Problem von Anonym - 30 Jahre

Fremdgehen in früheren Beziehungen

Ich habe seit ein paar Monaten wieder einen Freund und er ist einfach das beste, was mir jemals passiert ist und ich will mein restliches leben mit ihm verbringen. Ich liebe ihn sehr. Er möchte auch, dass wir in ein paar Monaten zusammen ziehen.
Er ist ein Mensch mit sehr hohen moralischen Vorstellungen. Einmal kam so nebenbei heraus, dass ich Sex mit einem Mann hatte, der in einer Beziehung ist. Das hat meinen Freund sehr belastet, da er das absolut nicht in Ordnung findet und das ist es ja auch nicht. Ich habe ihm dann nicht gesagt, dass so etwas schon öfter vorgekommen ist und erst recht nicht, dass ich in früheren Beziehungen selbst fremd gegangen bin. Genau genommen war ich ein richtiges Miststück, hatte psychische Probleme, Minderwertigkeitskomplexe, hatte mit meiner Vergangenheit aber eigentlich bereits abgeschlossen. Eigentlich.
Nun war ich in diversen Foren unterwegs und der Großteil ist der Meinung: Leute, die schonmal fremdgegangen sind, sollte man sofort abschießen, denn wer einmal fremd geht, geht immer fremd.
Und ich glaube, dass er auch so oder so ähnlich denkt, da seine Exfreundin ihn hintergangen hat und er schon Zeit gebraucht hat, mir das mit dem vergebenen Mann "nachzusehen".
Ich denke das eigentlich nicht und glaube fest daran, dass Menschen sich ändern können, zumindest wenn sie es selbst wollen. Nur jetzt kommen mir irgendwie Zweifel und ich habe Angst, dass ich einfach ein schlechter Mensch bin und das auch immer bleiben werde. Ich schäme mich ganz fürchterlich.
Ich werde ihm das aber auf gar keinen Fall antun und würde meine Beziehung mit ihm nicht wegen sowas aufs Spiel setzen. Wir haben sowieso ein eher lockeres Verhältnis und können uns das gegenseitig sagen, falls wir mal Lust auf jemand anders hätten.
Ich möchte auf der einen Seite ehrlich sein und nichts aus meiner Vergangenheit verheimlichen müssen. Auf der anderen Seite möchte ich ihn auf gar keinen Fall verlieren, vor allem nicht wegen irgendwelcher Geschichten, die längst vergangen sind. Und was, wenn er mich direkt fragt, ob ich schonmal fremd gegangen bin? Soll ich ihn anlügen? Oder soll ich es ihm beichten und es riskieren, ihn zu verlieren? Bei beiden Möglichkeiten wird mir schlecht und es quält mich sehr.
Und dann denke ich mir wieder, dass ich mich da gerade in was reinsteigere, schließlich besitzt mein Freund mich und meine Vergangenheit nicht und es sollte auch meine Sache sein dürfen...
Oder ist das wieder einfach nur egoistisch? Er ist einfach so ein toller, schonungslos ehrlicher Mensch und ich will ihn nicht verlieren.
Weiß nicht was ich tun soll... Ich wäre sehr dankbar für einen Rat.

Ganz liebe Grüße

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Anonyme,

ich will es dir nicht verhehlen: Einen Königsweg gibt es nicht. Das hast du selbst schon gemerkt.

Auf die Frage, was moralisch richtig ist und was nicht, gibt es hier keine eindeutige Antwort. Vielleicht würde dein Freund etwas Anderes sagen. Ich bin mir da nicht so sicher. Menschen haben einander schon immer betrogen, und ein bedeutender Teil aller Menschen - vielleicht der größere - wird am Ende seines Lebens nicht von sich sagen können, immer treu gewesen zu sein. Das soll nicht heißen, dass Treue als Liebesbeweis ausgedient hat oder dass der Schmerz eines Menschen, der von seinem Partner oder seiner Partnerin betrogen wird, nicht gilt. Schon gar nicht, dass ich selbst es erleben wollen würde, betrogen zu werden, oder dass ich es irgendjemanden gönnen würde. Aber es bedeutet, dass es schon eine gehörige Portion Selbstbewusstsein braucht, nicht nur alle Leute, die schon betrogen haben, sondern auch alle, mit denen es geschehen ist, als "einfach schlechte Menschen" zu betrachten. Glaubst du, dass dein Freund so viel Selbstbewusstsein hat? Wenn ja: Hältst du das wirklich für eine löbliche Eigenschaft? Ist jemand, der kategorisch keine Beziehung mit jemandem möchte, der / die schon mal untreu war, wirklich so viel besser als jemand, der fremdgeht? Ich würde sagen, zu beidem gehört ein gerüttelt Maß an Bereitschaft, zu verletzen.

