann aber gelegentlich noch mit dem Rollator gehen. Sie hatte Brustkrebs und einen leichten Schlaganfall sowie Nierenprobleme. Trotzdem ist es nicht unbedingt wahrscheinlich, dass sie in der näheren Zukunft stirbt. Außerdem ist ihre Demenz inzwischen ziemlich weit fortgeschritten.

Durch die Demenz verhält sie sich unter anderem wieder vermehrt wie früher, vor allem mit den Beleidigungen, und wenn ich unaufmerksam bin und zu nahe an ihr vorbei gehe, versucht sie noch immer, mir an den Hintern zu fassen. Das ist aber nicht so schlimm, ich habe gelernt einen Mindestabstand zu halten und die Zeit in ihrer Gegenwart auf die Mahlzeiten zu beschränken. Ich bin mit sechzehn mit der Erlaubnis meiner Mutter in eine Wohnung gezogen, die mein Vater für mich mietet und komme nur noch zu Besuch, möglichst selten und möglichst kurz. Für mich sind diese Besuche nicht schön, aber sie sind okay. Sie sind der Preis, den ich für die relativ umfangreiche finanzielle Unterstützung bezahle: ich kann ohne zu arbeiten in einer zwar kleinen aber zentral gelegenen Wohnung leben und habe genug Geld für alles was ich brauche und sogar noch etwas übrig für Dinge, die ich nicht unbedingt brauchen würde. Zwar kommt einiges davon (vor allem die Miete und mehrere hundert Euro pro Monat) von meinem Vater, aber auch meine Mutter unterstützt mich da recht viel. Außerdem möchte ich nicht unbedingt den Kontakt zu meiner Mutter komplett verlieren. Sie ist ja immer noch meine Mutter.


Aber irgendwie ist es mit ihr sowieso schon schwierig genug. Sie hat einen extrem stressigen Job, dazu kommt noch die Belastung durch die Pflege meiner Großmutter. Inzwischen hat sie osteuropäische Pflegekräfte engagiert, die mit meiner Mutter und meiner Großmutter zusammenwohnen und bei der Pflege helfen. Aber natürlich bleibt trotzdem immer noch viel Arbeit und psychische Belastung durch die unschönen Symptome, die Demenz mit sich bringt, außerdem ist es für für sie auch schwierig, ständig mit einer wildfremden Person zu leben. Dementsprechend ist sie recht angespannt. Vor drei Jahren, bevor sie die Pflegekräfte hatte, war es so schlimm, dass sie drei Monate stationär in einer psychiatrischen Klinik war. So lange war ich dann fast alleine für meine Großmutter verantwortlich, mit etwas Unterstützung durch eine weitere (erwachsene) Tochter meiner Großmutter, die allerdings nie wirklich viel Kontakt wollte. Einerseits bin ich deshalb wütend auf sie, weil es meine Kindheit deutlich einfacher gemacht hätte, wenn meine Tante zumindest gelegentlich vorbeikommen wäre und auf meine Großmutter aufgepasst hätte. Andererseits kann ich mir vorstellen, dass meine Großmutter sie nicht viel besser behandelt hat als mich. Und ich habe ja genau so wenig Lust auf Kontakt mit meiner Großmutter, also kann ich ihr da ja wohl kaum Vorwürfe machen.

Das Problem mit meiner Mutter ist eben, dass sie immer etwas schwierig ist, wenn es ihr schlecht geht. Dann bekommt sie Wutausbrüche wegen trivialen Dingen. Den größten Ärger von ihr habe ich bekommen, als sie mich mit ca. 15-16 nackt unter der Dusche gesehen hab und gemerkt hat, dass ich mich im Intimbereich rasiert hatte. Sie meinte, dass ich deshalb von meinen Mitschülern gehänselt und ausgeschlossen werden würde. Das fand ich damals ziemlich verletzend, weil ich früher tatsächlich recht unschöne Erfahrungen mit Mitschülern gemacht habe. Meine Mutter hat sich dann aber entschuldigt, sie hat gesagt, dass sie so wütend war, weil sie es so empfunden hat, dass ich ihr nicht vertraue, weil ich nicht vorher mit ihr darüber gesprochen habe. Ich habe auch noch für andere eher obskure Dinge Ärger bekommen, z. B. weil ich angeboten habe ihr beim Packen zu helfen, aber danach tut es ihr immer leid und soe entschuldigt sich aufrichtig. Und wenn es ihr nicht so schlecht geht, ist sie auch sehr umgänglich. Als ich noch kleiner war, hatten wir ein richtig gutes Verhältnis.

