Problem von Anonym - 17 Jahre

Essen als ständiger Begleiter...

Hallo liebes Kummerkasten-Forum,
Ich möchte gerne anonym bleiben, werde euch daher nicht meinen Namen nennen, aber trotzdem einmal meine kleine Lebensgeschichte zusammenfassen.

Groß wurde ich mit einem zwei Jahre älteren Bruder und meiner Mutter, die Vollzeit arbeitete. Mein Vater? Nur am Wochenende zu Besuch, er musste schließlich Geld verdienen.
Ich wuchs in einer Kleinstadt im Süden Deutschlands auf, hatte dort viele Freunde in meinem Alter, betrieb aktiv Sport und war nach außen win sehr offenes, glückliches und selbstbewusstes Kind, doch in mir drin sah es ein wenig anders aus.
Schon in jungen Jahren war ich mehr bei anderen als im eigenen zu Hause, lief seit ich drei war alleine zum Kindergarten, mit fünf eingeschult, mit sechs einen Haustürschlüssel, alleine Mittag essen, selbständig Hausaufgaben machen, lernen und es funktionierte. Dieses Kind funktionierte, noch.
Nie wusste ich so wirklich wo ich hingehöre, zu Hause immer Streit, wenn mein Vater am Wochenende kam wurde sich nur angebrüllt. Mein Bruder provozierte meine Mutter unter der Woche, ihm fehlte die Respektperson, die mein Vater hätte sein soll. Mutter als Alkoholiker extrem reizbar und so gab es um es einfach zusammenzufassen praktisch immer irgendwie Streit.
Dabei ging ich irgendwie unter, ich funktionierte und es gab größere Probleme, daher wurde ich aufgeschoben. So fühlte es sich zumindest an. Auf der anderen Seite machten wir schöne Urlaube, zwar ebenfalls mit viel Streit, jedoch habe ich viel gesehen, viel gelernt und hatte das Glück viel auszuprobieren. Eine alles in allem doch eigentlich behütete Kindheit, oder nicht?

