Problem von Anonym - 16 Jahre

Schicksalsschlag - schwerer Unfall meines Freundes

Hallo,
mein Freund(16) ist im Oktober verunglückt. Er ist mit seinem Motorrad auf der Autobahn ausgerutscht, wurde von einem (zu schnellen) Auto erfasst und 70 Meter mitgerissen. Ein Kumpel von mir, der mitgefahren ist, hat den Unfall nicht überlebt, mein Freund liegt im Wachkoma.
Im Moment ist er in Reha, aber viel Hoffnung besteht nicht mehr. Es wäre schon ein kleines Wunder, wenn er sich jemals wieder verständlich machen oder ein wenig laufen könnte.
Zu dem Zeipunkt des Unfalls waren wir fast ein 3/4 Jahr zusammen. Das ist vielleicht im Vergleich nicht so sehr lange, trotzdem hatten wir eine sehr intime Beziehung. Es wirkte alles so endgültig, schon fast selbstverständlich, dass wir zusammen waren und blieben.
Am Anfang mussten wir ziemlich um unsere Beziehung kämpfen, viele waren dagegen, meist aus Eifersucht. Sogar meine beste Freundin hatte zuerst kein Verständnis dafür, dass ich meine Freizeit jetzt "teilen" muss und dementsprechend auch nicht immer Zeit für sie hatte. Nach einigen Wochen hat sich das aber gelegt. Es gab immernoch Neider, aber das war kein Problem mehr.
Es war alles so perfekt, so unwirklich. Ich konnte gar nicht fassen, dass ich es war, der dieses Glück widerfuhr.
Und plötzlich war alles vorbei. Der Unfall hat mich aus dieser heilen Welt gerissen. Nicht, dass es mir immer gut ging und ich nur noch gute Laune hatte, doch insgesamt hat mich unsere Beziehung sehr stark beeinflusst und positiv verändert. Ich konnte viele Sachen, die mir vorher schwerer gefallen sind, leichter angehen; mein Freund hat mich immer unterstützt.
Das war schlagartig vorbei. Direkt nach dem Unfall war erst nicht klar, ob er die schweren Verletzungen überhaupt überlebt. Doch er hat um sein Leben gekämpft und den Kampf gewonnen.
Ihn dort in der Klinik so hilflos liegen zu sehen, war einfach nur grausam. Er sah mehr tot als lebendig aus. Die ganzen Kabel und Schnüre an seinem Körper, vor allem im Gesicht, die ihn mit den Maschinen verbanden. Die piepsenden Geräte, ein einziger Alptraum.
Als ich an einem Tag alleine bei ihm saß, passierte etwas, vor dem ich wahnsinnige Angst hatte: Er hörte auf zu atmen. Niemand kam, um nach ihm zu gucken, obwohl die Geräte wie verrückt am Piepen waren. Nach kurzer Zeit hat sich sein Zustand wieder normalisiert. Doch der Schock saß tief. In der halben Stunde, die ich bei ihm saß, geschah dies noch 3mal. Doch nie kam jemand um nach ihm zu schauen..
Seitdem hatte ich tierische Angst, allein bei ihm im Zimmer zu sein.
Trotzdem bin ich immer wieder zu ihm gefahren, habe seine Hand gehalten und mit ihm geredet in der Hoffnung, dass er meine Anwesenheit spürt.
Trotz der Entfernung (ca. 1Std. Autofahrt) war ich oftmals 3mal die Woche bei ihm, habe versucht, seine Mutter zu stützen, ihr Mut zu machen. Seinen Vater sah ich kaum, seine Eltern sind geschieden.
Die Beerdigung unseres Kumpels war schrecklich, wir kannten seine Familie kaum und wussten nicht, was wir sagen sollten. Wir waren so hilflos! Und werden es wohl auch immer bleiben..