Es gibt mindestens so viele unterschiedliche Hintergründe und Motive des Fremdgehens, wie es Menschen gibt, die es tun. Es gibt den jungen Mann, der seine Freundin vielleicht wirklich sehr liebt, aber von der Angst geplagt ist, sexuell irgendetwas zu verpassen, und der sich danach in Grund und Boden schämt. Es gibt die Ehefrau und Mama von drei Kindern, die sich nach Zuneigung sehnt und sich von ihrem Mann seit Jahren nicht mehr wertgeschätzt fühlt. Es gibt den älteren Mann, der insgeheim homosexuell ist, aber nie offen zu seiner Sexualität stehen konnte, und deshalb seit Jahrzehnten heimlich seine Frau betrügt - die er vielleicht lieben, aber nie wirklich begehren konnte. Es gibt dich, die du - wie ich annehme - schmerzlich auf der Suche nach deinem Platz im Leben und von verzweifeltem Hunger nach Bestätigung und dem Gefühl, für ein paar Augenblicke keinen Druck zu spüren, getrieben warst... Und ja: Es gibt auch die Menschen, die einfach von ihrem Wesen her mehr oder weniger egoistisch sind, die von "Liebe" nur eine sehr dünne Vorstellung haben und gar nicht darüber nachdenken, was sie ihren Partnern antun. Es vielleicht auch gar nicht können. Und die genau deshalb niemals erfahren werden, wie schön Vertrauen und eine sichere Bindung sind. Was ich mich frage - und was vielleicht auch dein Freund sich fragen sollte -: Ist es an uns, diese Menschen zu verurteilen?

Es ist eine Sache, Fremdgehen für eine unschöne, unsouveräne und letztlich ungehörige Sache zu halten. Deshalb kann ich jeden Menschen, der es tut, trotzdem als Persönlichkeit mit einer Geschichte und Gefühlen sehen, und nicht als niederere Kategorie Mensch. Kann kritisieren, ohne zu verteufeln. Dass dein Freund schon einmal betrogen wurde, macht verständlich, dass es ihm nicht leicht fällt, das Thema sachlich zu betrachten. Deshalb sollte er es trotzdem wenigstens versuchen. Was dich betrifft: Es ist geschehen, es lässt sich nicht mehr ändern. Offensichtlich hattest du damals deine Gründe, deinen Antrieb, und was immer es auch war: Es macht dich nicht zu einem schlechten Menschen. Es besagt auch nichts darüber, was heute ist oder morgen sein könnte. Du stehst an keinem Tag als der Mensch auf, der du am vorherigen Morgen noch warst.

Versteh mich nicht falsch: Es gibt Dinge, die kann man aus gutem Grund in der Vergangenheit lassen. Dein Freund muss nicht unbedingt wissen, mit wem du im Laufe deines Lebens Sex hattest und unter welchen Umständen. Entscheidend ist, ob du es vor dir selbst rechtfertigen kannst, es ihm nicht zu sagen. Und ob du dich damit wohlfühlst. Das scheint nicht der Fall zu sein. Wenn dein Freund mit dir zusammenleben will - und wenn du mit ihm zusammenleben möchtest - wäre es nicht gut, dieses gemeinsame Leben mit Ängsten und Schuldgefühlen zu beginnen. Es gibt keinen Königsweg, aber es gibt ein kleineres Übel. Und dieses kleinere Übel ist - so hart es ist - die ehrliche Kommunikation.