Dann der 1. Umzug. Meine Eltern wollten zusammenziehen, also ging es für meine Mutter, meinen Bruder und mich in die Hauptstadt, zur Arbeit meines Vaters. Neues Haus, neue Schule, neue Freunde und ein absoluter Kulturschock für mich. Ich weiß nicht ob andere das ähnlich empfinden, aber die Mentalität der Berliner war für mich etwas ganz neues.
Jedenfalls machten auch mein Körper und Geist dann langsam schlapp. Depressive Phasen besaß ich schon früher, habe viel in meinem Zimmer geweint, ob nur apathisch rumgesessen u.ä., doch nun kamen körperliche Symptome. Mit 13 erstmals selbst verletzt, dann Magersucht, niedrigstes Gewicht 42kg, Glück gehabt das ich nie größer als 159cm war, hab ich recht? Nach 13Jahren plötzlich mit dem Leistungssport aufgehört, ich konnte nicht mehr. Schlafstörungen, exzessives Abnehmen, immer noch Streit zu Hause und dann? Ultimativer Ausweg die Bulimie. Meine Mutter hatte sie seit knapp 40 Jahren, dementsprechend habe ich sie oft vorgelebt bekommen und nun ist sie auch mein Begleiter. Mein Leben glitt mir aus den Händen, ich wurde 15. die ersten Partys, Alkohol und Gras. Nie hatte ich ein Problem damit, mein Essen und meine Depression haben mich genug eingenommen. Ende 15 habe ich nichts mehr ausgehalten, zu Hause wurde mir alles zu viel, also ab ins Ausland. 10 Monate Kanada, Fluch und Segen zugleich. Es war eine atemberaubende Erfahrung für die ich mehr als dankbar bin, ich habe tolle Menschen kennengelernt, ein neues Land, eine neue Kultur und irgendwo auch eine zweiten Heimat. Meine Gastfamilie, unfassbar cool. Doch dann? Sexuelle Belästigung durch meinen Gastvater, meine Essstörung rastete völlig aus, ich hatte sie zwar nie wirklich im Griff aber es wurde noch extremer. Der lockdown brachte mich und meine Brasilianische Gastschwester zum kiffen, aber extrem. Wir probierten verschiedenes aus, auch chemische Drogen, bis sie nach einem Badtrip zu einem anderen Menschen wurde. So flog sie nach Hause, 2 Monate früher als geplant. Sie, als mein einziges Schild vor meinem Gastvater. Ich erzählte niemanden etwas. Meine Eltern überlegten derweil ebenfalls mich nach Hause zu holen, Corona war unsicher, niemand wusste was kommt. Dann hieß es nächste Woche fliegst du. Ich packte. Zwei Tage vor Abflug die Absage, nichts fliegt mehr innerhalb Kanadas, du bleibst. Ich fühlte mich unfassbar einsam, es kam zur Vergewaltigung durch meinen Gastvater, mein Vater rief mich zwei Wochen vor meiner Heimkehr weinend an, dazu muss ich einwerfen das mein Vater auf emotionaler Ebene einem Stein gleicht und ich ihn noch nie habe heulen sehen, und erzählt mir meine Mutter habe ihn betrogen. Mit dem Nachbarn...
Also kam ich nach Hause. Meine Essstörung mehr als präsent machte ich erstmal einen Entzug von allem möglichen durch. Es ging mir beschissen, doch niemand durfte es mitbekommen. Meine Eltern wollten es noch einmal versuchen, ein letzter Urlaub der völlig schiefging und meine Mutter zog aus. Ich begann zu rauchen, meine Eltern erkannten meine Bulimie und schicken mich zur Therapeutin. Die mir noch nicht so wirklich weiterhilft und hier bin ich nun, eigentlich ziemlich am Ende, aber irgendwie muss es doch weitergehen. Vor zwei Tagen wurden mir alle Weisheitszähne entfernt, rauchen und kotzen geht erstmal nicht, ich weiß nicht ob ich jemals so am Ende war. Ich will nichts mehr so wirklich, aber meine Eltern sind auch gegen Antidepressiva. Meine Eltern, die ich so sehr liebe, die aber auch irgendwo mein Leben zerstört haben. Sie waren immer selbstsüchtig, doch dabei auch irgendwie liebevoll.
Was in Zukunft noch kommt? Ich weiß es nicht, aber aktuell zerstört die Bulimie zusammen mit meinem Erinnerungen meinen Körper und meine Seele.

Lan Anwort von Lan

Liebe Ratsuchende,

ich danke dir, dass du uns all das anvertraut und uns deine Lebensgeschichte geschrieben hast.
Ich hoffe, du verzeihst, dass du solange auf deine Antwort warten musstest.

Zunächst einmal möchte ich dir mein tiefstes Mitgefühl mitteilen. Für all das, was du durchgemacht hast, das muss schrecklich gewesen sein. Es schockiert mich, was du in der kurzen Zeit alles erlebt hast, Höhen, aber auch Tiefen. Es tut mir echt leid, dass du all das erlebt hast, ich kann mir vorstellen, dass du darunter sehr leidest und momentan keinen Ausweg aus dem ganzen siehst. Umso froher bin ich, dass du dich jetzt an uns wendest. Ich hoffe, es hat dir ein wenig geholfen, uns davon zu erzählen. Fühle dich von mir gedrückt, wenn du möchtest.


Hilfe suchen nach sexueller Gewalt

Es ist schrecklich, dass du eine Vergewaltigung erleben musstest. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie schrecklich ich das finde, was mit dir passiert ist. Das hat wirklich keiner verdient und ist auch wahnsinnig schwer zu verarbeiten, wenn das überhaupt möglich ist. Hattest du davon überhaupt jemandem erzählt? Ich vermute mal, dass du versuchst, stark zu sein, damit sich deine Familie nicht sorgt. Ist es weil du Angst davor hast, Schwäche zu zeigen? Weil du dich ansonsten verletzlich machen würdest? Weil du Angst hast, die Kontrolle abzugeben und dich auf andere Menschen verlassen müsstest? Ergründe bitte einmal, weswegen es dir so schwer fällt, das alles deinen Eltern anzuvertrauen. Es ist viel schreckliches passiert und vor allem was Vergewaltigung betrifft, das ist etwas, worüber leider viele schweigen und sich schuldig fühlen oder schämen. Aber glaub mir: Du musst dich nicht schämen, du hast nichts falsch gemacht! Du bist ein tolles Mädchen, was Liebe und Wertschätzung verdient. Dir wurde aber schrecklich viel Leid und Schmerz angetan und das sollte nicht sein. Du bist höchstwahrscheinlich sehr traumatisiert, darum brauchst du Hilfe.