Mittlerweile komme ich einigermaßen mit der Situation klar, meine Eltern haben mich sehr unterstützt und mich aufgebaut. Sie sind immer für mich da.
Doch schon einige Wochen nach dem Unfall begann einiges, mit dem ich noch immer nicht klar komme, etwas, das ich überhaupt nicht verstehen kann.
Um mich abzulenken, habe ich viel mit meiner Clique unternommen, wir haben viele DVD-Abende gemacht, haben rumgealbert um auf andere Gedanken zu kommen. Dabei hat sich ein Kumpel von mir in mich verknallt. Ich habe nichts davon mitbekommen, wie hätte ich auch, mein Kopf war überfüllt mit anderen Gedanken. Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, dass so etwas passieren könnte. Es war normal für mich, dass er öfter angerufen hat um zu fragen wies mir geht, dass er mich in den Arm nahm um mich zu trösten. Meine damals beste Freundin und ihr Freund, der auch in der Clique war, haben aber anscheinend vermutet, was mit meinem Kumpel los war. Doch anstatt mir klar zu sagen, was Sache ist, haben sie mir Vorwürfe gemacht. Wenn ich einen Joke mit nem x-beliebigen Kumpel gemacht habe, lautete der Vorwurf, ich würde meinen Freund betrügen. Wenn ich mich von jemandem trösten ließ o.ä. dann war ich sofort die treuelose Freundin, die es ausnutzt, dass ihr Freund mehr tot als lebendig im Krankenhaus liegt.
Auch, dass ich akzeptiert habe, bzw. MUSSTE, dass eine gemeinsame Zukunft mit meinem Freund unmöglich wird, da er nie wieder auch nur annähernd gesund wird, wurde mir von den beiden negativ ausgelegt: Ich würde ihn aufgeben, weil ich die Hoffnung der vollständigen Genesung aufgegeben habe (besser: musste, weil mir alle Ärzte anhand von Thomographien etc. bewiesen haben, dass sich sein Gesundheitszustand nicht mehr sehr stark verbessern würde).
Sie haben die Wahrheit verdrängt und verleugnet.
In der Schule wurden Gerüchte verbreitet, dass ich mir vorgenommen hätte, ihn nie wieder zu besuchen. Außerdem Gerüchte über meinen "neuen Freund", der nicht vorhanden ist. Hinzu kamen fiese, verletzende Sprüche von anderen Schülern aus der Parallelklasse (der Klasse meines Freundes) wie: Ich solle mich doch nicht so anstellen, ist doch alles gar nicht so schlimm; Ich solle bloß nicht zu ihm hinfahren, nachher kriegt er noch einen Herzinfarkt, wenn er mich sieht; etc.
Die meisten, die solche Sachen vom Stapel gelassen haben, halten jetzt die Klappe, sie waren einfach zu dumm, um die Situation zu begreifen. Doch jetzt, wo alle Bescheid wissen, wie es um ihn steht, begreifen sie anscheinend, was genau sie überhaupt gesagt haben.
