Problem von Anonym - 22 Jahre

Feedback an Paul: Angst vor Nähe und Initmität // Wie finde ich Nähe?

Lieber Paul,

nach all der Zeit schreib ich dir wieder und danke dir auch für deine letzte Nachricht. Sie hat mir auf jeden Fall geholfen eine neue Sichtweise auf die Dinge zu bekommen und hat mir Hoffnung gegeben. Jetzt schreibe ich dir. Die Situation hat sich verändert, aber es ist nicht unbedingt leichter geworden.

Ich konnte ihm viele meiner Ängste erzählen. Er weiß wie das Verhältnis zu meinem Vater ist und ich hab versucht ihm zu erklären, wie es mich beeinflusst hat. Ich hab gesagt, dass ich Angst vor Beziehungen und Männern habe/hatte. Er hat gesagt, er kann es nicht verstehen, aber akzeptieren. Mittlerweile ist mehr Vertrauen da, viele meiner Ängste konnte ich abbauen. Ich hab sobald ich mich mit einer Angst auseinandergesetzt und ihm davon erzählt habe, erkannt, dass ich bei ihm diese Angst nicht zu haben brauche, weil er mich nie zu etwas zwingen würde oder etwas tun würde was ich nicht will. Wenn auch ich meist eher alleine und für mich zu dieser Erkenntnis gekommen bin, weil er mir das nie wirklich gesagt hat.

Leider hat er, obwohl ich immer betont habe, dass die Angst wirklich nichts mit ihm zu tun
hat, sondern in mir ist, diese oft auf sich bezogen und macht es immer noch. Deswegen war er oft eher enttäuscht darüber, wenn ich versucht habe ihm mitzuteilen, was in mir vorgeht. Er glaubt, wenn ich Angst vor Männern habe, dass ich damit ja Angst vor ihm habe und Schlechtes in ihm sehe. Was aber nicht der Fall ist. Und was ich ihm auch geagt habe. Er hat nicht wirklich verstanden, dass er der Grund ist, warum ich keine Angst habe, waurm ich begonnen habe zu vertrauen, weil er schon von Beginn an meine Ängste nicht verstehen konnte.

Leider haben wir noch große Probleme darüber zu sprechen und kommen uns nicht wirklich näher. Ich habe nicht mehr die Ängste, die ich noch am Anfang hatte, doch ich bin trotzdem zu unsicher, weiß nicht welche Schritte ich gehen soll. Manchmal spricht er, dass Thema dann an, dass er sich nach all der Zeit ein wenig mehr erwartet hätte. Ich habe ihm gesagt ich weiß nicht wie und ob er mir nicht helfen kann. Doch in diesem Bereich fühlt er sich auch hilflos und überfordert und weiß nicht was er machen kann. Das führt ihm dann unmittelbar zu Zweifeln daran, dass ich es nicht Ernst mit der Beziehung meint. Er ist in diesem Gesprächen sehr enttäuscht und unsicher, weshalb wir nicht gut darüber reden können und es dann meistens wieder fallen lassen. Er möchte dann lieber das Thema meiden, damit ich nicht unglücklich bin, obwohl ich ihm schon gesagt habe, dass ich lieber offen und ehrlich über alles rede und ich traurig, wenn man so tut als wäre alles in Ordnung. Doch immer wenn wir darüber reden, beginnt es mit Enttäuschung und Vorwürfen seinerseits und der Frage, warum ich nach all dieser Zeit nicht einen Schritt weitergehe. Und da ich mich von den Enttäuschen verletzt fühle und es ihm nicht wirklich erklären kann, was der Grund ist, möchte er nicht weiter darüber reden, was mich sehr belastet.

Nun ist es so, dass wir nicht mehr viel Zeit haben, dass ich bald wieder nach Deutschland zurückgehe. Dass mir das alles Angst mache. Dass ich mich frage, wie es weitergeht, wenn wir es nicht mal hier schaffen uns anzunäheren, wo wir nur wenige Minuten entfernt voneinander wohnen.

Und dass ich auch merke, dass ich bestimmte Dinge vermisse. Ich mag und ich schätze ihn sehr. Und ich glaube auch, dass ich ihn liebe. Aber in manchen Punkten ist er eher so wie ich war, aber so wie ich versucht habe nicht zu sein. Er ist sehr perfektionist und versucht alles richtig zu machen.