Es ist mir lange sehr schwer gefallen zu akzeptieren, dass meine Großmutter für meine Mutter sehr viel wichtiger ist als ich es je war. Meine Mutter sieht meine Großmutter als absolut perfekt an. Für meine Mutter hat meine Großmutter keine Fehler, alles dreht sich nur um meine Großmutter, bei Kleinigkeiten genauso wie bei essentiellen Entscheidungen. Inzwischen habe ich mich aber mehr oder weniger damit abgefunden. Ich habe keine Lust mehr, meiner Mutter ständig hinterher zu rennen, wenn ich mal Zeit mit ihr verbringen möchte. Und irgendwie bin ich auch ein kleines bisschen sauer auf sie, weil ich schon ziemlich jung recht viel bei der Pflege helfen musste, obwohl ich weder körperlich noch geistig dafür schon stark genug war und meiner Großmutter eigentlich nicht so nah kommen wollte. Und auch allgemein, weil ich durch ihre Entscheidung mit meiner Großmutter festsaß. Aber ich weiß, dass es auch für sie nicht immer einfach war, und außerdem ist meine Großmutter extrem kontrollsüchtig. Ich kann schon irgendwie verstehen, dass meine Mutter sich nie gegen sie durchsetzen konnte.


Na ja, auf jeden Fall habe ich jetzt länger über das alles nachgedacht. Für mich war das alles sehr lange völlig normal. Das ich das alles irgendwie komisch fand, fing erst an, als ich gesehen habe, dass es bei anderen Familien so ganz anders läuft. Und auch jetzt weiß ich noch nicht so ganz, was eigentlich der richtige Begriff ist für das, was meine Großmutter da gemacht hat. Ist das wirklich Missbrauch? Aber, so lächerlich das auch klingt, ich will das nicht. Ich will nicht, dass dieser Begriff auf mich zutrifft. Ich weiß natürlich, dass keiner das will, aber trotzdem... keine Ahnung, meine Gefühle haben leider ein seltsames Eigenleben entwickelt.

Vor ca. zwei Jahren kamen dann noch ein paar andere Probleme dazu. Irgendwann hat eine meiner Lehrerinnen zufällig mitbekommen, dass ich plante mich umzubringen. Deswegen bin ich dann mehr oder weniger freiwillig in ambulanter Psychotherapie gelandet, und ich verstehe mich auch ganz gut mit meiner Therapeutin. Inzwischen ist mir klar geworden, dass mich dieses ganze Familienchaos doch sehr belastet. Eigentlich würde ich mit meiner Therapeutin irgendwie darüber reden wollen. Aber zum einen habe ich Angst davor, dieses Thema anzusprechen. Im Internet, wenn ich anonym bin und über jeden Satz zehn mal nachdenken kann, ist es für mich okay, darüber zu schreiben. Aber mit einem echten Menschen darüber zu reden ist eine ganz andere Kategorie, obwohl ich eigentlich trotzdem mit meiner Therapeutin reden möchte. Außerdem habe ich Angst vor ihrer Reaktion. Ich habe Angst, dass sie mir nicht glaubt. Aber auch davor, dass sie mir glaubt und dann Mitleid mit mir hat. Aus irgendeinem Grund fände ich Mitleid fast schlimmer als Unglauben. Und ich habe Angst vor den Konsequenzen. Ich bin zwar inzwischen volljährig, aber dennoch ist meine Therapeutin eine "Kinder- und Jugendtherapeutin", was die Schweigepflicht zumindest bisher gegenüber meinen Eltern etwas abgeschwächt hat, und ich weiß nicht, ob meine Volljährigkeit da was ändert. Sie hat die Kontaktdaten meiner Mutter, und ich habe Angst, dass sie mit ihr darüber spricht. Und irgendwie fällt mir nichts ein, wie ich nach den spezifischen Details der Schweigepflicht in meinem Fall fragen könnte, ohne direkt schon anzudeuten, worum es geht. Wenn sie irgendwas ahnt, wird sie garantiert nachfragen. Dazu kommt noch, dass ich weiß, dass sie die Pflicht hat, es an z. B. die Polizei zu melden, wenn jemand in akuter Gefahr ist. Meiner Meinung nach trifft das bei mir nicht zu, aber da ich ja immer noch gelegentlich zu Besuch bei meiner Großmutter bin, weiß ich nicht, ob ich meine Therapeutin auch davon überzeugen könnte.

