Problem von Mattschke - 29 Jahre

Leute kennenlernen nach Obdachlosigkeit

Hi!
Die letzten 7 Jahre war ich obdachlos. Seit April habe ich eine Wohnung, behördlich wird mir geholfen und jobmäßig würde mir mit der Maßnahme vom Jobcenter geholfen. Alles läuft eigentlich, sogar Psychotherapie geht bald los.
Vorhin hatte ich mein erstes Date wieder, online ausgemacht und es war echt furchtbar! Wir waren am See und haben uns echt gut verstanden, sie sagte sogar, sie könnte bei mir sehr sie selbst sein, etc.. Aber kurze Zeit später hatte ich noch ne riesige Anspannung, ich konnte Null reden, was mir im Kopf vorging und das kam natürlich schwierig an. Ich weiß echt nicht, wie das irgendwie klappen soll in Zukunft.

Nuala Anwort von Nuala

Lieber Unbekannter!

Ich wollte dir längst geantwortet haben, daher entschuldige ich mich für die Verzögerung.
Zunächst möchte ich betonen, wie wunderbar ich es finde, dass du endlich deinen ganz privaten Rückzugsort hast und du auch psychologische Begleitung haben wirst. Ich bin mir sicher, dass du noch viele weitere persönliche Erfolge haben wirst, wozu ich Beziehungen zu anderen Menschen ausdrücklich zähle. Ohne sozialen Rückhalt ist es so viel schwerer. Oder anders gesagt: Wenn wir reich an Kontakten sind, die uns "nähren", mit denen wir eine unbeschwerte Zeit haben können, lachen und weinen, nachdenklich und euphorisch sein können, hilft uns das auch in schweren Phasen.

Du hattest ein erstes Date und hattest sowohl eine tolle Erfahrung dabei als auch eine weniger tolle. Vielleicht hast du dich bereits von diesem Schrecken erholen und dich sortieren können. Vielleicht bist du mit der Person ja sogar noch in Kontakt?! Es las sich zumindest echt schön, was ihr gemeinsam erlebt habt :)
Will heißen: Schwamm drüber. Du warst angespannt, was bei deiner Vorgeschichte mehr als verständlich ist. Vieles muss sich noch setzen in dir. Und zwischenmenschliche Beziehungen sind ja auch nicht das Einfachste von der Welt. So viele Eindrücke, Empfindungen, auch Trigger...
Das, was du erlebt hast, würde jemand ohne eine solche Vergangenheit vermutlich nicht so erleben, aber jeder Mensch ist anders. Relativ normal ist allerdings, dass ein Date auch mal sehr aufwühlend, anstrengend und kräftezehrend sein kann. Und dass man am Ende mit gemischten Gefühlen dasteht. Was hilft, ist, sich Ruhe zu gönnen und sich klarzumachen, was man möchte. Je klarer und ehrlicher du bist, desto einfacher wird das Treffen mit Anderen. Dazu kann auch gehören, dass du von Vornherein sagst oder schreibst (vielleicht schon direkt im Datingprofil!), dass du jahrelang obdachlos warst und dir nun ein neues Leben aufbaust. Das hätte den Vorteil, dass sich da schon die Spreu vom Weizen trennen würde: Wer da nicht mit zurechtkommt, wird dich gar nicht erst treffen wollen. Außerdem könnte es dir diese Last nehmen, sozusagen ein "schweres Geheimnis" mit dir herumzutragen, das irgendwann ausgesprochen werden müsste... Grundlegende Ehrlichkeit ist zudem bestechend - zumindest bei den Personen, die soweit mit sich im Reinen sind, dass sie mit Wahrheit zurechtkommen.
Dating ist oft harte Arbeit und kein reiner Fun. Es kann nützlich sein, keine hohen Erwartungen sowie bestimmte Sachen vorher abgesteckt zu haben und sich bewusst zu machen, dass es auch eine Weile braucht, einen Menschen zu erfassen. Es kann sich also lohnen, auch bei Ambivalenz ein neues Treffen zum weiteren Kennenlernen zu vereinbaren.
Für Einige ist Onlinedating auch schlicht nicht das, was ihnen dienlich ist. Du kannst am besten einschätzen, worauf du am meisten Lust hast!

Durch deine Psychotherapie wirst du wahrscheinlich lernen, dich selbst zu beruhigen, wenn innerlicher Sturm tobt. Du wirst lernen, bei dir zu bleiben und nicht gleich zu verzweifeln, wenn die Dinge anders laufen als gedacht. Du wirst im besten Fall einen neuen Zugang zu deinen Gefühlen zu erlangen. Und damit kannst du dir die ganze Welt neu erschließen.
Und letztlich kannst du das alles auch selbst schon jetzt tun, jeden Tag ein bisschen mehr wahrnehmen, fühlen, erkennen, achtsam sein. Nachsichtig mit dir sein. Dich darin üben, an das Schöne zu glauben und die lähmenden Gedanken immer weniger werden zu lassen.