Und zumindest ich habe dabei das Gefühl mich nicht wirklich in dem Moment fallen lassen zu können. Immer wenn wir uns unter der Woche sehen, was spät ist, da er viel arbeitet, weiß ich dass er gleich wieder müde ist und schlafen möchte. Was ich, da er am nächsten Tag zur Arbeit muss, auch voll und ganz verstehe. Aber auch am Wochende ist das ähnlich. Ich kann ihm keinen Vorwurf deswegen machen, doch leider ist eher sehr schneller und viel öfters müde als ich, wodurch die Zeit, die wir dann haben, auch begrenzt ist, weil er schlafen möchte.

Wenn wir uns dann sehen, schlägt er auch immer vor etwas zu unternehmen. Große Fahrradtouren zu fahren. In eine andere Stadt zu gehen. Freunde zu treffen. Was auch sehr schön ist und was mir sehr Spaß macht. Aber es gab und gibt nur sehr wenige Stunden, in denen wir einfach nichts gemacht haben als die Zeit miteinanderzugenießen. Zu reden. Zusammen zu sein. Und das vermisse ich sehr.

Leider hab ich das Gefühl, dass es ihm schwer fällt. Dass er das nicht so kann und nicht so gerne macht. Wir sind ein paar Tage zusammen vereist und haben uns andere Städte angesehen. Aber egal wo wir waren und was wir gemacht haben, wollte er immer am liebsten weitergehen, etwas unternehmen, etwas ansehen. Wenn wir länger als eine Stunde an einem Strand waren, hat er angefangen auf seinem Handy die E-mails zu kontrollieren und Nachrichten zu lesen. Selbst von sich hat er auch schon gesagt, dass er das Gefühl nicht mag, im Urlaub nichts getan zu haben. Allgemein sagt er selbst von sich, dass er perfektionistisch ist. Und wenn wir zusammen sind dann denkt er oft daran, was er am nächsten Tag alles erledigen muss und bei allen Treffen war es fast immer er, der sagt, dass er jetzt gehen muss, was ich immer mit Verständnis hingenommen habe.

Ich weiß wie das ist. Und viele Jahre war ich auch so. Wollte immer alles richtig machen. Die besten Noten schreiben. Nie zu lange auf einer Feier bleiben um rechtzeitig aufstehen und lernen zu können. Doch es hat mich nicht glücklich gemacht. Ich konnte mich nicht fallen lassen. Nicht die Zeit vergessen und den Moment genießen.

Ich habe mein Leben auf dem Kopf gestellt und versucht alles zu ändern. Und jetzt, wenn ich mit ihm bin, fühle mich etwas zurückgeworfen dahin, wie ich damals war.

Ich wünsche mir so sehr Momente, in denen man die Zeit vergisst, ich wünsche mir stundenlang zu reden ohne auf die Uhr zu schauen. Ich wünsche mir zu lachen ohne daran zu denken, dass es gleich wieder vorbei ist. Ich wünsche mir das Gefühl von Leichtigkeit und Unbeschwertheit.

Doch ich glaube, dass ihm das schwerfällt. Dass er immer etwas tun will. Dass er sich nicht fallen lassen kann. Aber genau dieses Fallenlassen brauche ich auch um mich auf mehr einlassen zu können. Ich brauche die Nähe und die Vertrautheit.

Aber er hat mir auch gesagt, dass er mir nicht komplett vertrauen kann. Er glaubt ich könne es nicht wirklich ernst mit ihm meinen. Er glaubt ich könnte es nur mit ihm „ausprobieren“ wollen, da ich vorher noch keine Beziehung hatte. Und das macht mich traurig. Auch weil er von mir etwas erwartet (dass ich mich auf ihn einlassen, was für mich bedeutet beidseitig einander voll und ganz zu vertrauen), was er mir selbst nicht geben kann. Ich hab ihm gesagt, dass ich ihm vetraue. Aber er tut es nicht. Und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.

Auch kann er mir nicht sagen, was er mir bedeutet, obwohl ich ihm schon gesagt habe, dass ich mich noch nie so wohl gefühlt habe, wie bei ihm und dass ich noch nie jemanden so sehr vertrauen konnte. Doch er sagt, dass die Worte von "Ich liebe dich" zu bedeutungsgeladen sind.

