Problem von Anonym - 22 Jahre

Brief an Gastvater - keine Reaktion

Hallo liebes Kummerkasten Team,

Ich war vor einigen Jahren als Gastschülerin im Ausland. Während meiner Zeit dort habe ich bei super netten Gasteltern gewohnt. Vorallem zu dem Gastvater hatte ich eine ganz besondere Verbindung.

Dazu muss man wissen, dass ich mir immer jemanden wie ihn gewünscht habe, da mein richtiger Vater nie für mich da war und mich emotional misshandelt hat. Mein Gastvater hat seinen einzigen Sohn sehr jung verloren, eine tragische Geschichte...
Ich glaube, wir haben uns aus einem ganz bestimmten Grund kennengelernt: damit ich die Erfahrung mache, wie es ist, einen Vater zu haben; und damit er die Erfahrung macht, wie es ist, Kinder zu haben.

Meine Gastfamilie hatte schon viele Gastschüler, aber meine Gastmutter hat zu mir gesagt, dass noch nie jemand so eine Verbindung zu meinem Gastvater hatte wie ich. Sie meinte, dass ich wie eine Tochter für ihn bin. Mein Gastvater hat mich wirklich wie eine Tochter behandelt. Er hat mir zugehört, nachgefragt, gemerkt wenn es mir nicht gut ging. Wir haben viel zusammen unternommen.

Nach meinem Auslandsaufenthalt sind wir in Kontakt geblieben und haben mindestens einmal im Monat telefoniert. Mein Gastvater hatte immer einen guten Ratschlag für mich und obwohl ich weiß, dass er ziemlich viel Stress hatte, hat er sich immer Zeit für mich und meine Probleme genommen.

Dieses Jahr habe ich meine Gastfamilie für ein paar Wochen besucht. Mittlerweile bin ich eine junge Frau und sehe meinen Gastvater mehr als Vorbild und Mentor und nicht mehr als Vaterersatz. Unsere Verbindung hat sich irgendwie verändert, aber sie ist immernoch da. Als ich abgereist bin, habe ich ihm einen Brief dagelassen, den ich kurz nach meinem 1. Auslandsaufenthalt vor einigen Jahren geschrieben habe. Darin bedanke ich mich für alles und schreibe, dass er mir gezeigt hat, wie ein Vater sein sollte und zähle ein paar Dinge auf, die ich an ihm bewundere. Ich wollte, dass er weiß, wie ich über ihn denke, da er wirklich ein herzensguter Mensch ist und ich das Gefühl habe, dass er viel zu selten ein Dankeschön zu hören bekommt. Mein Ziel war, ihm etwas zurückzugeben, ihm eine Freude zu machen.
Den Brief habe ich ihm auf seinen Schreibtisch gelegt, so dass er ihn findet, wenn er vom Flughafen zurückkommt. Das ist jetzt eine Woche her, und ich habe nichts von ihm gehört. Jetzt plagt mich die Ungewissheit. Was denkt er jetzt von mir? Warum kommt keine Antwort? Kann ich überhaupt eine Antwort erwarten? Ein einfaches Danke würde ja schon ausreichen. Was mache ich, wenn keine Antwort kommt? Mir ist das jetzt total unangenehm, da wieder anzurufen. Soll ich so tun, als wäre nichts gewesen?

Nuala Anwort von Nuala

Hallo du!

Die Möglichkeit, in einem Brief all die Zuneigung, Dankbarkeit und Freude über die gemeinsam verbrachte Zeit niederzuschreiben, finde ich sehr schön. Ich bin mir sicher, dass das allgemein betrachtet eine gute Art ist, die eigenen Gefühle zu transportieren. Daher kann ich dir für die Zukunft empfehlen, das Medium Brief weiter anzuwenden. Ein Brief hat eine ganz andere Bedeutung und Wichtigkeit als eine E-Mail, eine getippte oder gesprochene Nachricht, ein Telefonat - und ist auch anders als eine Unterhaltung von Angesicht zu Angesicht. In einem Brief kann man sich zum Teil noch verletzlicher zeigen und alles ausformulieren, was in einer herkömmlichen Gesprächsdynamik häufig zu kurz kommt oder vergessen wird. Einen Brief kann man ganz in Ruhe schreiben und die Gedanken und Gefühle entsprechend ordnen und einfließen lassen.

Gleichzeitig kann ich auch deine Verunsicherung nachfühlen. Ich hatte schon viele solcher Situationen und habe das Gefühl der Unklarheit gehasst. Hier hängt es auch von deinem Naturell ab: Brauchst du viel direkte Klarheit? Brauchst du rasche Rückmeldungen? Tendierst du zu Ungeduld?

