Problem von Julia - 22 Jahre

Abgrenzung vom Vater

Liebes Team,
ich wende mich mit einem Problem an euch, zu dem ich mir in den letzten Jahren sehr viele Gedanken mache und gemacht habe, aber nie zu einer Lösung komme.
Um mal etwas weiter auszuholen: Ich habe eine ziemlich normale Kindheit genossen, würde ich sagen. Natürlich war nicht alles immer rosig und natürlich habe ich aus dieser Zeit auch Eigenheiten behalten und weniger schöne Erinnerungen. Aber ich würde behaupten, dass das sehr normal ist. Alles in allem kann ich mich aber, denke ich, nicht beklagen. Irgendwann in der Pubertät meines Bruders (4 Jahre älter als ich) fing es aber an, dass mein Vater und er ständig Diskussionen hatten. Ich bin ein absoluter Familienmensch, so rückblickend würde ich jedoch sagen, dass es in dieser Zeit (also vor mehr als zehn Jahren) anfing, dass ich mich von meinem Vater distanziert habe, bzw damit begonnen habe. Oft bemerke ich das erst gar nicht, erst dann, wenn da schon einiges an Distanz aufgebaut wurde. Mit den Jahren ist es mehr geworden und es haben sich Situationen gehäuft, die diese Distanz begünstigt haben. Mein Vater ist kein schlechter Mensch und er war meinen Geschwistern und mir immer ein guter Vater. Allerdings bin ich erwachsen geworden und in dieser Entwicklung sind mir viele Sachen dann viel mehr aufgefallen und oft sauer aufgestoßen. Da wäre zum Beispiel die Tatsache, wie er sich Frauen gegenüber verhält. Seit meine Mutter sich eigenständig gemacht hat, meckert er nur an ihrer Arbeit rum und würdigt keinen Erfolg. Er holt auch, wenn er mal so drauf ist, viele Klischees aus der Schublade. Auch so manche körperliche Sachen, die er an Frauen unattraktiv findet, und wir reden hier von Sachen, die kein Mensch ändern kann, machen mich wütend, ich finde, er sollte lieber auf seine eigene Figur schauen. Ich liebe Gerechtigkeit und Respekt, ich kann sowas nicht mit anhören und verstricke mich dann in Diskussionen, weil ich dieses Unrecht korrigieren will (dabei werde ich wahrscheinlich selber ungerecht). Außerdem bindet er mich auch sehr in seine Ehe-Probleme ein. Ich habe Probleme, mich abzugrenzen, wenn ich dann aber mal sage, dass es mich nichts angeht und ich die falsche Ansprechpartnerin bin, werde dann plötzlich ich zum Problem gemacht. Und so geht es bei vielen Sachen. Im Rückblick glaube ich, dass das alles Sachen sind, die diese Abgrenzung begünstigt haben. Eigentlich kann ich mich da aber sehr auf mein Bauchgefühl verlassen, so eine Abgrenzung kommt nicht von ungefähr. Mein Problem ist aber, dass ich nicht so recht weiß, ob das gut und richtig ist im Hinblick auf Moral, Familie und Verantwortung, er ist immerhin mein Vater. Als ich vor ca. drei Jahren ausgezogen bin, habe ich auch gemerkt, dass ich wenn, immer eher mit meiner Mutter telefoniere und auch gerne telefoniere. Ich möchte meinen Vater ja nicht verletzen, aber so ist es, akzeptieren tut er es natürlich auch nicht und ich habe auch oft das Gefühl, dass er mich gar nicht verstehen will. Ist es in Ordnung, sich da abzugrenzen? Was kann ich machen, dass er nicht so verletzt wird, oder kann ich da gar nichts machen? Darf ich zu meiner Mutter den besseren Kontakt haben, obwohl ich sonst eher auf Gerechtigkeit setze?
Ich hoffe sehr, dass ihr mir helfen könnt.
Grüße,
Julia

Nuala Anwort von Nuala

Liebe Julia!

Puh, das klingt wirklich anstrengend. Ich glaube, Familienthemen gehören zu den belastendsten überhaupt, weil man so tief drinsteckt und eben nicht immer die Abgrenzung schafft oder vornehmen möchte, die vielleicht nötig wäre.
Du darfst dich auf jeden Fall abgrenzen - und das auf die Art und Weise, welche dir eben liegt. Du hast ja schon gute Ansätze, auf dein Gefühl zu vertrauen. Das kannst du gerne weiter ausbauen. Wenn du es mit deinem gesunden Menschenverstand kombinierst, kannst du viel Wertvolles für dich herausholen, da bin ich mir sicher!
Es ist ebenfalls total okay und auch normal, dass man zu einem Elternteil unter Umständen ein engeres Verhältnis pflegt. Das darf so sein und muss dir kein schlechtes Gewissen bereiten. Es ist ja sogar so, dass sich die Präferenz für einen Elternteil schon im frühen Kindesalter bemerkbar macht. Ich will nicht spekulieren, aber stell dir einmal vor, dein Vater würde seine Marotten nicht so zeigen bzw. hätte sozusagen mehr liebenswerte Verhaltensweisen. Dann hätte es sich auch anders entwickeln können. Allerdings ist es müßig, da im Nebel herumzustochern. Es ist wie es ist. Für dich kann es als Lernfeld fungieren, dem du dich stellen kannst. Du kannst lernen, dich so abzugrenzen, dass du deine Persönlichkeit schützt, deine Interessen wahrst und deine Bedürfnisse umsetzen kannst. Liebevolle Abgrenzung als Stichwort.

Familie ist eh so eine Sache für sich. Da werden Rollen gespielt, Sündenböcke gesucht und gefunden, Leute abgestempelt... genauso natürlich im Guten. Das Tückische ist vielfach, dass man in bestimmten Verhaltensmustern gefangen ist, die man sehr genau anschauen muss. Also wenn dein Vater z.B. XY macht, reagierst du mit Z. Hier ist aber auch eine Chance, auszubrechen und es anders zu machen!

Innerhalb des Familienverbandes und der Verwandtschaft gibt es so viele komplexe Verflechtungen, oftmals ungeschriebene Gesetze, Wünsche, Erwartungen, einige werden über Generationen weitergegeben.
... und dann ist da zusätzlich noch die Unterschiedlichkeit der einzelnen Familienmitglieder. Es ist eben bei Weitem nicht so, dass man sich innerhalb einer Familie ähneln muss. Und wie du es ja auch beschrieben hast, dein Vater ist ein guter Mensch, wie alle anderen auch. Nur benimmt er sich eben auch daneben, was dich an deine Grenzen bringt. Da seid ihr vielleicht sehr verschieden: Er nicht so sensibel und gerechtigkeitsbetont wie du, du eventuell ausgeglichener als er, anderes Temperament, andere Weltsichten, etc. ... Ich denke, diese Unterschiede anzuerkennen und sie mit gütigen Augen zu betrachten, kann viel bringen. Du kannst versuchen, innerlich ein paar Schritte zurückzutreten. Deinen Vater so sein zu lassen. Gleichzeitig kannst du dir überlegen, welche Bereiche oder Momente dich wirklich stören: Hier wären klare Worte angebracht!
Vielleicht kennst du das Konzept der sogenannten gewaltfreien Kommunikation nach Rosenberg. Das ist sehr nützlich, um schwierige Gespräche leichter und vor allem verletzungsfreier führen zu können.

Dann kann ich dir noch den Tipp geben, nicht das Trennende, sondern das Verbindende zwischen euch zu betonen. Denn wahrscheinlich läuft es seit Jahren eher so ab, dass dir besonders das Negative auffällt, was ja auch verständlich ist. Dennoch kannst du probieren, dich sehr bewusst auf eure Gemeinsamkeiten zu besinnen, auf ähnliche Wesenszüge, gleichen Geschmack, etc. Sofern ihr Weihnachten feiert und das zusammen, wäre das die ideale Gelegenheit! :)

Natürlich wirst du vieles, was von deinem Vater kommt, nicht ändern können. Es kann sein, dass er selbst in einigen Aspekten seines Lebens unglücklich ist und dies mit Meckern, Sexismus und anderen Abwertungen kompensieren will (unbewusst). Da wäre noch eine Überlegung, einfach mal mit ihm sanfte Gespräche zu führen mit ihm, wie er sich gerade so fühlt, was er noch erreichen möchte, wie er sich als jungen Menschen sein Leben als "gesetzter" Mann vorgestellt hat und dergleichen... geht doch einmal gemeinsam spazieren oder setzt euch hin, vielleicht bekommst du ihn bissl ins Reden. Falls es nicht klappt, solltest du es akzeptieren und nicht wieder "innerlich mit dem Finger auf ihn zeigen".

Allgemein gesehen ist es immer sehr gut, bei sich selbst anzusetzen und die eigenen Fehler und Macken anzuschauen. Denn vieles, was uns am Gegenüber stört, hat mit uns selbst zutun.
Davon abgesehen profitieren alle Menschen um dich herum, so auch dein Vater, wenn du ganz viel für dich selbst tust, ohne schlechtes Gewissen und Reue. Wenn du selbst im seelischen Gleichgewicht bist und wohlwollend mit deiner Umwelt umgehst, wirst du entsprechende Resonanz erhalten.

In diesem Sinne wünsche ich dir alles Liebe und eine schöne restliche Zeit im alten Jahr,
Nuala