Dein Gastvater, auch wenn er in Kanada wohnt, muss dafür bestraft werden. Ich weiß nicht, ob das das erste Mal war, aber es könnte sein, dass er das wiederholen würde, wenn er jetzt nicht dafür zur Rechenschaft gezogen wird. Vor allem sollte so ein Mensch, der so etwas Schändliches tut, nicht Gastvater sein und bleiben, schließlich wäre er ja die Vertrauensperson für diejenigen, die im Ausland ein neues kurzzeitiges Zuhause suchen.

Ich finde, dass du das auf alle Fälle, auch wenn es super schwer ist, mit deiner Therapeutin besprechen solltest, wenn du das noch nicht getan hast.

Zusätzlich wäre auch der Gang zur Beratungsstelle für Opfer von sexueller Gewalt sinnvoll. Oder zumindest könntest du es mit einem Gespräch am Telefon versuchen, wenn dir ein persönliches Treffen zu schwer fallen würde. Das Personal könnte dich auch beraten, was zu tun wäre, um deinen Gastvater zur Rechenschaft zu ziehen.

Ich verlinke dir entsprechende Adressen:
https://www.frauenaerzte-im-netz.de/frauengesundheit/gewalt-gegen-frauen/was-kann-ich-nach-einer-vergewaltigung-tun/
- http://beratung-frauen-maedchen.de/beratung-fuer-maedchen.html
- https://weisser-ring.de/praevention/tipps/vergewaltigung
- https://wildwasser.de/
- http://www.zartbitter.de/gegen_sexuellen_missbrauch/Jugendliche/200_maedchen.php

Wichtig ist, dass du das nicht für dich behälst, du solltest damit nicht alleine bleiben. Du musst das nicht mit dir allein abklären, auch wenn du bisher alles allein auf die Reihe bekommen hast. Gemeinsam könnt ihr weiter überlegen, welche Schritte zu gehen sind. Wenn du deinen Eltern davon nicht erzählen willst, dann vielleicht deinen Freunden und Freundinnen? Das löst zwar nicht alle Probleme, aber es kann schon eine Erleichterung sein und du wirst sehen, dass dich das auch stärkt.
Deine ganze Geschichte klingt für mich nach einem Hilfeschrei und ich kann fühlen, dass dir das alles zu viel wird. Und es ist absolut okay, wenn du jetzt mal schwach wirst und nicht immer das starke Mädchen sein kannst, das warst du ein Leben lang. Es wird Zeit, dass du diesen Panzer von dir lässt und dir unbedingt Hilfe suchst, denn die brauchst du unbedingt!


Hier sind noch weitere Links, die dir weiterhelfen können:
https://mein-kummerkasten.de/331177/Vergewaltigung.html
https://mein-kummerkasten.de/332823/Ich-wurde-vergewaltigt.html


Essstörung

Du schreibst, dass dir deine Therapeutin auch nicht wirklich weiterhilft. Das ist natürlich sehr deprimierend, wenn man das Gefühl hat, dass man auf der Stelle tritt. Du solltest das unbedingt mit ihr besprechen und dich auch darüber beraten lassen, ob du eventuell eine neue Therapeutin bekommst. Kommt dir in den Sinn, warum du denkst, dass es nichts bringt? Woran machst du das fest? Und wie sieht es deine Therapeutin? Vielleicht ist es mit euch nicht kompatibel oder es ist nicht die richtige Therapieform?

Du könntest auch noch mal mit ihrer bezüglich der Antidepressiva reden, welche Folgen das für dich hat und ob sie dir helfen. Wenn ja, könnte da auch mit den Eltern gesprochen werden.

