Problem von Anon/K - 19 Jahre

Konzentrationmangel und Selbstzweifel im Studium

Hi,
Ich weiß ich bin erst 19 und noch recht jung um sowas zu sagen und ich weiß dass ich irgendwann schon irgendwas finden werde was zu mir passt aber ehrlich gesagt fühle ich mich aktuell komplett perspektivenlos.
Ich habe nach dem Abi direkt angefangen Physik zu studieren, das hat teilweise wegen Corona, teilweise einfach so, nicht so richtig hingehauen. Ich hatte Probleme dem Stoff zu folgen usw. Hab daraufhin zu Bio gewechselt. Das klappt vom Verständnis her zwar schon deutlich besser, zeigt mir aber mein eigentliches Problem auf.
Ich habe absolut nicht die Fähigkeiten dazu in Vorlesungen aufzupassen für Intervalle die länger als drei Minuten sind. Wenn ich weiß worum es geht wird es schnell langweilig, wenn ich absolut keine Ahnung habe sowieso. Ist der Prof dann auch noch ein langsamer Redner kann man mich von dieser Vorlesung direkt komplett abschreiben. Meine Aufmerksamkeitsspanne ist unglaublich kurz. Ich werde extrem schnell gelangweilt und das so sehr dass es mir körperliche Schmerzen bereitet. Ich fühl mich dann irgendwie gefangen in meinem Kopf.
Den meisten Stoff muss ich mir also selber irgendwie durch Nacharbeiten oder Bücher beibringen. Das funktioniert halt so halb. Für jede Vorlesung nehme ich mir Aufmerksamkeit und Konzentration vor aber es wirkt unmöglich. Ich weiß nicht wie ich mit meinem Kopf jemals irgendetwas lernen soll. Vor allem weil ich ja auch komplett von zu Hause studiere.
Hinzu kommt dass ich absolut keine Ahnung habe was ich mir von dem Biologiestudium erhoffen soll. In Physik hatte ich ehrliche Interessen, in Biologie ist es mehr so ein raues Grundinteresse aber keine Sachen die mich wirklich brennend interessieren. Ich bin wirklich verzweifelt.

Nuala Anwort von Nuala

Hallo du!

Oh ja, das sind quälende Zustände. Ich kann das gut nachempfinden. Das Gefühl von Perspektivenlosigkeit kann sehr ekelhaft und niederdrückend sein!
Mit deinem Alter hat diese Feststellung erstmal nichts zutun. Du hast selbstverständlich das Recht, solche Empfindungen zu haben - auch als deutlich jüngerer Mensch, als du es bist.
Ich möchte dir eines vermitteln: Egal wie undurchsichtig, demotivierend und nervenaufreibend dein Studium momentan ist: Es ändert nichts an deinem Wert als Mensch. Du hast eine große Herausforderung zu meistern, es sagt aber nichts darüber aus, was du nicht noch alles schaffen kannst! Und du bist per se gut so, wie du bist, mit allen Makeln und Macken. Du bist dabei, mit der gegebenen Problematik zu arbeiten und Lösungswege zu entwickeln. Der erste Schritt war, dass du sie erkannt und dich dafür entschieden hast, dich an uns zu wenden. Nun kann es weitergehen und ich bin dir gerne behilflich dabei. :)

Ich sehe bei dir zwei Problembereiche: Zum Einen die Frage, was das für dich passende Studienfach ist. Zum Anderen, wie du dem Stoff gut folgen und damit ein erfolgreiches Studium absolvieren kannst.
Beides hängt zusammen - allerdings nicht vollständig. Du kannst zwar einerseits das Studienfach an sich sehr mögen, aber trotzdem Schwierigkeiten beim Lernen haben - oder umgekehrt. Die Herausforderung besteht für dich also offenbar darin, eine Harmonie in diese Situation zu bekommen, sodass du dich erfüllt, selbstwirksam fühlen und dein Tun als sinnvoll empfinden kannst. Und damit einhergehen würde dann bestenfalls der Erfolg (das ist aber nicht zwingend so, weil da mehrere Aspekte hineinspielen).

