Problem von Anonym - 29 Jahre

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Liebes Kummerkasten Team

Nach gut 15 Jahren melde ich mich hier erneut. Mir ist wohl bewusst dass meine damaligen Texte welche ich Euch schrieb weder in Erinnerung geblieben sind noch dass man diese auf die Schnelle im Archiv findet. Zu dieser Zeit schrieb ich über die familiären Probleme welche besonders meinen Vater betrafen, eine sich nie ändernde Geschichte die sich zäh und mühsam mit in die Zukunft gezogen hat. Dieses zähe Band ist jedoch nicht mehr so dick oder gar präsent genug dass es mich noch sehr belastet, aber es gibt diese ganz seltenen Tage, oder gar kürzere Phasen, so wie im Moment, wo ich die Flashbacks fast nicht mehr aushalte.
Um ehrlich zu sein, möchte ich Euch schreiben damit ich es jemandem mitteilen konnte, ich gehe weder in Therapie noch möchte ich meine engsten Freunde oder meine Familie mit diesen Gefühlen und Gedanken belasten... und ich glaube auch nicht, dass überhaupt jemand die exakte Geschichte kennt geschweige denn, dass ich jemals einen Moment finde wo es überhaupt irgendwo im Leben seinen Platz findet um erzählt zu werden... Ich würde es aber gerne erzählen, es loswerden, einfach irgendjemandem sagen der mir zuhört und ja, am Besten jemand den ich nicht kenne, völlig anonym.

Ich hoffe, das geht in Ordnung... Vielen Dank.

Ich bin in äusserst stabilen und glücklichen Familienverhältnissen aufgewachsen. Meine Eltern waren beide wunderbar in ihrer Erziehung und in der Liebe welche sie meinem Bruder und mir schenkten, uns mangelte es nie an irgendetwas.
Mein Vater veränderte sich jedoch nachdem sich meine Mutter von ihm scheiden lies.
Ich musste damals elf oder zwölf Jahre gewesen sein. Mein Vater entwickelte sich zu einem weinerlichen, labilen Menschen der seitdem meine Mutter auszog sehr jähzornig wurde und viel trank. Neben einem gescheiterten Selbstmordversuch bat er mich stets darum, dass ich ihm helfen solle dass seine Frau, meine Mutter, zu ihm zurückkehre.
So sehr ich das auch ernst nahm und ich es versuchte, dies nahm mich aber nicht arg emotional mit. Mir war klar damals, dass solche Dinge im Leben nun einmal passieren und ich hatte wenig Probleme mit ihrer Trennung, mehr mit dem Verhalten meines Vaters. Er tat mir klar Leid und ebenso versuchte ich mit meiner Mutter zu reden, doch sie erklärte mir sehr sachlich dass es für sie an der Zeit ist diese Ehe zu beenden, sie aber nicht möchte dass mein Bruder oder ich mit in ihre Probleme mit einbezogen werden.