Er gibt mir sehr viel Sicherheit. Das ist vermutlich das, was ich so sehr gebraucht habe, um mich überhaupt auf eine Beziehung einlassen zu können. Ich weiß, dass er mich zu nichts zwingt. Ich weiß, dass er mich dennoch nicht betrügen würde. Ich weiß, dass er mich regelmäßig anruft und mir am Abend eine Nachricht schreibt, um mir gute Nacht zu wünschen. Doch jetzt wo ich diese Sicherheit habe und gelernt habe in einer Beziehung zu vetrauen, merke und sehe ich auch, was mir eigentlich fehlt und was ich mir wünsche. Ich wünsche mir auch Spontaneität und etwas Verrücktheit. Ich wünsche mir eine Nachricht zwischendurch, die nicht erwartet ist, ich wünsche mir Überraschungsbesuche, wenn wir schon so nah beieinander wohnen, ich wünsche mir, dass wir uns einfach mal in dem Moment fallen lassen können und die Zeit vergessen. Und bei der körperlichen Annäherung wünsche ich mir, dass er ein wenig auf mich eingeht, dass er nicht seine Erwartungen an mich trägt und dann enttäuscht ist, wenn ich sie wieder nicht erfülle (was ich ihm bereits gesagt habe, dass ich nicht weiß wie und ob er mir da nicht helfen kann). Ich wünsche mir dass er etwas auf mich eingeht, mich versteht und nicht nur akzeptiert. Ich wünsche, dass er sich etwas bemüht. Vielleicht mal eine Kerze aufstellt, was ich bereits für ihn gemacht habe. Ich wünsche mir einfach, dass mir Zeit haben uns zu nähern.

Wir versuchen es, manchmal. Doch, wenn es innerhalb ein paar Minuten nicht klappt, weil
ich es nicht schaffe Initiative zu zeigen, dann ist er enttäuscht und sagt, dass er müde ist und schlafen möchte. Ich brauche aber Zeit. Ich brauche langes Streicheln. Und viel Nähe. Und ich brauche es mich Fallenzulassen. Doch, wenn er das nicht kann, weil er es in seinem Leben nie gemacht hat, weil er perfektionistisch ist, weil er nicht die Zeit vergessen kann, dann weiß ich nicht wie es uns gelingen kann uns zu nähern. Ich glaube nicht, dass ich ihn daran ändern kann, weil er selbst perfektionistisch sein will. Und auch will ich es nicht, da er ein wunderbarer Mensch ist. Aber ich weiß nicht wie es mir gelingen kann, emotionale und körperliche Nähe zu ihm zu finden, wenn dafür nie Zeit ist.

Und weil ich diese Gedanken habe, weil ich all diese Dinge vermisse. Und weil ich mich frage, ob ich sie mit ihm jemals finden kann, fühle ich mich egoistisch und nicht zu wahrer Liebe fähig.

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Anonyme,

ich freue mich über erneute Nachricht von dir - auch wenn ihr Anlass nicht ganz so freudig ist. Bevor ich dir meine Überlegungen erzähle, möchte ich dir sagen, dass dein Text mich sehr gerührt hat. Ich hatte selbst mal eine Beziehung zu einem Mädchen, die aufgrund eines Missbrauchserlebnisses große Schwierigkeiten mit Intimität hatte oder hat. Das ist auch der Grund - oder einer der Gründe - warum mir das Thema so am Herzen liegt. Beim Lesen von deinem Text habe ich ein paar kleine Tränen vergießen müssen, weil er so gefühlvoll und tief und so ehrlich war. Und mich auch an Manches erinnert hat. Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel - ich bin einfach sehr beeindruckt, wie eindringlich du deinen Zustand beschreibst.

Du gehörst zu den Personen, denen es gelingt, ihre Empfindungen so klar zu ordnen und zu deuten, dass dem, was daraus entsteht, schon viele mögliche Antworten innewohnen. Manche sind undeutlich und schwer auszumachen; manche sind in ihrer Klarheit und Tragweite erschreckend. Ich versuche oft zu vermeiden, allzu viel von meinem Leben im Kummerkasten preiszugeben. Manchmal aber kommt es zu Situationen, in denen ich nicht anders kann, als in dem, was ich lese, genau das wiederzuerblicken, was mir selbst widerfahren ist. Obwohl die Einzelheiten bei meiner alten Liebe und dir nicht übereinstimmen, glaube ich doch, dass ich damals vor einem ähnlichen Problem stand: Ich merkte, dass die Vertrautheit und Nähe, die zu einem Gefühl von Sicherheit und damit zu der Gewissheit führt, die Berührung zulassen zu können, oder den Wunsch nach Berührung bei sich zu entdecken, dass dieser Zustand nur durch gemeinsame Zeit erreicht werden kann. Und zwar viel gemeinsame Zeit. Und auch nicht solche Zeit, die durchhetzt und benutzt und mit fiebriger Aktivität gefüllt wird, sondern durch Zeit, die einfach so verrinnt, in der man allein ist mit sich, mit dem Anderen - und den gemeinsamen Gefühlen. Bei meiner früheren Freundin war einer der Gründe, warum die Nähe nicht zustande kam und die Beziehung letztlich gescheitert ist, dass es sich um eine Fernbeziehung handelte. Ein zweiter war, dass ich - obwohl ich genau wusste, was ich eben geschrieben habe - nicht den Mut hatte, es einzufordern. Mein Mädchen war eher der agile Part, die gerne wollte, dass etwas los ist, die alles gleich tut und genau und richtig. Ich bin eher der Stille, der Typ für die Natur und die sonnigen Stunden, die einfach passieren. Es ist nicht ganz leicht, sich auf diese Phasen einzulassen, wenn man es nicht kennt oder es einem (scheinbar) nichts gibt. Aber ich teile deine Ansicht, dass sie der Weg sind - und die Chance für euch.