Ich komme zunächst zum Thema Wahl des Studienfachs.
Irgendwie hören sich beide Fächer nicht danach an, als wärst du dort schon grundrichtig. Möglicherweise kommt hier aber der zweite Faktor zum Tragen, der sich auf deine Aufmerksamkeitsproblematik dreht. Dazu gleich mehr. Soviel vorab: Es ist schon eine wichtige Voraussetzung, eine gewisse Begeisterung, einen Eifer in der Ausbildung bzw. im Studium zu verspüren. Mindestens der angestrebte Abschluss und die beruflichen Ziele sollten anspornen und motivieren, weil man weiß, dass man den Beruf sehr gerne ausüben möchte und die nötigen Fähigkeiten und Fertigkeiten aufweist bzw. zu erwerben bereit ist. Wenn das gegeben ist, kann man sich auch gut "durchbeißen" und die heiklen Phasen eines Studiums durchstehen. Man weiß dann einfach, wofür man sich "hingibt". Wenn man beides nicht hat, also weder den Enthusiasmus während des Studierens noch für die Zeit danach, wird es kritisch. Das wäre für mich dann schon so ein Indikator zu sagen: Neuorientierung ist angesagt! Schau bitte, wie es bei dir damit bestellt ist - bei Physik und Biologie.

Wie du selbst schon geschrieben hast, bist du noch sehr jung. Es ist schon eine Leistung an sich, sich neu auszurichten und sich an ein neues Lern- und Lehrsystem anzupassen. Hier kannst du einfach stolz auf dich sein! Auch denkbar: Dass es einfach noch zu früh für dich sein könnte, das richtige Studienfach herauszufinden. Viele müssen sich erstmal in unterschiedlichen Bereichen ausprobiert haben und verschiedene Erfahrungen gesammelt haben, bevor sie ein konkretes Fach als dasjenige herausfinden können, das gut zu ihnen passt. Du könntest auch viel basaler ansetzen und dich fragen: Muss es denn ein Studium sein? Was ist mit einer Ausbildung? Was ist mit einer Orientierungsphase durch Praktika, Freiwilligendienste, Auslandsaufenthalte...?

Und dann noch die Irren und Wirren durch Corona - und der ganz normale "Erwachsenwerden-Wahnsinn". Ich kann mir vorstellen, dass das alles zusammengenommen sehr viel ist und erschwert, dass du die Dinge klar für dich erkennen kannst. Vielleicht ist es sogar so, dass die wahren Ursachen komplett außerhalb der Uni zu suchen sind! Sorgen in anderen Bereichen können so weite Schatten werfen, sodass sich die Konzentration kaum halten lässt. Sollte es dir außerhalb der Uni soweit okaygehen und du auch keinen Verdacht haben, dass dich etwas aus deiner Vergangenheit auf negative Weise begleitet, kannst du die Ursachensuche auf deine "persönliche Ausstattung" bzw. die Studienwahl an sich eingrenzen.

Jetzt komme ich zum zweiten Aspekt rund um Konzentration/Aufmerksamkeit/Lernen.
Möglicherweise bist du überfordert mit den Inhalten und/oder der Art und Weise der Darbietung. Beides solltest du für dich erforschen, um den Ursachen in deinem Fall näherzukommen. Es könnte sein, dass bei dir AD(H)S vorliegt. Schau dir bitte die unten verlinkten Infoseiten an.
Es ist aber auch das Gegenteil von Überforderung möglich --> Vielleicht überrascht dich mein Vorstoß, doch hast du dich schon einmal damit auseinandergesetzt, dass du hochsensibel und/oder hochbegabt sein könntest? Die Beschreibung deiner schnellen Langeweile in zwei verschiedene Richtungen, die Selbstzweifel und dein "Streiken", wenn jemand langsam vorträgt, könnten Indizien für Hochbegabung sein. Diese Aussage finde ich sehr bezeichnend: "Wenn ich weiß worum es geht wird es schnell langweilig, wenn ich absolut keine Ahnung habe sowieso." Eventuell bist du ein:e Underachiever:in, als jemand mit hohem geistigen Potenzial, das aber nicht (voll) ausgeschöpft werden kann.
Auch Reizüberflutung kann die Aufmerksamkeit herabsenken, was hochsensible Menschen sehr gut kennen. Bei hochbegabten trifft dies auch zu, kann aber auch deutlich abgeschwächter auftreten (die Übergänge sind fließend). Ich empfehle dir sehr, dieser Idee nachzugehen - denn sobald man sich mit einem Phänomen genauer auseinandersetzt, bekommt man in der Regel relativ schnell ein Gespür dafür, ob man selbst betroffen ist oder nicht. Vielleicht trifft nichts auf dich zu, was aber wiederum hilft, anderweitig weiterzukommen. Entscheidend wäre ja auch, ob du nicht nur im Uni-Kontext Auffälligkeiten bei dir festgestellt hast. Wenn es sich rein auf das Universitäre bezieht, liegt die Vermutung nahe, dass es an den Fächern bzw. der Präsentation der Inhalte liegt (und dann wäre wieder die Frage, ob es sich für einen angestrebten Abschluss lohnen würde, sich durchzubeißen).

Hier ein paar Literaturtipps (es gibt noch viel mehr):
- https://logios.de/hochbegabte-erwachsene/
- Kluge Köpfe krumme Wege?(Andrea Schwiebert)
- Bücher von Manon Garcia und Andrea Brackmann
- https://www.mind-hochschul-netzwerk.de/
Analog solltest du dich, wie oben schon erwähnt, mit AD(H)S befassen.
- https://www.adhs-infoportal.de/adhs-bei-erwachsenen/symptome-von-adhs
- https://www.unicum.de/de/studentenleben/zuendstoff/studieren-mit-adhs-geht-das
- https://www.studienscheiss.de/lernen-mit-adhs/
Und generell zum Thema Berufswahl, Orientierung, Lernen & Beratung:
- https://www.nach-dem-abitur.de/
- https://aljoscha-neubauer.com/buecher/
- https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/TEST/HALB/Test.shtml
- https://www.studentenwerke.de/de/content/psychologische-beratung
Unsere Soforthilfe zum Thema Selbstzweifel:
https://mein-kummerkasten.de/Soforthilfe/34/Selbstzweifel.html
Und aus unserem Archiv z.B.:
- https://mein-kummerkasten.de/17975/Hilfe-ich-schaffe-die-Pruefung-vielleicht-nicht.html
- https://mein-kummerkasten.de/333319/ueberfordert-mit-Studium-Studienumfeld-und-Zukunftsaussichten.html
- https://mein-kummerkasten.de/331407/Versagensangst.html

Was übergeordnet hilfreich sein kann: Eine Auszeit zu nehmen, was schon im kleinen Stil geschehen kann. Viele Verschnaufpausen am Tag, bewusste Zeit für das Reflektieren und Achtsamsein. Spazierengehen in der Natur. Eine kleine Reise unternehmen, um einen Orts- und Situationswechsel zu erreichen. Ich habe damit sehr gute Erfahrungen gemacht - vor allem noch in der Kombination mit anderen Menschen, mit denen ich lange Gespräche über meine Sorgen und besondere Lagen führen konnte. Die Einschätzung von Nahestehenden kann Gold wert sein, auch wenn sie natürlich nicht dein Bauchgefühl und deine eigene Einschätzung ersetzen kann.
Ich empfehle dir, dir ganz bewusst ein "innerliches Hinhorchen und Zurücktreten" vor der aktuellen Situation vorzunehmen. Die Weihnachtstage eignen sich möglicherweise gut, sich erholen zu können, mit Verwandten und Freund:innen in den Austausch gehen und bei gemeinsamen Aktivitäten auf neue Ideen und Eingebungen zu kommen. Auch das aktive Alleinsein kann hier einen Platz finden. Du kannst dich z.B. für ein paar Stunden ausklinken und z.B. mit Stift und Papier deinen eigentlichen Wünschen und Träumen nachzugehen. Oder du spazierst für dich alleine durch ruhige Gegenden und lässt alles auf dich wirken. Ein längerer Waldspaziergang ohne Handy und andere Ablenkungen erdet sehr und lässt das aufsteigen, was in uns schlummert.

Ich wünsche dir viele spannende Entdeckungen und Erkenntnisse sowie erste Ansätze zur erfolgreichen Bewältigung deiner Herausforderung. Du kannst uns jederzeit wieder kontaktieren.

Sei lieb gegrüßt,
Nuala