Problem von Anonym - 29 Jahre

Zukunftsängste (an PaulG)

Hallo Paul,

schon seit mehreren Jahren leide ich immer wieder unter Zukunftsängsten die ich mal gut und mal weniger gut unter Kontrolle habe. Nun ist es so, dass ich eigentlich glücklich sein sollte da ich im Sommer Vater werde aber leider quälen mich den ganzen Tag Ängste vor der Zukunft. Auslöser dafür waren diesmal die Unruhen in den USA. Viele Politiker und Journalisten behaupten, dass das Land nicht noch vier Jahre Trump ertragen würde und dass die Demokratie in Gefahr ist und dass hat bei mir so zu sagen ein apokalyptisches Gedankenkarussell ausgelöst. Ich habe nur noch Ängste vor Krieg und anderen ähnlichen Katastrophen und das quasi alles den Bach runtergeht. Außerdem fürchte ich mich davor, dass mein Kind in dieser schrecklichen Welt dann aufwachsen muss.
Dazu kommt, dass ich immer den Drang verspüre die Nachrichten zu hören/lesen/googeln um mich selbst zu beruhigen da ich immer das Gefühl habe, dass jeden Moment irgendeine Katastrophe über uns alle hereinbricht.
Ich finde einfach keinen Weg mich zu beruhigen und hoffe du kannst mir helfen.

Liebe Grüße!

PaulG Anwort von PaulG

Lieber Anonymer,

zunächst einmal vielen Dank für dein Vertrauen - unser letzter Kontakt liegt ja schon eine Weile zurück. Ich freue mich, dass dein Leben sich offenbar insgesamt sehr gut entwickelt hat. Vor allem: Herzlichen Glückwunsch! Ich denke wirklich, es ist von nicht unwesentlicher Bedeutung für deine aktuelle Problemlage, dass du bald Vater wirst. Schließlich fragst du dich völlig zu Recht, in was für einer Welt dein Kind aufwachsen wird und ob du es schaffen kannst, ihm die Chancen zu bieten, die du ihm wünschst. Andererseits bedeutet das - so paradox es erst einmal klingen mag - vielleicht sogar einen Fortschritt gegenüber deinem letzten Stand, in jedem Fall eine Entwicklung. Denn du selbst bist inzwischen gefestigt genug, um dem Gedankenkarusell standhalten zu können. Da aber mit deinem Kind jetzt ein weiterer Mensch ins Spiel kommt, den du liebst und für den du die Verantwortung hast, brechen die Dämme. Das ist schlimm, doch es zeigt auch, dass dein Kind einen liebenden und fürsorglichen Vater gewinnen wird - und das ist das Wichtigste und Beste, was es haben kann. Ganz egal, wohin die Welt sich entwickelt.

Ich denke, du solltest dir Eines klar machen: Es kommt am Ende immer anders. Wir leben in einer Zeit, in der durch das Internet bedingt so gut wie alles, was irgendwo passiert, überall abrufbar ist. Auf diese Weise fühlt man sich oft von den Ereignissen regelrecht erdrückt. Je tiefer du dich in Schreckensmeldungen vergräbst und je mehr du davon liest, desto eher bekommst du das Gefühl, dass um dich herum alles in Auflösung begriffen ist. Dieser Eindruck täuscht natürlich. Denn die gesamte Berichterstattung funktioniert - logischerweise - so, dass in erster Linie über das recherchiert und veröffentlicht wird, was Menschen am ehesten zum Klicken und Kaufen veranlasst. Und das sind nun mal Skandale, Skandale, Gewalt und Gewalt. In den letzten Monaten sind die Berichte á la "Die Regierung belügt alle" oder "es ist eigentlich alles ganz anders" in die Höhe geschnellt. Auch darin liegt eine große Falle, in die man nur allzu leicht tappt. Denn da wir, wie schon gesagt, in einer Marktwirtschaft leben, haben Skandalisierungen, "alternative Fakten" und Verschwörungstheorien natürlich vor allem deshalb Konjunktur, weil die Menschen sich dafür interessieren lassen. Menschen lesen und kaufen nicht die Berichterstattung, aus der sie sich am besten eine eigene Meinung bilden können - sie lesen und kaufen, was ihre schon bestehende Meinung am stärksten bestätigt. Nun könnte einer kommen und sagen, es sei doch löblich, wenn Menschen gegen den Strom schwimmen und "Aufklärung" betrieben. Man könnte genauso gut sagen: Wer über gute Argumente verfügt, hat es nicht nötig, überall verborgene Strukturen, finstere Mächte und Verschwörungen am Werke zu sehen. Die Menschen, die die Realität immer wieder so erklären wollen, haben ja in Wirklichkeit gar kein Interesse, dass das, was sie behaupten, allgemein anerkannt wird. Denn dann würden sie nicht mehr die Aufmerksamkeit, das Lob - und nicht zuletzt das Geld - abgreifen können, die sie jetzt damit erwerben können. Der Verschwörungstheoretiker beansprucht, aufklären zu wollen, aber in Wirklichkeit ist er darauf angewiesen, dass sich nichts bessert. Sonst ist er ja kein heldenhafter Freiheitskämpfer mehr. Dass viele das in Verschwörungstheoretikern sehen, geht zu Lasten der Menschen, die wirklich überall auf der Welt gegen Unrecht und Unterdrückung vorgehen - und zwar unter großen persönlichen Risiken. Wer aus irgendeinem Wohnzimmer ein kryptisches Video zusammenbastelt und behauptet, "unterdrückt" zu werden, obwohl er nicht mal sein Gesicht zeigt, ist kein Held, sondern ein Heuchler. Denn wofür die Verschwörungstheoretiker zu kämpfen behaupten - und das ist ja in vielen Fällen nichts weniger als die Demokratie oder die "abendländische Kultur" - wäre es doch mit Sicherheit wert, jede Gefahr auf sich zu nehmen. Genau das tun diese Menschen aber nicht.