Nehmen wir an, dein Freund wird dich morgen fragen, ob du noch mit anderen Fremdgehern Sex hattest, und auch selbst schon fremdgegangen bist. Und nehmen wir an, deine Antwort ist ehrlich, also Ja. was wird dann passieren? Wird er die Fassung verlieren, dich anschreien? Wird er angeekelt aufstehen und die Wohnung verlassen? Wird er in Tränen ausbrechen und sich verzweifelt fragen, wie er sich nur so sehr in dir täuschen konnte? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß eines: Keine dieser Reaktionen wäre angemessen, nützlich, sensibel, vernünftig... mit einem Wort: erwachsen. Keine von ihnen würde der Schwere des "Geständnisses" wirklich gerecht. Und noch viel wichtiger: Jede dieser Reaktionen würde bedeuten, dass dir zusätzliche Schuldgefühle und Gewissensnöte aufgebürdet werden, dass deine wachsende Abneigung gegen dich selbst sich vergrößert. Und das hast du nicht verdient. Du bist kein schlechter Mensch, aber du bist auch keine Heilige. Das musst du auch nicht sein. Entweder liebt dein Freund dich für das, was du bist, oder er liebt dich für das, was er in dir sehen will. Wenn Ersteres der Fall ist, wird er sich überlegen, ob du als Mensch nicht mehr bist und bedeutest, als deine Geschichte. Vielleicht kommt er zu dem Entschluss, dass er nicht mehr mit dir zusammen sein kann. Es ist aber besser, wenn er das jetzt tut, statt in einem Jahr, oder in fünf, oder in zehn... nach weiteren Monaten, Jahren, Jahrzehnten voller Selbstzweifel und Angst. Denn wie immer man deine Vergangenheit bewerten will, das hast du nicht verdient, liebe Anonyme. Ganz bestimmt nicht.

Es ist gut und schön, Prinzipien zu haben und danach zu leben. Dein Freund ist solch ein Mensch. Gleichzeitig sollten wir nicht vergessen, dass er durch seine Prinzipien für dich einen Leidensdruck erzeugt. Von dem er nichts weiß. Es ihm nicht zu sagen, kann also auch bedeuten, dass du letzten Endes unter ihm leidest. Und das kann er nicht wollen. Es ist auch nicht in Ordnung. Ich würde nicht sagen, dass du dich in etwas reinsteigerst. Viel eher ist es doch so, dass du eine beträchtliche Zeit gut damit leben konntest, was war, aber eben vergangen ist. Aber durch die - an sich bewundernswerte, aber eben doch strenge - Haltung deines Freundes stellst du dir Fragen, die du dir vorher nicht gestellt hast. Ich verstehe, dass du ihn um keinen Preis verlieren möchtest. Aber ich bin ehrlich, ich wünsche dir auch kein Leben an der Seite eines Mannes, der dir - sei es bewusst oder nicht - Angst macht und dich daran zweifeln lässt, ob du ein guter Mensch bist. Die Sache ist nämlich die: There is no such thing. Menschen machen Dinge, auf die sie nicht stolz sein dürfen. Und Menschen, die persönlich "gut" sind, aber andere durch ihre rigide Haltung leiden lassen, haben auch keinen Grund, darauf stolz zu sein.

Ich kenne deinen Freund nicht. Nur du kennst ihn. Aber soviel kann ich sagen: Vielleicht solltest du - bevor du eine Entscheidung triffst - den Gedanken zulassen, dass auch er nicht das absolut Gute und Tolle repräsentiert. Und dass es dir zusteht, auf deine mögliche Beichte hin eine angemessene Reaktion zu bekommen. Was nicht heißen muss, dass er sofort bereit ist, darüber hinwegzusehen. Aber eben auch nicht, dass er dir irgendwie eingibt, ein schlechter Mensch zu sein und seine Liebe nicht zu verdienen. Wenn ER nicht mit deiner Vergangenheit zurecht kommt, ist das letztendlich sein Problem. Du kannst ihn dann nicht halten, aber du solltest auch bedenken, dass die Unfähigkeit, mit deiner Vergangenheit zurecht zu kommen, etwas über ihn aussagen würde. Er ist nicht dazu verpflichtet, nein. Doch wenn er es gar nicht kann, ist er vielleicht auch nicht der, den du in ihm sehen möchtest. Und um diese Frage geht es am Ende: Ertragt ihr euch so, wie ihr seid? Liebt ihr euch, weil ihr seid, was ihr seid? Vertraut ihr euch, wissend, dass ihr etwas Besonderes füreinander seid und bleiben wollt? Oder möchtet ihr beide in dem jeweils Anderen etwas sehen, das in dieser Form nicht sein kann? Ich wünsche dir, dass du es herausfindest, liebe Anonyme. Gerade weil du uns gegenüber vollkommen ehrlich warst und offengelegt hast, wie sehr es dich belastet. Wenn dein Freund dich liebt, wird er das anerkennen - ob ihm die Sache an sich gefällt oder nicht.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul