Problem von Adrian - 13 Jahre

Social Awkwardness

Hallo,
Ich bin 13 Jahre und wohne in XXX.
Seit mehreren Jahren bereits ist mir aufgefallen, dass ich mich ungewollt anders verhalte. Generell habe ich keine Probleme, vor großen Menschenmengen zu reden oder mit anderen Menschen zu interagieren. Häufig fällt mir jedoch auf, dass ich mich komplett anders gegenüber einer Person verhalte, mit der ich vorher geschrieben habe, wenn ich diese Treffe. So eigenartig das auch klingt (mir ist bewusst, dass viele Menschen das extrem eigenartig finden), fallen mir manche Gespräche schwer. Generell fürchte ich mich aber nicht vor Gesprächen. Ich habe dazu ein intaktes Selbstvertrauen. Überall habe ich mich erkundigt, was man machen könnte oder woran das liegen könnte, aber gefunden habe ich nichts. Ein Beispiel: Ich fotografiere gerne Flugzeuge in meiner Freizeit. Mit einer Gruppe Jungs, die das auch gerne machen, habe ich aktiv gechattet und mich irgendwann zum Planespotten getroffen. Die erste halbe Stunde, war ich sehr passiv und zurückhaltend. Danach habe ich mich langsam immer mehr zur Gruppe hin bewegt, bis ich am Ende ganz normal dabei war. Vielleicht habt ihr eine Idee dazu...
LG,
Adrian

Nuala Anwort von Nuala

Lieber Adrian,

bitte wundere dich nicht: Deinen Wohnort habe ich sicherheitshalber unkenntlich gemacht, um deine Anonymität nicht zu gefährden.

Ich finde es beachtlich, wie umfassend du dich selbst betrachten und dein Verhalten über verschiedene Situationen hinweg differenziert bewerten kannst! :) Und ehrlich gesagt finde ich es ganz und gar nicht merkwürdig, was du beschreibst, ich kann das sogar sehr gut verstehen! Daher finde ich die Bezeichnung "soziale Unbeholfenheit" aus deinem Problemtitel etwas hart. Ich denke nämlich, dass hinter deinen Beobachtungen kein Problem im eigentlichen Sinne steckt, sondern du eher eine neue Erkenntnis, eine neue Benennung für dich bzw. Verhaltensweisen in bestimmten Situationen bräuchtest, um dich wieder sicherer zu fühlen.

Es ist relativ häufig so, dass Menschen sich mit Schreiben viel leichter tun als mit direkten sozialen Interaktionen. Das liegt daran, dass beim Schreiben keine Beobachtung erfolgt und du dich einfach auf den Text konzentrieren kannst. Du musst also nicht noch die vor dir stehende Person beachten, deren Stimme nicht wahrnehmen, etc. und gleichzeitig deine eigenen Verhaltensweisen nicht "kontrollieren". Es fällt auch leichter, etwas von sich schriftlich preis zu geben, weil du dem Menschen nicht gegenübertreten musst. Die Nachricht "vermittelt" also.
Ein weiterer Grund für dein Verhalten kann darin begründet sein, dass du ja auch selbst eine Vorstellung der anderen Person anhand der Nachrichten entwickelst - und wenn du sie dann triffst und zunächst überrascht bist, dass sie ganz anders ist als in deiner Fantasie, kann es erst mal dauern, das zu verarbeiten. Dann liegt es nahe, dass du dich abwartend und still bist bzw. du nicht weißt, worüber ihr reden sollt. Eine gewisse anfängliche Verlegenheit sozusagen. Vielleicht hilft es dir an diesem Punkt zu versuchen, möglichst wenig zu fantasieren, wie die Person "ist". Also möglichst neutral-offen an Treffen heranzugehen.