Es kann viele Ursachen und Gründe geben, weswegen du bisher noch keine Antwort erhalten hast, allen voran Stress und unerwartete Herausforderungen wie Schicksalsschläge.

Ganz zentral finde ich allerdings, dass du gerne eine Antwort haben möchtest. Das ist deine Erwartung. Und mit Erwartungen ist es so eine Sache. Sie führen leicht zu Enttäuschungen.
Dann ist noch die simple Frage in mir aufgekommen, ob du überhaupt um eine Antwort gebeten hast - oder ob du das stillschweigend voraussetzt, eine zu bekommen?
Es wäre dir vermutlich viel einfacher gefallen, jetzt zum "Alltagsgeschäft" überzugehen, wenn du den Brief erwartungsfrei abgelegt hättest. Erwartungsfrei in dem Sinn, dass du in erster Linie das Bedürfnis hattest, ihm deine Zuneigung zu geben. Mehr nicht.

Dann gibt es noch den wichtigen Aspekt, dass du einen alten Brief genommen hast. Das kann heikel sein, denn ihr steht ja Jahre später schon an ganz anderen Entwicklungsetappen. Ziehe in Betracht, dass er denkt, es sei ein aktueller Brief - und es ggf. unpassend findet, weil ihr eigentlich gerade auf einem neuen Beziehungslevel angelangt seid, das mehr von Unabhängigkeit getragen zu werden scheint.

Ich weiß nicht, ob du noch einen erklärenden Zettel beigelegt hattest oder nur den alten Brief hingelegt hast. Falls Letzteres: Wie würdest du dich fühlen, wenn du so einen Brief vorfinden würdest - und sich in der Beziehung zu diesem Menschen bereits einige Dinge verschoben haben, du vielleicht persönlich auch mit anderen Themen und Personen beschäftigt bist?

Vielleicht braucht er auch schlichtweg die Zeit. Möglicherweise hat er sich sehr gefreut und denkt über einen Antwortbrief nach. Oder will dir auf anderem Wege antworten. Eine Woche ist keine Zeit. Wir sind nur mittlerweile derart extreme Schnelllebigkeit gewöhnt, dass uns eine Woche Reaktionszeit schon sehr lang vorkommen kann! Faktisch ist sie es aber nicht. Besonders bei Briefen nicht!
Außerdem hat er ja seinen Alltag, seine Familie, seine Verpflichtungen. Und er kann sich auch einfach "nur" gefreut haben und deinen Brief gerade nur als Liebesbekundung sehen und mehr nicht. Als nichts Dringendes eben. Hier wieder: Wenn du deinen Brief nicht entsprechend "eingerahmt" hast, kann es durchaus sein, dass er keinen (schnellen) Reaktionsbedarf sieht.

Es kann auch sein, dass er (noch) nicht weiß, was er antworten soll. Vielleicht hast du ihn verwirrt. Vielleicht ist er überfordert. Auch große Freude kann teilweise überfordernd wirken!
Vielleicht alles zusammen. Wenn dann noch der Alltagsinput dazukommt, kann es geschehen, dass er den Brief erstmal beiseite legt (auch im Kopf und ihm Herzen) und sich zu einem geeigneteren Zeitpunkt darum kümmern will.Wer weiß!
Du hast Jahre später den Brief abgelegt. Er kann sich streng genommen auch Jahre Zeit lassen, dir zu antworten...

Summa summarum plädiere ich dafür, dass du dich jetzt auf dich konzentrierst, versuchst, die Erwartungen zu hinterfragen und die Liebe an sich zu leben. Das allein ist ja auch das, was euch verbindet. Erfreue dich innerlich an dem intensiven Band, das euch verbindet. Er weiß es ja so wie du. Ihr spürt gegenseitig, was ihr aneinander habt, auch wenn sich die Vorzeichen des dynamischen Lebens verschieben.
Sei nachsichtig mit ihm und lasse dich nicht verunsichern.

Es spricht nichts dagegen, mehrere Wochen abzuwarten und dann vielleicht vorsichtig nachzufragen, wie es ihm mit deinen Zeilen ergangen ist. Erkläre ruhig den Kontext! Dies kannst du sogar schon früher tun. Dafür solltest du dich nicht schämen - es gibt keinen Anlass zur Scham. Ganz im Gegenteil! Es einfach zu übergehen, wenn du eigentlich das Bedürfnis nach Klärung hast, halte ich für kontraproduktiv. Ihr habt so viel Vertrauen zueinander, dass es kein Problem sein sollte, nochmal richtig in ein intimes Gespräch einzusteigen - dann aber eben im Kontext der Gegenwart, nicht der Vergangenheit.

Herzliche Grüße,
Nuala