Stell dir einmal vor, es wäre einer dieser Abende, an denen ein warmer Tag in einem tollen Sonnenuntergang zuende geht. Du kennst das - wenn das Licht nur langsam, ganz langsam weniger wird, ein leichter Wind aufkommt, und man sich so richtig behaglich und wehmütig zugleich fühlt. Wenn es weder stickig noch kühl ist, sondern man so richtig geborgen zwischen dem Himmel und der Erde - sofern einen gerade keine großen Sorgen drücken. Die aktivste Zeit des Tages ist vorbei, man wälzt nicht mehr den Gedanken umher, ob man noch ins Schwimmbad sollte, es liegt kein Festival an und kein Meeting und kein Umzug. Du hast mich?

Stell dir vor, du und dein Partner würdet an einem solchen Abend die Matratze vom Bett ziehen, sie unter das Fenster legen, sodass ihr im Licht seid, das weder brennt noch sticht. Ein Kissen für dich und eines für ihn, und ihr legt euch gegenüber und... seht euch einfach nur an. Du gehst seine Züge ab, das, was du schon lange kennst, und durchlebst all das, was du an ihm magst, ebenso wie das, was ihr gemeinsam erlebt hat, was dich vielleicht auch verärgert hat - und kehrst wieder zum Anfang zurück. Der Mensch, dein Freund, ist da, er kann dir nicht entkommen - und du ihm auch nicht. Ihr mustert euch gegenseitig und versucht, in euch all das zu erblicken, was ihr füreinander seid. Und nach dem zu greifen, was aus euch werden soll - was immer das sein mag.

Meinst du, so etwas würde dir helfen? Könnte es dir vielleicht ermöglichen, ihm auch vom Gefühl her so nahe zu kommen, ihn stumm so zu erkunden, dass du ihn ganz umfasst und deine Angst, dein Unwohlsein schwinden? Natürlich hat es nichts mit ihm zu tun. Es ist ein generelles Problem, das dein Leben dir aufgeladen hat. Es ist schwer für ihn, sich das immer klarzumachen, selbst obwohl er dich liebt; schließlich ist er... nun ja, ein Mann. Etwas Anderes, woran ich vorhin denken musste, ist das Lied "Big girls don't cry" von Fergie. Ich dachte, es bildet etwa das ab, was du deinem Freund gerne vermitteln möchtest. Und ich glaube wirklich, dass du ihn liebst. Gerade dann, wenn man so viele Gedanken und auch Lasten über jemanden hat, so viele Wünsche, so viele Ängste, aber auch so viel, warum man sich ängstigt, ihn oder sie zu verlieren - und gleichzeitig Zweifel daran, was das Ganze eigentlich soll - dann ist die Liebe am größten. Liebe ist nämlich nicht festgelegt auf ein Schema; Liebe ist die Leinwand, die du mit einer Geschichte füllen und mit deiner Zuneigung bewässern musst.

