Problem von Anonym - 20 Jahre

Brauche einen Ratschlag

Mir fällt es sehr schwer darüber zu reden, weil ich es bis jetzt nicht nachvollziehen kann und ich mich sehr schäme. Damals, als ich 14-15 Jahre alt war, finge ich an Pornos zu gucken, die mich neugierig machten und ich einiges ausprobieren wollte. Ich war komplett unerfahren und hatte nie Geschlechtsverkehr oder ähnliches. Habe einen kleinen Bruder, der zu dem Zeitpunkt 3-4 Jahre alt war und durch dieses Interesse ließ ich es zu einem Oralverkehr bei mir zu, aber kurz und danach nie wieder. Ich wusste nicht genau wie das ist, hatte zu dem Zeitpunkt auch kein schlechtes Gewissen und danach habe ich auch nicht mehr darüber nachgedacht und es auch nie wiederholt. Mir ist auch nie ähnliches passiert. Erst mit 17/18 bekam ich einen Schock deswegen, weil ich meinen ersten Freund hatte und ich somit auch mehr über die Sexualität erfuhr. Ich habe tagelang geweint und mich so sehr dafür geschämt und bis heute habe ich Angst und ein Schamgefühl, weil ich glaube jemanden missbraucht zu haben, da er auch viel jünger als ich war. Ich wünschte es wäre nie passiert! Mein Freund damals meinte zu mir ich soll mir keinen Kopf machen, schlimm wäre es wenn man im Erwachsenenalter sowas tun würde, dennoch quält es mich weil ich es als Falsch empfinde und ich mir niemals zutrauen könnte sowas zu wiederholen!!! Bitte um einen Rat

Nuala Anwort von Nuala

Lieber Unbekannter!

Ich möchte mich dafür bedanken, dass du dich trotz deiner enormen Scham an uns gewandt hast. Das Öffnen ist ein erster Schritt, der dich vielleicht sogar schon ein bisschen erleichtert hat.

Wahrscheinlich treffen in deinem Problem mehrere heikle Dinge zusammen, die eine explosive Mischung ergeben. Zum Einen Pornografie, die selten dem entspricht, was man allgemein als realistische Darstellung menschlicher Sexualität bezeichnen könnte. Dann noch dein junges Alter, als du diese konsumiert hast, gepaart mit Unerfahrenheit. Und dann noch der Anklang von sexualisierten Gewalt. Kein Wunder, dass du dich überfahren und schuldig fühlst.

Ich denke, es war ein Fehler, dass du deinen kleinen Bruder in sexuelle Handlungen einbezogen hast. Das will ich nicht herunterspielen. Allerdings sehe ich einen gravierenden Unterschied darin, etwas Gesehenes auf eher naive und unbedachte Weise nachzuahmen oder etwas wohlüberlegt und kalt zu planen und umzusetzen, Stichworte wären Heimtücke und Manipulation (Macht - und Unterwerfungsstreben als Triebfedern!).

Es ist wahrscheinlich einfach wichtig, deinen Fehler anzuerkennen und nicht herunterzuspielen. Deswegen kann ich der Aussage deines Freundes nicht zustimmen, weil du zumindest theoretisch schon damals hättest merken können, dass es falsch ist.
Auf der anderen Seite muss ein Fehler nicht immer wieder breitgetreten werden - er ist Fakt und muss als solcher anerkannt werden. Er darf aber auch nicht wie ein Damoklesschwert über allem schweben und dir immer wieder neu Schuldgefühle und Scham bescheren.

Am naheliegendsten wäre für mich, mit deinem Bruder zu sprechen. Allerdings kann es sein, dass er dadurch aus der Bahn geworfen würde - das kannst du sicherlich besser einschätzen. Eine Zwischenlösung könnte so aussehen, dass du ihm einen Brief schreibst, um dich seelisch zu erleichtern und dich bei ihm zu entschuldigen. Diesen Brief musst du ihm nicht sofort geben. Du kannst damit warten, bis ein geeigneter Zeitpunkt kommt bzw. er einfach älter und reifer ist. Eine Entschuldigung würde ich auf jeden Fall einbauen, egal wie. Denn auch falls dein Bruder sich nicht erinnern kann oder das Ganze als nicht so schlimm ansieht, ist das Entschuldigen für deinen Seelenfrieden wichtig, damit du langsam damit abschließen kannst.
Eine weitere Möglichkeit wäre, dass du ihm sagst: "Als du circa drei oder vier Jahre warst, habe ich dich zu Sachen angestiftet, die mir jetzt sehr leid tun. Dafür möchte ich mich bei dir entschuldigen!" Falls er dann nachfragt, hast du die Chance, ihm die Szene darzulegen. Entweder in schonenden Häppchen oder kurz und klar. Dann könntet ihr im Anschluss daran über eure Gefühle sprechen.
Auch mit anderen Personen zu sprechen, kann dir helfen.

Außerdem kannst du dich über die "echte" sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen informieren und dich ggf. entsprechend engagieren, indem du z.B. spendest oder dich ehrenamtlich einbringst. Das kann dir das Gefühl geben, ein sinnvolles Ventil für deine Reue zu finden.
Hier findest du u.a. entsprechende Anlaufstellen:
- https://www.gegenwind.org/
- https://selbstlaut.org/

Sicherlich ist es auch gut, die Mainstream-Pornografie kritisch zu betrachten und sich zu fragen, wie "menschenfreundlich" es da wirklich zugeht. Leider gibt es viele Hinweise darauf, dass viel mit Illusionen gearbeitet wird (wie auch bei Prostitution) und die Darsteller:innen sehr viel schauspielen und ertragen müssen. Das ist deswegen wichtig um zu begreifen, wie deine eigene Hemmschwelle zur Übergriffigkeit so niedrig sein/werden konnte. Ob es einen Zusammenhang geben könnte. Pornos können da durchaus suggerieren, dass "schnell, hart, viel" das Maß der Dinge ist und es okay ist, menschliche Grenzen zu übertreten. Sich immer wieder zu vergegenwärtigen, dass es nicht okay ist, das zu tun, ist sehr wesentlich!
Du kannst auch hier schauen, welche Pornos fair und offensichtlich mit Gleichberechtigung produziert wurden. Also anstatt dass Akteur:innen dominiert werden, wie gleichberechtigt sie Sexualität leben, wie vielfältig, auch mal zärtlich, liebevoll, sanft.
Wir dürfen uns nicht einreden lassen, dass Pornografie eigentlich etwas Gewalttätiges zu sein hat. Wir können unsere Sehgewohnheiten und unser Kaufverhalten steuern und verändern!

Weinen ist übrigens auch etwas Helfendes, weil es reinigend und klärend wirkt. Gerade wenn du deine Empfindungen dabei herauslassen kannst, indem du z.B. mit deinem Bruder redest, ist es ein schöner Begleiter. Es hilft, die Scham und die Schuld langsam abzubauen und sich selbst verzeihen zu können.

Du kannst dich nun allmählich verstärkt auf alles Schöne in deinem Leben besinnen, auch das Schöne mit deinem Bruder. Engagiere dich für eine tolle Geschwisterbeziehung, erfreue dich an gemeinsamen Erlebnissen und sei dankbar, dass es ihn gibt. Das erfüllt dich mit Glück und kann dir zusätzlich helfen, den Schrecken von damals angemessen zu begegnen.

Ich wünsche dir alles Gute!
Nuala