Ich weiß auf jeden Fall, dass ich nicht zur Polizei will. Zum einen habe ich natürlich wieder mal Angst davor, ich weiß, dass ich dann viel und auch detailliert darüber reden müsste, mit Menschen die ich nicht kenne. Ich will auch nicht, dass so viele Leute davon erfahren. Und ich sehe auch keinen Sinn dahinter. Das alles ist mehrere Jahre her. Es gibt keine Beweise, also würde es höchstwahrscheinlich nicht zu einem Gerichtsurteil kommen. Und selbst wenn, was würde das noch bringen? Meine Großmutter ist inzwischen so dement, dass sie nicht mal mehr verstehen würde, worum es geht. Es wäre einfach völlig sinnlos.

Das Schlimmste wäre aber, wenn meine Mutter es erfahren würde. Sie würde mir nicht glauben. Und dann wären extreme Familienprobleme garantiert. Ich habe Angst, meine Familie zu zerstören. Was ist denn, wenn ich nur überreagiere? Ich bin mir ja noch nicht mal sicher, ob das wirklich Missbrauch oder so was ist. Kann eine Frau sowas überhaupt machen, wenn sie auch eine Mutter ist? Dann will sie doch, dass es Kindern gut geht, Mutterinstinkte und so. Was, wenn ich einfach nur ein bisschen übersensibel bin? Inzwischen bekommt meine Mutter es durch die Demenz ja auch gelegentlich mit, dass meine Großmutter mir an den Hintern fassen will. Und meine Mutter sagt, dass das doch nicht so schlimm ist, und dass ich mich nicht so anstellen soll. Und das ist eben auch mein Problem: einerseits fühlt sich das alles so falsch an und ich will es eigentlich nicht, aber ich will mich eben auch nicht wie eine Dramaqueen aufführen.


Wie kann ich bei meiner Therapeutin unauffällig nachfragen, wie das mit der Schweigepflicht aussieht? Soll ich überhaupt mit ihr darüber reden? Eigentlich ist es ja schon lange her, ich will da nicht unnötig irgendwelche Probleme verursachen. Ist das ganze mit meiner Großmutter überhaupt etwas, worüber ich mir Sorgen machen darf, oder ist das eigentlich etwas, was mich gar nicht stören dürfte? Und wie sollte ich sowas bei meiner Therapeutin ansprechen? Wie fängt man so ein Gespräch an? Gibt es irgendeine Möglichkeit, um garantiert zu verhindern, dass meine Familie davon irgendetwas mitbekommt?

Nuala Anwort von Nuala

Hallo du!

Es tut mir sehr leid, dass du dies erleben musstest und teilweise noch musst. Es hinterlässt tiefe Spuren, mit denen ein passender Umgang gefunden werden sollte.
Ja, sexualisierte Gewalt kann genauso von Frauen begangen werden. Das wird zwar oft übersehen, ist aber genauso fatal und schädigend. Daher kann ich dich in dem Gedanken, mit deiner Therapeutin zu sprechen, unbedingt unterstützen. Sie kennt solche Themen selbstverständlich und unterliegt der Schweigepflicht, die gilt nach wie vor, egal wie alt du bist. Wenn du ihr vertraust, wäre es ganz stark von dir, wenn du ihr bald davon berichten würdest. Sie ist sicherlich kompetent und verfällt weder in Mitleid noch in Unglaube. Du kannst ihr ja auch diesen Text, den du geschrieben hast, zeigen, falls dich das Sprechen weiterhin so viel Überwindung kostet. Dann müsstest du den Gesprächseinstieg nicht mündlich beginnen.