Mein Vater fing sich dann wieder als er eine neue Partnerin fand. Er schien wieder glücklich und einigermassen stabil.
Er wurde danach aber erst recht anders als ich in die Pubertät kam, ein oder zwei Jahre später. Meine Schulzeit war nicht angenehm, ich war ein typisches Mobbingopfer. Klein, übergewichtig und halt nicht sehr schlagfertig. Ich wurde sehr ruhig in der Zeit und verkroch mich auch aus Scham oft in meinem Zimmer. Mein Vater bemerkte meine Veränderung und versuchte mit mir zu reden, ich erklärte ihm schlicht, dass ich mich in meinem Körper nicht sehr wohl fühle, dass ich mich als zu dick empfinde.
Dort fing er an komisch zu werden. Er begann, mich nach dieser Aussage immer wieder anzufassen, auch an stellen wo man sein Kind nicht anfässt und er erklärte mir, wie weiblich ich sei und wie attraktiv meine Kurven schon in solch jungen Jahren waren. Was von seiner Seite ein Kompliment hätte gewesen sein sollen und wohl zur "Aufmunterung" hätte dienen sollen war für mich ein absoluter Schock. Zumal er es nicht einmal tat, sondern immer wieder. Wenn ich mich weigerte zu reden, rastete er komplett aus, schrie mich an und weinte danach bitterlich, manchmal wurde er handgreiflich ehe er in einem Weinkrampf verfiel.
Um ehrlich zu sein, weiss ich bis heute nicht ob ich ihn bemitleiden soll oder gar nichts für diesen Menschen empfinden sollte. Ich schrieb Euch in dieser Zeit, ging jedoch nicht all zu sehr ins Detail, vielleicht auch als Furcht vor der Wahrheit. Mein Vater hatte zu dieser Zeit einen Spion in meinem eigenen Computer gesetzt womit er jeden Mausklick nachverfolgen konnte und konnte somit auch nachsehen, was ich euch geschrieben habe.
Zu dieser Zeit, vor ca 15 Jahren, hat mir eine nette Dame aus eurem Team geantwortet und mir Mut gemacht sowie Tipps gegeben wie ich mir am besten Hilfe holen könnte.
Ein paar Tage später erhielt ich eine private Mail mit dem Namen dieser Frau. In dieser Mail wurde geschrieben, dass es nicht in Ordnung sei so über seinen eigenen Vater zu schreiben und was mir denn eigentlich einfalle, denn mein Vater liebt mich doch. Ich habe mit dieser Dame hin und her geschrieben und bekam plötzlich Zweifel an dem, was ich meinem Vater gegenüber empfand. Mir war das ganze zwar suspekt, ich habe mir aber nicht viel dabei überlegt. Erst, als ich an den Computer meines Vaters musste um etwas auszudrucken, fand ich diesen Mail Verlauf von dem angeblichen Kummerkasten Mitglied und mir und musste mit Erschrecken feststellen, dass er sich mit einer Fake E-Mail als diese Frau ausgegeben hat und mit mir diesen E-Mail Verlauf geführt hat. Ausspioniert und hinters Licht geführt, warum er das auch immer getan hat. Ich habe ihn nie darauf angesprochen. Ich machte dieses Spiel mit ihm solange mit, bis er mich auf die Strasse setzte weil ich irgendwann mir das ganze nicht mehr gefallen lassen wollte. Mir ist klar dass mein Verhalten zu dieser Zeit äusserst aggressiv und ebenso jähzornig war was auch der Grund war, warum er mich auf die Strasse setzte.
Meine Mutter nahm mich dann auf, da musste ich 14 Jahre gewesen sein und ich begann über alles zu reden, nur nicht über seine körperlichen Übergriffe.
Meine Mutter begleitete mich zur Therapie, in welcher sie mich anmeldete und ich das ganze erzählen und aufarbeiten konnte.
Es ging mir zu dieser Zeit nicht gut und ich empfand auch keinerlei Wille mehr weiterzumachen, besuchte die Schule seit Wochen nicht mehr und lief die ganze Zeit von zu Hause weg, denn auch meine Mutter war überfordert und mit ihrem Latein am Ende, so sehr sie sich auch bemühte.
Ich plante meinen Selbstmord indem ich mich von dem Gebäude in welchem wir wohnte stürzen wollte. Ich plante diesen Versuch über Wochen, suchte mir das Datum aus und schrieb meine Abschiedsbriefe. Ich war bereit und ich erinnere mich, wie sehr ich mich auf diesen Tag freute.