Zu meiner damaligen besten Freundin habe ich nur noch zwangsweise Kontakt: wir sind in der gleichen Klasse. Doch wir reden nur miteinander, wenn es sich nicht vermeiden lässt, schauen uns nicht an, erst recht nicht in die Augen. Sie verbreitet immer noch Lügengeschichten über den Gesundheitszustand meines Freundes, z.B. dass die Ärzte falsche Sachen in Umlauf gebracht hätten. Es wäre bewiesen, er könne doch noch wieder ganz gesund werden. Durch diese Gerüchte werde ich immer unglaubwürdiger. Meine Klassenkameraden und auch die Lehrer sehen, dass es mir nicht gut geht, auch wenn ich es mir nicht anmerken lasse, falls ich es unterdrücken kann. Doch das schaff ich nicht immer. Irgendwann habe auch ich keine Kraft mehr. Andererseits hören sie diese erdachten positven Nachrichten. Das passt natürlich alles nicht zusammen. Am Anfang wurden ihr diese Sachen noch abgenommen, doch in letzter Zeit kommt es immer öfter vor, dass mich viele fragen, was davon denn wahr sei. Dadurch merke ich, dass die meisten aus meiner Klasse hinter mir stehen. Das hilft mir. Ich habe einfach nicht mehr die Kraft, mich mit meiner damals besten Freundin auseinanderzusetzen, geschweige denn um unsere Freundschaft zu kämpfen. Ich war immer für sie da, die Kummertante vom Amt, habe ihr zugehört und versucht zu helfen, doch als ich sie zum ersten Mal wirklich gebraucht habe, war sie nicht für mich da, sie war zu sehr mit ihrem eigenen unwichtigen Kram beschäftigt, sodass sie keine freie Minute hatte um mir auch nur ein einziges Mal zuzuhören oder ein paar Worte des Trostes zu finden. Sie hat mich einfach wahnsinnig enttäuscht, ich dachte, sie wäre eine wirkliche Freundin, aber das ist anscheinend nicht der Fall. Ich fühle mich schuldig, weil ich ihr nicht einfach so verzeihen kann. Ich kann das nicht einfach so wegstecken oder vergessen, was sie mir angetan hat und immernoch antut. Deswegen fühl ich mich einfach nur beschissen...
Keine Ahnung, was ich jetzt tun soll. Das einzige, was ich für mich schon entschieden habe (mit der Zustimmung meiner Eltern) ist, die Schule zu wechseln. Diese ganzen oberflächlichen Menschen dort kann ich einfach nicht mehr sehen. Jeder Morgen ist für mich ein Kampf, überhaupt aufzustehen und dann zur Schule zu gehen. Ich habe ohne wirklichen Grund Angst davor, dieses Gebäude zu betreten, mich dort hinzusetzen und zu warten, bis der Vormittag rum ist und ich nach Hause fahren kann. Oft ist mir morgens schon so schlecht, dass ich denke, ich kann nicht hin, es geht einfach nicht. Wenn ich dann wieder zuhaus bin, geht es mir wieder gut, zumindest einigermaßen. Meine Familie hilft mir sehr, auch einige meiner Freunde tun das ihre dazu.
Ich weiß aber einfach nicht, wie ich mit meiner damaligen besten Freundin umgehen soll. Auch hab ich Angst vor den Besuchen bei meinem Freund. Wenn ich ihn so sehe, wird mir immer wieder bewusst, wie machtlos ich bin, wie hilflos man sich fühlt in so einer Situation. Aber ich finde, ich habe eine gewisse Verantwortung ihm und auch seinen Eltern gegenüber. Auch wenn wir nicht in irgendeiner Weise gebunden sind, ich habe trotzdem oft das Gefühl, alle erwarten von mir, dass ich zu ihm hinfahre und bei ihm bleibe. Jedes Mal, wenn ich von den Besuchen zurückkomme, bin ich richtig down. Ich weiß nicht, wie mein Leben ohne ihn weitergehen soll... und trotzdem geht es weiter, die Tage gehen vorüber ohne das ich sie wirklich wahrnehme.
Was soll und kann ich nur tun?
Bitte helft mir.

Anwort von Steffi

Am liebsten würde ich Dich jetzt eben in die Arme schließen und Dich mal ganz fest drücken.
Es ist ein guter und vernünftiger Entschluss, die Schule zu wechseln, damit Du wenigstens so die Chance hast, Deinen Kopf wieder ein wenig frei zu bekommen.
Es ist schön, daß Deine Eltern so hinter Dir stehen und Dich unterstützen, Dir die Hilfe und auch ein wenig Kraft geben, durch diese schwierige Zeiten zu kommen.