Viele Betroffene sexualisierter Gewalt haben große Angst davor, dass ihre Familie "auseinanderbrechen" würde, würden sie ihr Schweigen brechen. Doch mal ganz hart formuliert: Wenn ein Haus auf Treibsand gebaut ist, braucht man nicht mehr viel an Einwirkung, um alles zum Einsturz zu bringen.

Du stehst immer an erster Stelle: Mit deinem seelischen und körperlichen Wohl. Deswegen ist es absolut richtig und gut, über das Geschehene zu sprechen. Auch wenn es eventuell niemals direkt mit deiner Mutter geschehen wird - du musst nicht schweigen, nur um jemanden zu "schützen". Mit dunklen Geheimnissen schützt man auch niemanden, sondern verstärkt nur das Gefühl von Trauer, Resignation und gibt den Täter:innen indirekt weitere Möglichkeiten, unentdeckt zu bleiben.
Es kann durchaus sein, dass deine Mutter ebenfalls Übergriffe erlebt hat. Durch Schweigen, Leugnung und Bagatellisieren verschlimmert sich dies alles noch - du scheinst ja sogar an deinen Empfindungen zu zweifeln. Doch bitte glaube mir: Dich trifft niemals Schuld und alles, was dir seltsam vorkommt, ist auch angebracht, aufhorchen zu lassen! Du hast von Geburt an das Recht auf Unversehrtheit, was selbstverständlich ganz zentral deinen Körper betrifft. Niemand darf dich ungefragt befummeln oder deinen Intimbereich "betreten". Du darfst und musst sogar deiner Wahrnehmung trauen! Lass dir bitte nicht einreden, dass das alles okay und normal sei. Ist es nicht!

Ich verstehe dich, dass eine Anzeige bei deiner Oma keinen Sinn mehr hat. Vielleicht hilft dir aber schon dieser Gedanke: Ich hätte sie angezeigt, wenn es noch realistisch gewesen wäre. Denn sie hat mir großes Unrecht angetan, was bestraft werden muss. Das ist eine Form von Selbstermächtigung, die dir deine Würde und Stärke zurückgeben kann!

Und was immer Sinn hat: Benennen, was geschehen ist bzw. geschieht, die eigenen Gefühle offenlegen und sich dadurch heilen, soweit es geht. Du musst weder schweigen noch hinnehmen, dass deine Mutter negiert, was passiert ist. Du kannst sogar entscheiden: Ich möchte meine Oma nicht mehr sehen. All das darf sein!
Hier wieder mein Tipp, eine möglichst detaillierte Aufarbeitung mit deiner Therapeutin zu starten, um den optimalen Weg für dich zu extrahieren (und ggf. weitere Expert:innen zu Hilfe zu holen, z.B. im Rahmen einer Traumatherapie, in einer Beratungsstelle für Frauen bzw. bei sexualisierter Gewalt, etc.). Auch der Weiße Ring kann dich begleiten: https://weisser-ring.de/

Ich habe dir eine ältere Zuschrift verlinkt, in der es genau um diese Art von Gewalt geht, da hatte ich auch einen Link zu einer Reportage reingepackt. https://mein-kummerkasten.de/332198/oedipus-Komplex.html

Ich wünsche dir sehr viel Kraft für deinen weiteren Weg - die Aufarbeitung lohnt sich sehr! Vielleicht möchtest du dich auch mit anderen Betroffenen vernetzen, sei es in Form von Onlinekontakten (Foren, Gruppen, Blogs,...) oder auch bei echten Treffen (Selbsthilfegruppe beispielsweise).

Ich grüße dich herzlich,
Nuala