Es muss Schicksal gewesen sein, denn an diesem sogenannten Tag wartete ich darauf bis meine Mutter das Haus verlies, ich tat so als würde ich in die Schule gehen, worüber sie sich sehr freute, und ich versteckte mich an einem sicheren Ort wo sie mich nicht sieht, Ich sah wie sie in die Garage lief wo ihr Auto stand, also wartete ich einen Moment ehe ich mich dann wieder in das Gebäude begab um mich dann vom obersten Stockwerk zu stürzen.
Es ist schon fast ironisch, dass meine Mutter ausgerechnet an diesem Tag ihre Autoschlüssel in der Wohnung vergessen hatte und nach minutenlangem Suchen dann wieder in die Wohnung zurückkehren wollte, welche ebenso im obersten Stockwerk war und mich dort oben stehen sah. Ihr war sofort bewusst was los war und alarmierte meine Therapeutin. Da meine Mutter kurz davor war ihren Job zu verlieren da sie durch meine nicht endenden Strapazen oft zu Hause blieb um auf mich acht zu geben, musste sie meinen Vater anrufen der auf mich acht geben soll bis meine Therapeutin sich Zeit nehmen konnte um mich bei sich aufzunehmen und für mich einen sicheren Platz in einer Klinik zu finden.
Mein Vater nahm mich zu sich nach Hause und ich rebellierte in seinem zu Hause, fühlte mich unwohl und hatte grosse Angst vor ihm. Er wurde handgreiflich und wir schlugen gegenseitig auf uns ein, er demonstrierte mir dass er stärker war und versuchte mir bewusst den Arm zu brechen womit er mir auch drohte. Zum Schluss war mein Arm zum Glück nur verstaucht und es war eine Prellung übrig geblieben.
Ich sagte ihm an diesem Tag, dass ich alles sagen werde was er tat, ich drohte ihm aus Angst, aus Panik oder aus welchen Gründen ich auch immer dachte dass es klug wäre ihm das zu sagen. Er lachte mich aus und meinte daraufhin, dass ich sowieso krank sei, dass alles was ich denke was er mit antat nur reine Halluzination war da ich in seinen Augen krankhaft schizophren bin... Und diese Schizophrenie Geschichte zog sich über unsere ganze Familie nachdem ich eingewiesen wurde bis hin zu meinen Therapeuten, er erzählte allen, dass ich lüge und dass ich halluziniere, dass etwas mit mir nicht stimmt und ich dringend Hilfe benötige weil er, als mein Vater, mich liebt und sich sorgen macht.
Ich bin nicht schizophren, wurde nie damit diagnostiziert und ging auch Jahre später noch zu verschiedenen Therapeuten um diese Frage zu stellen ob ich wirklich schizophren sei, denn ich zweifelte manchmal wirklich daran, ob das was er mit mir tat, nur reine Halluzination war und nicht die Realität. Ich habe sogar versucht die Beziehung zu ihm von neuem aufzubauen, doch dieses Unbehagen um ihn war stets da und er machte auch Jahre später sexuell anzügliche Kommentare wo ich mir dann wieder bewusst wurde, dass all das, was er tat, wirklich so war. Es dauerte fast mein halbes Leben um mir selbst und meinem Verstand derart Vertrauen und Selbstbewusstsein zu geben, dass ich all das was war, nicht verleugnen soll, muss oder kann.
Ich habe nie eine Diagnose gekriegt, von keinem Therapeuten.
Ich besitze durch diese Zeit welche ich in Kliniken verbrachte keinen Schulabschluss und habe eine grosse Lücke in meinem Lebenslauf. Ich habe es erst dieses Jahr geschafft meine berufliche Grundausbildung abzuschliessen und werde nun weiter intern weitergebildet und verdiene ein Gehalt mit welchem ich sehr zufrieden bin.
Es ging ja gegen Ende alles gut aus... aber an Tagen wie heute verfolgen mich diese Flashbacks und ich bin nicht fähig irgendetwas zu tun.
Ich schnitt mit mehrere Male in der Zeit als ich in der Klinik war mein Gesicht voll in der Hoffnung, ich erkenne meinen Vater nicht mehr im Spiegel, solche Erinnerungen kommen auf und halten mir im ersten Moment die Luft an bis ich diesen Flashback verdaut habe.
Und manchmal blicke ich zurück und überlege, was ich alles hätte besser machen können wenn ich mich nicht die ganze Zeit damit beschäftigt hätte zu erfahren, ob das was mein Vater tat Realität oder Halluzination war.