Nun möchte ich noch generell etwas zum Leute Kennenlernen schreiben.
Der eine Punkt ist, dass es Geduld braucht, sich die Kontakte aufzubauen, die wirklich passen und die langanhaltend sind. Manchmal gehen Leute schneller als gedacht - auch das gehört dazu. Auch wenn es erstmal vielversprechend gewirkt hat.
Es ist eine klasse Sache, dankbar für jegliche Begegnungen zu sein, weil sich Gelegenheit zum Lernen und Selbst-Erkennen bieten. So kannst du also auch von Erlebnissen profitieren, die vordergründig negativ wirken. Vielleicht tragen sie ganz viel Lernpotenzial in sich. Durch die Interaktion mit den Anderen können wir uns auch selbst erkennen.
Die Geduld, die nötig ist, kann auch bedeuten, dass mehrere Jahre vergehen, bis man (endlich) Leute gefunden hat, die passen. Hier ist neben der Ausdauer, des "Dranbleibens", auch eine gewisse Flexibilität hilfreich. Im Sinne von: Rausgehen, an verschiedene Orte gehen, neue Dinge ausprobieren. Auch mal den altbekannten inneren Schweinehund überwinden, der eine:n lieber auf dem Sofa verharren lassen würde.

Ich finde es wichtig, verschiedene Ansätze zur Kontaktaufnahme zu verfolgen. Zum Einen den Ansatz, Einzelkontakte zu bekommen (das geht z.B. über das Ansprechen von Personen im nahen Umfeld, Gelegenheiten ergreifen - beispielsweise in der Nachbarschaft oder wenn du jemanden bei einer Veranstaltung spannend findest. Heutzutage auch vielfach online, z.B. über Datingportale, Freundschaftsnetzwerke, Chats...). Daneben auch das Kennenlernen ganzer Gruppen, um darüber dann über die Zeit hinweg zu sehen, wer auf der gleichen/ähnlichen Wellenlänge liegt. Da kommen echt viele Dinge in Betracht: Stammtische, Singletreffs, Gesprächskreise, Vereine, (ehrenamtliche) Initiativen (z.B. politisch, ökologisch, für Tiere, Nachbarschaftshilfe, künstlerisch, technisch (Repaircafés & Co.!). Falls du in einer größeren Stadt lebst, könntest du in einen Stadtteilladen oder dergleichen gehen. Da werden u.a. entsprechende Veranstaltungen angeboten, die Menschen zusammenbringen sollen. Auch gemeinsames Gärtnern oder das Arbeiten an einem bestimmten Projekt, z.B. um das eigene Viertel aufzuwerten, sind Möglichkeiten, mit neuen Leuten zusammenzutreffen.
Auch die Kirche, spirituelle Gruppen (ich meine jedoch ausdrücklich KEINE Sekten!) und lebenspraktisch orientierte Gruppierungen können ein Anker sein.
Zusammengefasst kann man sagen: Gehe nach deinen Neigungen, nach deinen Bedürfnissen. So kannst du einerseits ähnlich gestrickte Menschen treffen und andererseits vielleicht auch gleich was für die Gesellschaft tun (Ehrenamt, Aufklärung, etc.) --> Als ich deine Zuschrift gelesen habe, musste ich sofort an das Buch "Unter Palmen aus Stahl" denken, das der ehemalige Obdachlose Dominik Bloh geschrieben hat. Ich beschäftige mich immer wieder mit dem Thema Obdach - bzw. Wohnungslosigkeit und hatte sein Buch mit großem Interesse gelesen. Dabei ist mir aufgefallen, wie sehr ihm sein Glaube geholfen hat, in kleinen Schritten das zu erreichen, was ihm gut tut und ihm eine neue Existenz ermöglicht. Er hat, auch wenn es richtig dunkel war um ihn herum, weitergemacht und an das gedacht, was er von Herzen will. Und nun kann er wiederum anderen Menschen helfen. Er hat den Duschbus für Menschen auf der Straße mitgegründet (GoBanyo). Ich finde, das ist sehr mutmachend. Anhand der Internetseite zum Duschbus möchte ich dir zwei Dinge aufzeigen: Erstens, dass du liebe Menschen treffen wirst, wenn du an dich glaubst und konsequent für das einstehst, was dir von Herzen wichtig ist. Und zweitens, dass es eine Möglichkeit ist, sich sinnvoll einzubringen und gleichzeitig neue Kontakte zu knüpfen. https://gobanyo.org/mitmachen/
Natürlich gibt es viele andere Einsatzstellen, nicht nur in Hamburg, wo GoBanyo aktiv ist. Verbindungen zu Anderen entstehen allein schon durch ein offenes Herz. Wer aufmerksam und liebend durch den Alltag geht, wird es leichter haben, Verbindungen herzustellen. Und sei es nur für einen Moment. Ein Lächeln im Zug, eine kleine Geste der Wertschätzung im Vorbeigehen, eine Nachfrage bei Fremden - all das schafft schon Brücken und zeigt, dass wir nie allein sind und alle zusammengehören.

Manchmal hat man so Durststrecken, in denen man eher lose Kontakte hat und noch keine festen Freund:innenschaften oder Partner:innenschaft. Aber aus einer Gemeinschaft, in der man z.B. schon Mitglied ist, können über mehrere Ecken wieder ganz neue und unerwartete Kontakte hervorgehen. Du wirst z.B. zu einer Grillparty eingeladen und kennst einige Leute noch nicht - und dann triffst du dort jemanden, mit dem du stundenlang auf der Hollywoodschaukel sitzt und quatschst. So können total überraschend tiefe Verbindungen entstehen. Und das ist nur ein Beispiel von tausenden von Möglichkeiten.

Du wirst deinen Weg gehen - Schritt für Schritt.
Ich freue mich mit dir, insgeheim und unbekannterweise.

Sei lieb gegrüßt!
Nuala