Wenn es um die momentane Lage in den USA geht, ist das, was ich eben erklärt habe, von noch größerer Bedeutung: Denn in Wirklichkeit ist die Situation längst an einem Punkt angekommen, an dem sie absolut unübersichtlich geworden ist. Niemand kann so genau sagen, wer da wofür auf die Straße geht und warum. Es spricht vieles dafür, dass ein Großteil der Menschen vor allem das Ziel verfolgt, ihren lange angestauten Frust und ihre Wut irgendwohin abzulassen: Wut über ihre Armut, Wut über irgendwelche Gesetze, Wut über persönliche Niederlagen, die sie irgendwem anlasten. Da ist es ganz egal, ob schwarz oder weiß. Es gibt niemanden, der diese Proteste kontrolliert, lenkt oder den Teilnehmern ihre Meinung eingeben würde. Es gäbe - und das ist das Wichtige - auch niemanden, der das könnte. Die Proteste sind nicht das Werk irgendwelcher versteckten Cliquen, Untergrundarmeen oder Think Tanks, sondern sie konnten entstehen, weil in einer Gesellschaft unendlich viel im Argen liegt. Dafür gibt es keinen einzigen konkreten Grund, sondern es gibt hunderte, die sich über Jahre und Jahrzehnte hinweg angesammt und verstärkt haben. Im Moment sind unheimlich viele "Experten" unterwegs, die dir einreden wollen, sie könnten all das genau erklären. Sie können es nicht. Auch ich kann es nicht. Ich kann dir nur sagen, dass es für Dinge, wie sich gerade abspielen, keine einfachen Erklärungen gibt. Das Problem besteht nicht so sehr darin, dass diese Dinge vor sich gehen - sie waren ohnehin nur eine Frage der Zeit. Das Problem besteht darin, dass diese Situation Möglichkeiten eröffnet, die politische Situation in eine Richtung zu lenken. Und natürlich gibt es eine ganze Reihe von Akteuren, die die Ereignisse für ihre Zwecke nutzen wollen.

Von daher kann man auch nicht sagen, dass dies oder jenes passieren "wird". Man kann nur sagen, dass zurzeit sehr viel offen ist und deshalb sehr viel davon abhängt, ob kluge Entscheidungen getroffen werden. Sollte es wirklich zu einer Katastrophe kommen - also zum Beispiel einem Bürgerkrieg - dann wäre das mit Sicherheit aber nicht die Folge einer einzigen Entscheidung einer einzigen Person, sondern die Folge einer vielschichtigen Verkettung von Umständen, Interessen, Vorbehalten und Taten. Man mag es beunruhigend finden, dass keiner wirklich weiß, was passiert, sondern dass sich nur vorsichtig einschätzen und vermuten lässt, auf mehr oder weniger sachlicher Grundlage. Tatsächlich kann man es auch als sehr beruhigend ansehen: Die Zukunft ist nicht ab einem bestimmten Zeitpunkt "gemacht" und läuft ab wie ein Uhrwerk, sondern über sie wird in jeder Sekunde an jedem Tag neu entschieden - und eine Vielzahl von Kräften und Personen wirkt darauf ein. Aus diesem Grund sind alle apokalyptischen Prophezeiungen und emotionalen "Aufdeckungen", die zurzeit zu finden sind, mit großer Vorsicht zu genießen. Sie stammen in aller Regel von Menschen, die genau zu wissen glauben, was passiert, und wer "schuld" ist. In aller Regel nehmen sie selbst sich auch von jeder Mitverantwortung für irgendwelche Missstände aus. Aber so einfach funktioniert die Welt nun mal nicht.