Ich habe ihn zum allerersten Mal im Sommer diesen Jahres zur Rede gestellt, aus dem Nichts. Er meinte dann, es wäre an der Zeit, dass er mir alles erklärt und ich die Wahrheit erfahre. Ich kenne seine Wahrheit. Seine dummen `Wahrheiten` die aus irgendwelchen Lügen und Schuldzuweisung an anderen gehen. Er hat ja nie etwas falsch gemacht und hat wohl mit seinen Berührungen und Küsse, die man seinem Kind auf diese Art nicht gibt, ja sowieso nie etwas falsch gemacht. Ich meinte dann zu ihm, dass ich auf seine Erklärung verzichte und es mir völlig gereicht hätte, wenn er sich einfach nur entschuldigt hätte, dass ich nicht mehr von ihm erwartet habe als dass er sich nach so vielen Jahren einfach schlicht entschuldigt. Er hat sich nicht entschuldigt.

Ich weiss nicht wer sich das durchliest. Ich erwarte auch keine Antwort.
Ich bin nur dankbar, an Tagen wie heute, dass ich es irgendjemandem erzählen kann, den Frust, die Trauer und auch ein bisschen den Hass mir von der Seele schreiben durfte.

Ich bedanke mich herzlich, wer auch immer mir gerade `zugehört` hat.

Vielen Dank.

Stephanie Anwort von Stephanie

Hallo liebe Schreiberin,

auch wenn du nicht damit gerechnet hast schreibe ich dir sehr gerne zurück. Denn ich kann mich an deine Zuschrift erinnern. Mit kleinen und großen Unterbrechungen bin ich im Kummerkasten seit 2004 und gerade solche Zuschriften vergisst man nie wieder.

Es tut mir wahnsinnig leid zu lesen wie du auch heute noch mit den Erinnerungen zu kämpfen hast wenn sie hoch kommen.
Aber du hast es damals geschafft von ihm weg zu kommen nach allem was er dir angetan hat. Auch das du kein Gespräch mit ihm mehr darüber halten wolltest, zeigt mir das du eine starke tolle Persönlichkeit geworden bist. Trotz der Höhen und Tiefen, die Erlebnisse mit deinem Vater, das er dir so hinterher spioniert hat und dich mit falschen Mails getäuscht hat bis hin zum Versuch dein Leben beenden zu wollen.

Du stehst jetzt hier und bist eine wunderbare Frau geworden die versucht nach vorne zu schauen.

Bitte halte daran fest und verliere nie deine Ziele aus den Augen.

Lass die Vergangenheit nicht dein weiteres Leben bestimmen. Lass deinen Vater hinter dir, das was er dir angetan hat, hätte niemals passieren dürfen. Er hatte die Aufgabe dich zu beschützen und für dich da zu sein. Eine Ausrede oder Entschuldigung für seine Taten gibt es einfach nicht!

Ich nehme an das du eine Therapie zur Aufarbeitung ablehnst? Ich halte es aber für sinnvoll darüber noch einmal nachzudenken wenn dich die Erinnerungen stark einschränken und dich runter ziehen.

Wenn es hoch kommt, schreib es auf und verbrenn es. Versuch dich abzulenken mit Musik, ein schönes Buch lesen, spazieren gehen...wenn es zu doll hochkommt.

Lass nicht zu das er dein Leben bestimmt.
Schreib uns ruhig wenn es dir gut tut und dir hilft damit besser umzugehen.

Wenn du mit den Menschen aus deiner Umgebung oder deinem Freundeskreis nicht sprechen möchtest, kann ich das nachvollziehen aber vielleicht wäre es auch mal gut mit einer vertrauten Person darüber zu sprechen und in den Arm genommen zu werden wenn die Tränen laufen.
Mach nicht alles mit dir selbst aus. Du warst niemals Schuld an dem was dein Vater dir angetan hat! Du bist gut und toll so wie du bist, bitte vergiss das niemals.

Ich kenne solche Erinnerungen und ich weiß wie schwer es ist darüber Herr zu werden und sie zu verdrängen.

Es gibt Tage da klappt es super und dann wieder graue dunkle Tage wo es einen innerlich auffrisst. Aber wir kämpfen für die guten Zeiten und diese werden immer mehr werden wenn wir mit der Vergangenheit abschließen und unsere Zukunft planen und vollpacken mit tollen Erlebnissen und schönen Momenten die uns ein Lächeln ins Gesicht zaubern.

Ich bin einfach sehr stolz auf dich. Du hast deine Ausbildung geschafft und gehst deinen Weg nun weiter. Halte daran fest und mach das was dir gut tut.

Ich würde mich wirklich sehr freuen wieder von dir zu lesen.

Liebe Grüße
Stephanie