Du siehst die Aufgaben schon deutlich vor dir: Für euch gibt es vermutlich nur dann eine Zukunft, wenn es gelingt, die derzeitige Atmosphäre zwischen euch, die von großem Respekt, aber auch von Zweifel und Misstrauen geprägt ist, aufzubrechen. Gelingt es dir wirklich nicht, deinem Freund all das zu sagen, was du mir über ihn geschrieben hast? Oder ist es eher so, dass es ihn nicht erreicht? Ich glaube, wenn eine Frau vor mir stehen und so über mich sprechen würde, ich würde nichts Anderes wollen, als sie unbedingt fest in den Arm zu nehmen. Ich stelle es mir schwierig vor für ihn, dass das gerade nicht geht; aber ich finde es ebenso schlimm, dass er nicht richtig wahrnehmen kann, dass seine eifrige, arbeitsame, aber auch hektische und manchmal vorschnelle Art ihn nicht erkennen lässt, dass es nicht allein um Zeit geht, sondern auch darum, was für Zeit ihr verbringt. Ich habe oben ein wenig übertrieben, andererseits ist so ein Ritual kein Ding der Unmöglichkeit. Dein Freund ist jemand, der sich liebend gerne Aufgaben widmet, aber sich vielleicht nicht so gerne mit Dinge auseinandersetzt, für die es im Endeffekt keine Lösung gibt, sondern die Vertrauen und Offenheit und Zuversicht erfordern. Die sich einem schenken müssen, wenn man wartet und ruhig ist, die nicht eine feste Methode und eine Frist haben. Für euch hängt vieles davon ab, wie es euch gelingt, einander besser zu verstehen.

Vielleicht habt ihr bisher - das ist erstmal nur eine schmale Hoffnung von mir - auch bislang nicht die richtige Gesprächsform gehabt, wenn es um die Probleme ging, von denen du, er und ich wissen. Allzu schnell verfällt man in Vorwürfe, anstatt einmal nachzudenken, wie du hier nachgedacht hast: Wie geht es MIR? Der Vorschlag, den ich jetzt bringe, mag deinem Freund womöglich ebenso lächerlich erscheinen wie der oben gemachte (auch wenn ich persönlich hinter beiden stehe!): Setzt euch zusammen, und dann soll jeder erstmal zwanzig Minuten kriegen, in denen er einfach nur erzählt, wie es ihm geht. Vielleicht erst er, dann du - oder umgekehrt, wie ihr es mögt. Dann könnt ihr einander Fragen stellen, und vielleicht versuchen, es mit der Absicht zu tun, wirklich Wissen zu erlangen, und nicht Frust loszuwerden. Sätze wollen dann nicht formuliert sein "Du hast, du sollst...", sondern lieber "Ich wünsche mir, ich fühle..." Verstehst du? Eine besondere Baustelle bei ihm ist es, nicht in eine Abwehrhaltung zu verfallen, die das Problem letztlich bei dir sucht; es ist bei überhaupt niemandem, es ist einfach da. Letztlich weiß nur das Schicksal, ob es sich löst. Zumindest so weit, dass ihr zusammen leben könnt, was ich euch sehr wünsche. Für dich ist von Bedeutung, seine andere Art nicht mit neuer Angst zu beantworten, sondern mit Erinnern, dass in euch auch zwei ganz unterschiedliche Menschen zusammenfinden müssen. Ihr habt ein großes Fundament in eurem gegenseitigen Respekt und eurer Zuneigung und Liebe, aber ihr steht vor den Konflikten, vor denen jedes Paar irgendwann steht, auch ohne das zusätzliche Konfliktfeld, das in den Schwierigkeiten mit der Berührung besteht. Aber ihr könnt die Methode für das Eine nutzen, um auch das Andere anzugehen - wenn ihr euch traut. Oder, genauer gesagt: Wenn er sich dem öffnet. Denn nachdem du dich so hoffnungsvoll geäußert hast, was du glaubst, was dir helfen würde, sehe ich die härtere Nuss im Augenblick bei ihm.