Ich denke, du brauchst schlicht eine gewisse Vorlauf - oder Aufwärmzeit, um dich auf dein neues Gegenüber einstellen zu können. Das ist bei Menschen mit einem erhöhten Anteil an Introversion/Introvertiertheit so und auch bei Hochsensibilität. Beides ist nichts Krankhaftes, sondern einfach mögliche Spielarten, Facetten des Charakters. Vielleicht verarbeitest du die Reize aus deiner Außenwelt und deinem Inneren (Gedanken, Gefühle, Körpertätigkeiten...) ziemlich tief, sodass dies viel Kapazität beansprucht.

Bei introvertierten Menschen ist es oft so, dass sie in ungewohnten Momenten und Leuten, die sie erst kennenlernen müssen, zurückhaltend, abwartend sind. Wenn sie merken, dass sie sich wohl fühlen und von den Anderen akzeptiert werden, können sie auch aus sich heraus gehen und ihren extrovertierten Anteil mehr ausleben. Deine Schilderung mit der Gruppe klingt genau danach.
Du kannst mal für dich überlegen: Woher beziehst du hauptsächlich deine Kraft? Aus dem Alleinsein, etwas für dich machen - oder aus der Geselligkeit, dass (viele) Leute um dich herum sind? Das kann dir einen ersten Anhaltspunkt geben, ob du ziemlich introvertiert bist. Introvertierte Menschen brauchen regelmäßig ihre Ruhe, können wunderbar allein sein und sich mit "ihren" Themen beschäftigen, ohne unruhig zu werden. Dann haben sie ihre "sozialen Akkus" wieder geladen und können wieder etwas mit anderen Menschen unternehmen, ohne sich überfordert zu fühlen.
Bei Personen, die einen starken extravertierten Persönlichkeitsanteil haben, ist es anders: Sie lieben es, möglichst oft mit Anderen zusammen zu sein und finden es tendenziell eher unangenehm, (längere) Zeit allein zu sein. Natürlich kann sich das unterschiedlich zeigen. Die Einen springen nach der Schule gleich wieder aufs Rad, um ihre Kumpels zu treffen, die anderen ruhen sich zumindest etwas aus und machen etwas für sich. Doch sie wollen am gleichen Tag noch viel mit ihren Freund:innen erleben.
So ergeben sich mehr oder weniger typische Tagesabläufe. Und wenn ein Mensch eigentlich mehr Zeit für sich bräuchte, die aber aus bestimmten Gründen nicht bekommt oder umgekehrt, jemand sich einsam fühlt und dringend mehr Kontakte bräuchte, fühlen sich die Betreffenden in der Schieflage, fühlen einen Mangel.

Doch bei dir klingt alles ausgewogen und gut - du scheinst ein wacher Typ zu sein, der weiß, wo seine Stärken liegen :)
Informiere dich einfach noch ein wenig zu den Stichworten, die ich dir genannt habe, wenn sie dich neugierig gemacht haben. Passend dazu habe ich noch einen Buchtipp für dich: "Still und stark. Die Kraft introvertierter Kinder und Jugendlicher" von Susan Cain. Sehr lesenswert, egal wie sehr das auf einen selbst zutrifft.

Vielleicht beruhigt es dich aber auch einfach, dass du aus meiner Sicht nichts prinzipiell ändern solltest. Wie schon geschrieben ganz im Gegenteil: Du hast viele Trümpfe in der Hand und kannst dich entspannt zurücklehnen und das Leben genießen.
Am ehesten kann ich dir raten, dir am besten immer wieder solche Gruppen zu suchen, die deinen Interessen entsprechen.
Außerdem kann es für dich interessant sein, dich eher auf Einzelkontakte zu konzentrieren. Also lieber ein Mädchen/einen Jungen allein treffen, um dich ganz auf sie oder ihn einstellen zu können - anstatt mehrere, bei denen du unter Umständen weniger auf deine Kosten kommst.
Und: Achte darauf, bei welchen Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen du dich besonders gut fühlst. Das könnten welche sein, die ebenfalls eher zurückhaltend sind (zumindest anfangs) und sich nicht aufplustern und in Szene setzen müssen. Mit ihnen entstehen dann womöglich die tiefsten und spannendsten Gespräche!


Alles Liebe,
Nuala