Was Deine ehemals beste Freundin betrifft, so muß ich leider sagen, daß ich für ihr Verhalten überhaupt kein Verständnis aufbringen kann. Als Freundin sollte sie als fester Punkt immer an Deiner Seite stehen und zu Dir halten. Ich kann sehr gut verstehen, daß Dir ihr Verhalten zu schaffen macht, daß Du enttäuscht und traurig bist. Das Gefühl, in diesen schlechten Zeiten noch einen Menschen zu verlieren, auf den man gebaut und dem man vertraut hat, ist eine schlimme, schmerzende Erfahrung, die man nicht einfach wegstecken kann.
Du fühlst Dich schuldig, weil das alles mit ihr so gekommen ist. Aber ich denke, daß nicht Du es sein solltest, die sich Vorwürfe zu machen hat, sondern ganz alleine sie. Wenn Du das Gefühl hast, daß Du nochmal mit ihr reden willst, daß da noch Dinge sind, die Du ihr sagen möchtest, dann brauchst Du das nicht unbedingt von Angesicht zu Angesicht tun.
Setz Dich hin und schreib ihr einen Brief, in den Du all das schreibst, was Du ihr noch zu sagen hast. Du brauchst dabei auf ihre Gefühle keine Rücksicht zu nehmen und solltest einfach das schreiben, was Du empfindest und welche Vorwürfe Du ihr machst. Vielleicht wird sie dann wach und merkt endlich, was sie da anrichtet. Und wenn sie weiterhin in ihrer Spur bleibt und diesen Unsinn rumerzählt, dann kannst Du Dir für Dich aber immer sagen, daß Du es wenigstens versucht hast und für das Scheitern dieser Freundschaft mit Sicherheit keine Schuld trägst.
Das Schreiben kann eine Wohltat sein und Dinge endlich in Deinem Kopf freisetzen, die sich so lange eingenistet haben und die endlich raus müssen.
Das alles ist eine sehr schwere Situation für Dich und es ist ungerecht, wenn Freunde oder Bekannte, wie auch immer, Dir Vorwürfe machen, daß Du Deinen Freund einfach fallen lässt, nur weil Du es schaffst, Dich glücklicherweise soweit mal abzulenken, daß Du in der Öffentlichkeit lachen kannst.
Es ist wichtig, daß Du das tust und Dich nicht soweit zurückziehst, daß Du nur depremiert und traurig zu Hause sitzt.
Du bist jung, erst 16 Jahre alt, Du hast Dein ganzes Leben noch vor Dir.
Mit Sicherheit wirst Du Dich jetzt nicht einfach umdrehen und Deinem Freund den Rücken kehren, aber ich denke, mit der Zeit wirst Du für Dich immer etwas mehr den inneren Abstand zu ihm bekommen. Und das ist auch vollkommen in Ordnung so, denn Du darfst Dein Leben nicht einfach wegwerfen. Daraus darfst Du Dir von niemandem einen Vorwurf machen lassen.
Er wird nicht wieder gesund werden, er wird nie ein normales Leben leben können, das steht nun fest. Und das heißt auch, daß es für Dich an seiner Seite kein Leben geben kann. Du wirst Dich über kurz oder lang langsam immer weiter abnabeln und Dein Leben weiterleben.
Irgendwann wirst Du Dich auch wieder anderweitig verlieben können. Auch dann brauchst Du kein schlechtes Gewissen zu haben, denn das ist der Lauf des Lebens, der niemals still steht und immer weitergeht.
Deinen Freund wirst Du bestimmt nie vergessen und vielleicht möchtest Du ihn zwischendurch immer mal wieder besuchen gehen.
Du scheinst ein sehr starker Mensch zu sein, das ist bewundernswert, laß Dich nicht unterkriegen. Viele Menschen sind dumm und reden ohne nachzudenken, denen bist Du einen Schritt voraus, weil Du es einfach besser weißt.
Ich wünsche Dir alles erdenklich Gute und ganz viel Kraft weiterhin.
Fühl Dich gedrückt!