Problem von Anonym - 18 Jahre

Warum eigentlich ich?

Hey. Vorab möchte ich mich aufrichtig unheimlich für dieses Netzwerk bedanken. Vor bereits 3 Jahren als ich gerade 15 wurde habe ich hier eine Hilfestellung bekommen, die mich unheimlich weiter gebracht hat in Bezug auf mich selbst. Leider hört es aber meist nicht auf sondern es geht als weiter. Ich finde den Schritt sogar hier so anonym nach Hilfe zu fragen schon ziemlich schwer, finde aber ich muss den jetzt mal gehen, denn sonst komme ich nicht weiter in meinem leben. Es ist so, dass ich befürchte (eigentlich falsches Wort) dass ich Bi bin. Daran ist unter keinem Umstand was falsch und ich habe größte Bewunderung für all diejenigen, die es schaffen, damit umzugehen und auch auszuleben - mein größter Respekt. Ich habe eine Freundin, für die ich nicht viel empfinde, weil es so von mir erwartet wurde und ich es auch einfach nicht geschafft habe, nein zu sagen. Daran muss ich arbeiten und es möglich schnell klarstellen, dennoch bin ich Bi, weiß aber nicht, wie ich damit jetzt umgehen soll weil es für mich eigentlich keine Option ist das in meinem Leben zu etablieren, aber ich auch nicht weiß wie zur Hölle ich glücklich werden soll, wenn ich das nicht tue. Dabei ist das Problem wirklich nicht mein Umfeld, alle meine freunde sind unglaublich tolerant allem mit LGTBQIQ in Verbindung stehenden Zeug gegenüber und meine Eltern betonten zuvor auch immer, dass ich gerne ein Mädchen - oder auch einen Jungen mit nach Hause bringen könnte. Nur könnte ich es mir nicht vorstellen als derjenige angesehen zu werden der anders ist. Warum muss das denn jetzt ich eigentlich sein, reicht doch irgendwann... denn falls ich das jemals ausleben sollte, wird man mich anders sehen. Dann bin ich nicht mehr der, für den mich alle halten, der, der seit 9 Jahren immer zum Klassensprecher gewählt wurde. Ich weiß, es verändert sich nichts aber natürlich werden Leute mich anders wahrnehmen und das möchte ich irgendwie auch einfach nicht, ich möchte am liebsten dass das gar kein Thema ist und ich mich damit nicht so auseinandersetzen muss sondern so seien kann wie alle Anderen. Ich frage mich, was ich tun kann, dass ich das Problem von mir selbst, mich damit abzufinden und es zu akzeptieren und wenn nötig auch durchzusetzen, lösen kann. Ich würde mich echt freuen, wenn ich dazu irgendwie Hilfe bekommen würde. Viele Grüße und alles Gute

Lan Anwort von Lan

Lieber Ratsuchender,

danke für deine Nachricht und dein Vertrauen.
Das war auf jeden Fall ein sehr mutiger und starker Schritt, dass du uns geschrieben hast. Dankeschön dafür. :) Ich hoffe, ich kann dir mit meiner Nachricht helfen.

Wenn ich das richtig verstanden habe, glaubst du, dass du sehr wahrscheinlich bisexuell orientiert bist. Das an sich wäre für dich kein Problem. Für dich ist das Problem, wie die Leute dich anders wahrnehmen, wenn du deine Sexualität auslebst und dich als bisexuell outest.

Zunächst einmal: Du bist nicht ganz sicher, ob du bi bist, oder? Du glaubst es. Dann wäre mein erster Ratschlag: Finde es erstmal heraus. Finde dich selbst und finde heraus, wie und wen du liebst. Es gibt mehrere Möglichkeiten, wie du das herausfindest: Indem du dich selbst ausprobierst, dich damit beschäftigst, dich informierst, mit anderen, bisexuell sind oder bisexuelle Erfahrungen gesammelt haben. Es kann sein, dass das nicht sofort klappt. Für viele ist es nicht sofort ersichtlich, dass sie bi sind. Manche hadern mit sich und brauchen Zeit, um das zu erkennen und anzunehmen. Setz dich nicht unter Druck, gib dir selbst Zeit, herauszufinden, ob du bi bist oder nicht.

Warum stört es dich denn so sehr, wenn die anderen dich anders wahrnehmen? Hast du Angst vor Bewertung und Ablehnung?
Als Jugendlicher/e ist es normal, dass geschaut wird, wie wirkt man auf andere, kommt man gut an, ist man beliebt. Oder ganz einfach die Frage: Was denken die anderen über mich?

In der Jugend orientiert man sich meist im Außen, dabei wäre der Blick ins Innere viel wichtiger. Es ist nicht entscheidend, ob es anderen gefällt, wie du bist, wie du liebst und wer du bist. Wichtig ist nicht die Wahrnehmung und Meinung der anderen. Davon mal abgesehen, kannst du dich noch so sehr ändern und wirst nicht allen Erwartungen entsprechen. Sollst du ja auch nicht.

Wichtig ist, dass du dir selbst genug bist, dass du dich selbst magst und akzeptierst, auch deine eigene sexuelle Orientierung. Das ist dein Leben und du bist auf der Welt, um du selbst zu sein und nicht jemand, der anderen gefällt oder Erwartungen erfüllt. Und du sagst selbst, dass deine Freunde und deine Familie hinter dir stehen. Und das zählt doch, oder? Du hast Menschen um dich herum, die dich so akzeptieren wie du bist und dich dabei unterstützen, deinen individuellen Weg zu gehen.