Wenn du zurück nach Deutschland gehst - ich weiß nicht, wie groß die Entfernung dann ist - solltet ihr aufpassen, dass sich die jetzige Atmosphäre der Unsicherheit nicht überträgt. Es mag ganz befremdlich klingen, aber: Schreib ihm ab und an einen Brief. Es geht viel mehr zu Herzen, wenn das geschieht. Dabei solltest du im Hinterkopf behalten: Er weiß bescheid über das, was dich peinigt. Und auch über eure gemeinsame Zeit im Ausland den Ärger zu verlängern, den ihr währenddessen hattet, wird wohl nicht so fruchtbar sein. Wenn es dich sehr beschäftigt, kannst du das tun; doch ich glaube, es würde es für euch beide leichter machen, wenn ihr einander das wiedergebt, was euch gerade dann, in der Zeit des Schreibens, durch den Kopf geht. Die Sehnsucht, die Angst - und auch die Pläne. Das, was du dir durch ihn und mit ihm wünschst. Habe ich dich richtig verstanden, dass du die Angst hast, durch die räumliche Trennung könnte letztlich eure Beziehung zerbrechen? Dieses Risiko besteht natürlich immer. Auf der anderen Seite fordert man es geradezu heraus, wenn man es ständig anspricht. Du kannst im Grunde nur versuchen, ihm gegenüber auch auf die Distanz das zu wahren, was er an dir liebt - deine Ehrlichkeit und Herzlichkeit, deine Wärme, und letztlich auch deine Offenheit über deine Probleme. Es nützt genauso wenig, sie zu verschweigen - aber es ist wichtig, auch in der Gegenwart zu bleiben. Dass diese Last dir durch die Erfahrungen mit deinem Vater aufgebürdet wurde, weiß er, er vergisst es auch nicht. Was ich aber meine, ist, dass es leichter für ihn ist, wenn du deine Empfindungen für die Gegenwart formulierst. Ich kann verstehen, dass es dir wichtig ist, ihm immer auch die Hintergründe zu vermitteln; allerdings kann bei ihm dann der Eindruck entstehen, dass du dich auf die Erfahrungen in deiner Kindheit zurückziehst und an einer Veränderung gar nicht interessiert wärst. Sowenig, wie es etwas bringt, dem Partner etwas vorzugaukeln, so problematisch ist es, wenn die Schwierigkeiten immer den Eindruck machen, als wären sie vom Schicksal unverrückbar festgelegt. Das sind sie nicht, diese Hoffnung hast du ja auch. Schreib ihm nicht: "Weißt du, ich muss eben immer daran denken, wie damals...", sondern schreibe "Heute ging es mir besser. Aber die letzten Tage war ich manchmal sehr..." Vielleicht ist jetzt der Punkt gekommen, an dem das, was das Problem verursacht hat, für ihn zu einem Reizthema geworden ist, bei dessen Erwähnung er nicht mehr objektiv sein kann. Zumindest ging es auch mir in meiner Beziehung damals ähnlich. Du solltest es ihm nicht ersparen, aber du kannst es ihm etwas leichter machen, wenn du es so verpackst, dass daraus deutlich wird: Wir sind (ich bin) in der Gegenwart angekommen.

Ein weiteres Anliegen von mir ist: Zwing dich zu nichts. Es wäre leicht für mich, dir zu sagen "Versuch einen Abend in seinem Arm zu liegen und sieh, wie es dir damit ergeht." Das wäre aber falsch, solange du nicht glaubst, dass deine eigene Sehnsucht groß genug ist, um es zu wagen, diese Probe zu bestehen. Zärtlichkeiten - Küsse, Umarmungen und auch Sex - sind (meine Meinung) nichts, was unbedingt immer sein muss, "weil halt". Du solltest Zärtlichkeiten nie aus Routine begehen, sondern immer aus einem Bedürfnis und ihnen das Besondere lassen. Ihnen die Chance geben, zu wirken, für dich das zu sein, was sie sollen: Eine Sicherheit, eine Glücksquelle, eine Befriedigung, ein Stolzmacher. Wenn du sie nur ausführst, weil sie in einer Situation (vermeintlich) angemessen wären, nimmst du ihnen ihren Zauber und ihre Kraft. Mach dir keinen Plan, sondern entschließe dich spontan zu dem, was dir in den Sinn kommt - das kann alles sein, von null bis hundert, heute oder in Monaten, immer, solange ihr zusammen seid. Küsse, die etwas bedeuten, sind mehr wert als alle Küsse der Welt. Und wenn du dich zu etwas zwingst oder aus Konvention überwindest, wird es weder dir etwas geben noch ihm.

Ich hoffe, dass ich dir ein wenig helfen konnte. Du kannst dich jederzeit wieder an mich wenden, wenn sich etwas entwickeln sollte. Es würde mich auch wirklich interessieren, wie es weitergeht. Vorerst wünsche ich dir viel Zuversicht und gute Gespräche mit deinem Freund. Ich vertraue darauf, dass er auch ein Einsehen haben wird und es für euch eine gemeinsame Lösung gibt. Wie er sich verhält, dass er dich zu nichts drängt, ehrt ihn, doch er ist genauso gefragt wie du, wenn ihr gemeinsam euren Weg weiter gehen wollt. Ich wünsche euch dabei alles Gute, und dir hoffentlich noch eine gute Restzeit im Ausland sowie eine freundliche Rückkehr.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul