Problem von Anonym - 34 Jahre

Probleme mit der Nostalgie

Hallo,

nach längerer Recherche im Internet ohne wirkliche Antworten habe ich mich dazu durchgerungen mein Problem (wenn man das so nennen kann), welches eigentlich schon seit längerer Zeit besteht, jemandem mitzuteilen.

Ich bin extrem Nostalgisch was die Jahre 2001-2003 betrifft, einer Zeit in der ich 16-18 Jahre alt war. Zu dieser Zeit habe ich mich einfach gut gefühlt. Alles war neu, aufregend, der Körper wach und belastbar, der Geist hungrig, schnell und voller Ideen. Träume, Lebensziele und der Traumjob kamen einfach aus dem nichts und präsentierten sich vor meinen geistigen Auge in voller schön- und perfektheit. Ich hatte - zwar nicht viele - dafür aber RICHTIGE Kumpels mit denen ich durch dick und dünn gegangen bin.

2005 (mit 20) fing bei mir schleichend eine Angststörung an unter der ich bis 2012 (27) schwer zu leiden hatte. Trotzdem war ich, trotz Einschränkungen, dazu in der Lage viele Dinge die ich mir mit 16 erträumt hatte umzusetzen und schliesslich durch den Verzicht auf Alkohol und Tabak auch meine Angststörung in den Griff zu bekommen.

Jetzt sitze ich hier. 2019. 34 Jahre alt. Und trauere fast jeden Tag der Zeit mit 16 hinterher. Ich habe liebe/partnerschaftlich und materiell gesehen an sich alles erreicht und noch mehr als ich mir mit damals erträumt hatte. Gut meinen Traumjob übe ich leider 95% der Zeit in einer völlig runtergewaschenen und langweilig/nervigen Form aus, so das ich seit gut 10 Jahren fast jeden Tag einen Boreout erlebe. Die 5% der Zeit wo ich meinen Job dann so ausüben kann wie er eigentlich gedacht war sind zwar immer noch schön, haben aber, durch den total nervigen und langweiligen Alltag (die 95%), sehr stark ihren "Glanz" verloren.

Kumpels habe ich KEINE mehr. Die Leute von früher sind entweder weggezogen oder haben durch Job/Ehe/Kinder einfach keine Zeit mehr. Man hat sich "aus den Augen verloren."

Ich ertappe mich dabei wie ich fast jeden Tag an den Orten von damals vorbeigehe und an die Zeit von früher denke was mir einerseits gut tut (es lenkt mich von dem langweiligen Alltag ab) andererseits sehr traurig stimmt weil diese Zeit unwiederbringlich verloren ist, ich das Gefühl habe das es von jetzt an nur noch bergab geht und ich die beste Zeit meines Lebens bereits lange hinter mir gelassen hab.

Würde mich über eine Antwort von Euch freuen! VG

Adriano Anwort von Adriano

Hallo, Du!

Vielen Dank zunächst einmal für deine Nachricht und das in uns gesetzte Vertrauen. Ich möchte mich deinen Schilderungen gerne annehmen!


Mit 34 Jahren, die du alt bist, ist es keineswegs falsch, unüblich oder seltsam sich an frühere Zeiten zurückzuerinnern oder sie zu vermissen. Es existieren einige wissenschaftliche Abhandlungen darüber, in welchen Phasen sich der Mensch verändert. Und, damit zusammenhängend, wie sich das äußere Erscheinungsbild, aber eben auch das Innere des Menschen Veränderungen unterzieht. Also das Wahrnehmen, das Empfinden, das Reflektieren und das Schlüsseziehen - was in der Summe viel mehr Gewichtung hat als die Veränderungen des Aussehens. Man sagt, dass sich der Mensch alle sieben Jahre grundlegenden Veränderungen unterzieht. Das scheint, wie ich finde, ziemlich gut zuzutreffen. Werfen wir mal gemeinsam ein Blick drauf, wenn du Lust hast: mit 7 Jahren nimmt ein Kind seine Umgebung und sich selbst bedeutend anders wahr als dann mit 14 Jahren. Und mit 21 Jahren scheinen die vergangenen Etappen völlig über Bord geworfen, während sich mit dem 29. und dann 36. Lebensjahr bereits so viele Veränderungen vollzogen haben, dass man nicht nur äußerlich erheblich andere Merkmale hat als noch vor sieben oder vierzehn Jahren, sondern sich auch das Innere völlig umgekrempelt zu haben scheint. Spannend finde ich dabei den Zusammenhang zur Mundart die sagt, dass man das "innere Kind" jedoch nie ganz verliert. Ich persönlich, und du vielleicht auch, würde diese Redensart zu Einhundertprozent bestätigen. Während wir uns in der Kindes- und Teenagerzeit noch nicht ganz so sehr aufs Wahrnehmen und Reflektieren unserer Vergangenheit konzentrieren, denn es passieren ja jeden Tag neue spannende Dinge, gewinnt das, was du beschreibst, also die Nostalgie, im zunehmenden Alter aber immer mehr an Bedeutung.


Damit möchte ich dich natürlich nicht beschulen, da ich denke, dass du das, was ich geschrieben habe, so oder so ähnlich auch schon wusstest. Aber es hilft, wie ich finde, sich diesen Prozess immer mal wieder (auch in Zukunft) vor Augen zu halten um zu verstehen oder um besser verstehen zu können, dass gewisse Gefühle, die sich erst im zunehmenden Alter entwickeln und sich unter Umständen stark ausprägen können, gar nicht mal schlecht sind, auch wenn sie das Potential haben, uns dann doch schlecht fühlen zu lassen. Sie scheinen eine Art natürliche Begleiterscheinung, eigentlich eher eine besondere Fähigkeit des Erwachsenwerdens zu sein. Möglicherweise ist es genau DIE Fähigkeit, um die das Kind oder der Teenager die Erwachsenen insgeheim in seiner Gedankenwelt so sehr beneidet. Kinder, und ich nehme mein Kindsein da nicht aus, haben in den meisten Fälle die Annahme dass die Erwachsenen alles wissen, dass die Erwachsenen zu jeder Lebenslage die passende Entscheidung parat haben oder und man sich ganz gewiss immer darauf verlassen kann, was Mama und Papa sagen. Wie wir beide wissen, ich mit meinen 32 Jahren und du mit deinen 34 Jahren, sind wir aber alles andere als gewappnet für Dinge, die uns ummannen. Auch, wenn wir erwachsen sind. Während wir also unser inneres Kind nie ganz verlieren, gewinnen wir auf der anderen Seite an Fähigkeiten hinzu die uns vor Augen halten, wie sehr wir uns vom Kind- und Teenagersein, vom Alltag von früher tatsächlich entfernt haben. Dafür verantwortlich sind zunächst mega banale Gründe oder Gegebenheiten. Schulausbildung, Berufsausbildung, neue Pflichten als Heranwachsende und als Erwachsende, Umzüge, so was. Und alle, die in unserem Freundeskreis waren, durchgehen diese Veränderungen auch. Mit fast mathematischer Präzision und Wahrscheinlichkeit also kommt es innerhalb ganz weniger entscheidender Jahre zu dem Phänomen, dass man selbst aus den bisherigen Ankern seines Lebens buchstäblich gerissen wird. Das Fatale daran ist, dass man diese Veränderungen gar nicht mitbekommt, denn sie geschehen so schnell, dass eine umfassende Verarbeitung dieser Entwicklungen eigentlich gar nicht stattfinden kann. Zumindest nicht sofort.

Doch diese Verarbeitung kommt irgendwann. Schleichend. In einem Alter jenseits der 14 oder 21 Jahre, die wir einst waren. Diese Verarbeitung kommt so heftig und paart sich fast schon hinterhältig mit unseren neugewonnenen Fähigkeiten. Die Fähigkeiten, die es uns nun erlauben, uns selbst und unsere Vergangenheit, aber auch unser Hier und Jetzt in Kontext zu bringen, in Relation zu stellen. Und: dann haben wir sie: die Nostalgie! Wenn unser Hier und Jetzt so große Lücken aufweist im Vergleich zu dem, was wir einst hatten. Namentlich Spaß, Abwechslung, Abenteuer, so viele "Erste Erfahrung"-Momente, Freundschaften oder Orte, an denen wir heute nicht mehr sind, früher aber so oft waren und an denen wir all das erlebt hatten. Und dann plötzlich empfinden wir auch noch neu, wir reflektieren und ziehen Schlüsse. Vielleicht sogar zum ersten Mal in unserem Leben. Wir ziehen Schlüsse und stellen fest, anders als mit 12, 14 oder 16, dass man tatsächlich vermissen kann, was "gestern" war.