Dich stört auch, dass du auf andere "anders" wirkst. Jeder Mensch ist irgendwie anders, keiner ist so wie der andere, wir sind alle sehr verschieden und das ist gut so. Wer sagt auch, was normal ist? Gibt es überhaupt Normalität? Ich glaube kaum.

Ich kann durchaus auch nachvollziehen, dass du Angst hast, dass dich andere jetzt abwertend betrachten oder weniger Gutes von dir denken. Diese Sorge ist total verständlich.

Mag sein, dass deine sexuelle Orientierung auf manche seltsam wirkt. Das wird wohl am ehesten auf die zutreffen, die ein konservatives Bild von Geschlechtern und sexueller Orientierung haben. Doch glücklicherweise entwickelt sich die Gesellschaft weiter und heutzutage ist es meiner Ansicht nach total okay und normal, anders zu lieben als die Heterosexuellen.

Und du bist auf keinen Fall alleine damit. Die LGTBQIQ-Szene ist inzwischen sehr gewachsen. Da würdest du auf jeden Fall auch Anschluss finden und dich mit anderen austauschen können. Und wenn du Teil der Community bist, wirst du auch nicht mehr das Gefühl haben anders zu sein.


Entscheidung zum Outing

Ein anderer Aspekt: Wer sagt, dass du dich unbedingt als bisexuell outen musst? Dazu zwingt dich keiner. Das entscheidest allein du. Vielen geht so, dass sie das als Teil ihrer Identität sehen und auch dazu stehen wollen. Darum outen sie sich möglichst vielen Menschen. Aber das muss man ja natürlich nicht, jeder wie er will. Du kannst für dich auch entscheiden, dass du dich nur einer bestimmten Gruppe wie deinen Freunden oder deiner Familie outest. Die Öffentlichkeit oder die Menschen, die dir nicht nahe stehen, müssen das nicht erfahren. Sowieso bestimmst du, wie viel Persönliches du von dir preisgibst, da gibt es kein richtig oder falsch. Wenn du niemand anderen von deiner sexuellen Orientierung erzählen willst, ist das auch okay. Solange du dich wohl damit fühlst, ist alles legitim. Du kannst deine sexuelle Orientierung für dich ausleben, musst es aber nicht an die große Glocke hängen.

Im Übrigen bleiben wir von der Persönlichkeit her nie gleich. Wir verändern uns, auch wenn wir erwachsen werden, bis ins hohe Alter. Das bedeutet, dass du sehr wahrscheinlich auch nicht mehr der Mensch bist, der du vor 9 Jahren warst. Wir verändern uns stetig und so verändert sich auch, wie wir vielleicht von anderen wahrgenommen werden. Das bleibt eben auch nicht gleich und dagegen kannst du selbst auch nichts tun.

Mein Ratschlag: Versuche dich davon zu lösen, darüber nachzudenken und dich danach zu richten, was andere über dich denken, von dir halten oder erwarten. Das setzt dich wie du merkst unnötig unter Druck. Warum ist dir das so wichtig, wie dich andere wahrnehmen? Ist es nicht wichtiger, dass du dich gut fühlst in deiner eigenen Haut? Das du dich so gibst, wie du bist?

Ich fürchte, dass wir alle uns irgendwie mit uns selbst auseinandersetzen müssen, ob wir wollen oder nicht. Wegzusehen und wegzurennen kann anfangs gelingen, aber nicht auf Dauer. Irgendwann holt uns alles ein und dann muss man sich damit auseinandersetzen. Es wird ganz sicher ein Thema bleiben, was dich begleiten wird, weil es auch einfach ein Teil von dir ist. Nimm es an, verdränge es nicht. Es ist wichtig, dass du hinschaust und versuchst, den Teil von dir zu akzeptieren und in dein Leben zu integrieren. So sein wie alle anderen - das funktioniert nicht und würde dich ganz sicher nicht glücklich machen. Du bist du und genau richtig so. Du solltest nicht so wie die anderen sein, sondern du selbst. Denn du bist es wert, dass du dich selbst zeigst und dich auslebst.

Du schreibst auch, dass du eine Freundin hast, für die du nicht viel empfindest. Gehe nochmal in dich und frage dich, warum du mit ihr zusammen bist. Sprich auch nochmal offen mit ihr, ob eine Beziehung wirklich für euch beide Sinn macht. Denn wenn einer von euch beiden da nicht richtig dabei ist, wird die andere Person auf lange Sicht unglücklich werden. Da hilft tatsächlich nur das offene und ehrliche Gespräch.

Vielleicht kannst du ja auch mal andere aus der LGTBQIQ-Community fragen, vielleicht auch in einem Forum wenn du dich nicht traust. Oder du besuchst eine Beratungsstelle, die sich auf sexuelle Vielfalt fokussiert hat. Hier schon mal ein Link als erste Anlaufstelle für Angebote rund um sexuelle Orientierung, Geschlechtsidentität und Sexualität:
https://interventionen.dissens.de/fuer-jugendliche/links-anlaufstellen

Ich verlinke dir auch unsere Soforthilfe zum Thema "Coming Out - Zu sich selbst stehen":
https://mein-kummerkasten.de/Soforthilfe/42/Coming-Out-Eo-Zu-sich-selbst-stehen.html

Eine weitere Soforthilfe, die sich zwar mehr auf Homosexualität bezieht, aber auch Aspekte der Bisexualität aufgreift:
https://mein-kummerkasten.de/Soforthilfe/37/Homosexualiaet.html


Ich wünsche dir von Herzen alles Gute und ganz viel Kraft un Mut, deinen Weg zu gehen.

In Liebe,
Lan