Ich weiß nicht, wie lange du schon in Therapie bist, aber wenn es erst seit kurzem ist, kannst du nicht erwarten, dass es nichts bringt. Das alles zu verarbeiten, das dauert sehr lange, je nachdem wie tief der Schmerz sitzt. Und ich kann mir vorstellen, dass du da mit echt viel zu kämpfen hast. Das braucht Zeit, zu verarbeiten und damit abzuschließen. Darum bitte ich dich, nicht vorschnell zu urteilen! Du musst der Therapie Zeit geben und dich auch dafür öffnen und die Hilfe zulassen.
Hier wäre noch etwas zum Weiterlesen für dich:
https://mein-kummerkasten.de/315026/Ich-will-nicht-mehr-leben-und-in-keine-Klinik.html


Alles alleine schaffen von klein auf

Das stimmt mich sehr traurig, dass du schon von klein auf das Gefühl hattest, dich auf niemanden und nur auf dich verlassen zu können. Vor allem als Kind sollte man sich nicht fühlen, man sollte anderen Menschen und der Familie vertrauen und sich auf sie verlassen können.
Ich kann mir vorstellen, dass dich die Streitigkeiten zuhause sehr mitgenommen haben. Auch hast du sicherlich auch unter der Alkoholsucht deiner Mutter und der Abwesenheit deines Vaters gelitten. Das ist echt hart.

Es ist bewundernswert, dass du dennoch auch die positiven Seiten siehst und von einer eigentlich behüteten Kindheit sprichst. Für mich liest es sich leider nicht so, da gab und gibt es einige Probleme in der Familie und auch Streitigkeiten sollte man nicht außer Acht lassen, die können sich stark auf die kindliche Psyche auswirken. Ich habe das aus eigener Erfahrung gelernt, kam ich auch aus einer Familie mit einem Alkoholiker als Stiefvater, wo sich nur noch gestritten wurde. Ich kann es also etwas nachempfinden, was du durchmachst.


Mit den Eltern sprechen

Du schreibst, dass deine Eltern gewissermaßen auch an allem schuld sind. Harte Vorwürfe, aber ich kann verstehen, warum du so denkst und fühlst. Da ist noch sehr viel im Argen zwischen dir und deinen Eltern, was aufgearbeitet werden sollte. Vielleicht wäre der Besuch einer Familienberatungsstelle oder eines Familientherapeuten für euch ratsam. Dort könntet ihr euch den Konflikten und den Problemen, die ihr miteinander habt, stellen. Und vielleicht hilft das auch, dann mit einigen Dingen abzuschließen. Ihr solltet auf jeden Fall mal miteinander offen über alles reden, das kann befreiend sein.


Am Leben festhalten

Ich kann verstehen, dass du sehr unter deinen Erinnerungen und Problemen zu leiden hast. Das ist auch unglaublich schlimm, was dir widerfahren ist. Aber bitte gib nicht auf, halte an deinem Leben fest! Es gibt ein Licht am Ende des dunklen Tunnels, auch wenn es noch nicht so aussieht. Dass du zumindest therapeutische Hilfe annimmst, ist schon ein wahnsinnig wichtiger Schritt. Ich finde es toll, dass du das machst und daran arbeitest, besser mit allem zurechtzukommen. Du stellst dich deinen Problemen. Es ist schwer und manchmal unerträglich, dann willst du vielleicht alles beenden, nur weglaufen. Aber es lohnt sich, dass du dran bleibst, es wird besser werden, du wirst lernen, mit den schlimmen Erfahrungen und Problemen besser umzugehen und kannst wieder ein besseres Leben führen. Dafür musst du aber dran bleiben und kannst auch noch andere Hilfsangebote annehmen. Es gibt verschiedene Wege und du kannst entscheiden, welchen Weg du gehen willst.


Ich wünsche dir von Herzen alles Gute und ganz viel Kraft und Mut, das alles durchzustehen. Wenn du noch Fragen hast oder etwas loswerden magst, schreib uns gern.

Viele Grüße,
Lan