Was ich damit sagen möchte: was für eine Aufgabe! Bei der es uns überhaupt nicht hilft den Vorteil zu haben, erwachsen zu sein. Wir sind alle irgendwann anfällig für Nostalgie. Was aber gewinnen wir der Nostalgie nun ab?


Hier nun würde mein gut gemeinter Rat, wenn es bis hierhin überhaupt ein Rat war oder gewesen sein konnte, an entscheidender Stelle aufhören. Was wir selbst aus unserer Nostalgie machen, wie wir sie formen oder in etwas Hilfreiches ummünzen können, ist eine sehr schwer zu beantwortende Frage. Ich persönlich pflichte dir bei, dass Nostalgie sehr schmerzvoll sein kann. Jedoch: von Grundauf schmerzvoll oder schlecht ist Nostalgie vielleicht nicht. Metaphorisch gefragt: was würde die Nostalgie, wenn sie sprechen könnte, antworten auf die Frage, ob sie gut oder schlecht ist? Sie ist ganz gewiss eine dazugelernte Empfindung die es uns erlaubt, unser bis hierhin gelebtes Leben zum allerersten Mal richtig begreifen zu können. Oder es zum allerersten Mal richtig wertschätzen zu können. Nostalgie, die schmerzt, kann doch dann aber nur bedeuten, dass die eigene Vergangenheit eine gute und erstrebenswerte Zeit in unserem Leben war, oder? Vielleicht also ist sie im selben Atemzug auch der Motor dafür, uns anzutreiben, dass unsere zukünftige Vergangenheit genauso erstrebenswert und gut sein soll wie es unserer frühere Vergangenheit war. Sie ist eine permanente Verbindung zu unserer Vergangenheit und lässt uns sie nicht vergessen. Eine eigentlich ziemlich tolle Eigenschaft, nicht wahr? Etwas zu sein was dabei hilft, Gutes nicht zu vergessen.

Ich persönlich finde es völlig in Ordnung, nostalgisch zu sein. Ich finde es völlig in Ordnung, dass du mit 34 Jahren nostalgisch bist. Es ist auch absolut legitim über eine Zeit, die schön war, zu trauern. Vielleicht ja ist es auch die nächste große Aufgabe, der wir uns als Erwachsene stellen müssen. Eine Antwort darauf zu finden, was wir aus der Nostalgie für uns selbst ziehen und wie wir sie in unserem Leben weiter integrieren wollen. Sie kann Antrieb sein, alte Bekanntschaften wieder aufzusuchen und Nostalgie miteinander zu teilen. Sie kann vielleicht auch Antrieb sein, neue Bekanntschaften zu schließen und durch ihre Eigenschaft, uns an Schönes zu erinnern, dabei helfen, unsere Angst im Alter genau davor zu verlieren, neue Bekanntschaften zu begründen. Denn das fällt uns als Erwachsene offenbar zunehmend schwerer. Sie kann vielleicht auch wieder etwas in uns wecken, das unsere Abenteuerlust hervorbringt und uns daran erinnert, dass wir früher uns nicht damit zufrieden gegeben haben, wenn etwas uns nur zu 5% zufriedengestellt hat. Nostalgie muss vielleicht auch gar nichts bewirken, insofern man für sich selbst herausfindet, dass Nostalgie einfach ein ständiger Begleiter bleiben soll.


Ich hoffe, dass ich dir ein wenig helfen konnte. Lass doch gerne von dir hören, falls du weitere Fragen haben solltest oder einfach weiter mit uns sprechen möchtest! Ich wünsche dir einen frohen 2. Advent!


Viele Grüße,
Adriano