Kurz und gut, lieber Anonymer: Das Ziel kann nicht darin bestehen, Ängste und Sorgen völlig abzulegen. Sie haben ihre Berechtigung und sind an und für sich gut, denn sie stoßen dich darauf, dass es offene Fragen und Probleme gibt, die nach einer Lösung verlangen. Natürlich können sie allesamt nicht per Federstrich gelöst werden, sondern sie müssen sich im Zuge langer und komplizierter Prozesse auflösen, die sich zu einem großen Teil nicht planen und schon gar nicht vorhersehen lassen. Aber du hast die Möglichkeit, ein Teil dieser Prozesse zu sein. Und die Antwort auf die allerwichtigste Frage - nämlich, wie du deinen Teil dazu beitragen kannst, dass sie glücklich ausgehen - liegt ja im Grunde auf der Hand: Sei deinem Kind von Anfang an ein guter Vater. Sei für es da (und für seine Mutter), wenn sie Ängste plagen oder wenn sie mit offenen Fragen zu dir kommen. Versuche dabei nicht, einfache Antworten auf Fragen zu bieten, auf die du eigentlich keine Antworten hast - oder von denen du fühlst, dass sie nicht einfach beantwortet werden solten. Stehe zu deiner Unsicherheit und Unvollkommenheit - so wirst du dir Achtung erwerben und Vertrauen austeilen. Das ist mein Rat.

Und was die Zukunft ganz konkret betrifft: Es ist doch überraschend, dass so viele Menschen Ängste vor Dingen entwickeln, die im Grunde genommen abstrakt sind und sich über lange Zeiträume erstrecken. Nehmen wir den "Untergang des Abendlandes". Was genau soll das eigentlich sein? Die Menschen, die diesen Untergang beschwören, jonglieren meistens mit Vergleichen mit geschichtlichen Epochen, zum Beispiel der "Völkerwanderung" und dem Untergang des Römischen Reiches. Nun ist es natürlich so, dass diese Ereignisse ja eben nicht plötzlich und aufgrund einzelner Fehlentscheidungen oder zündender Momente in Gang gekommen sind, worauf dann von einem Tag auf den anderen nichts mehr so war wie zuvor. In Wirklichkeit handelte es sich um Entwicklungen, die sich über viele Generationen hinzogen und während deren unzählige Menschen geboren wurden, lebten und starben, ohne die Hoffnung völlig zu verlieren. Sie fügten sich in die Umstände und machten das Beste daraus - und witzigerweise: In genau dieser Zeit wurden die Grundsteine der Kultur gelegt, deren Untergang heute von vielen propehezeit wird. Was am Ende stehen würde, war zu keinem Zeitpunkt irgendeinem der Beteiligten klar, da sie ja nur versuchten, mit dem umzugehen, was für sie unmittelbar wichtig war.

Und so, lieber Anonymer, geht es ja auch dir: Du hoffst darauf, deinem Kind ein sicheres und warmes Zuhause bieten zu können, ihm Kleidung und Essen kaufen zu können, ihm Wünsche erfüllen zu können. Du wünscht ihm eine gute Ausbildung und die Möglichkeit, sein Leben nach seinen eigenen Wünschen zu gestalten. All diese Wünsche sind gut und fromm, und niemand wird daran etwas auszusetzen finden. Andererseits: Nichts davon wird durch die Situation in den USA wirklich unmittelbar beeinflusst. Oder hast du etwas davon in deinem eigenen, ganz konkreten Alltag gespürt - mal davon abgesehen, dass das Thema in aller Munde ist und unheimlich viele Menschen eine Meinung dazu haben, die vielleicht besser schweigen sollten? Und genau das ist das Kuriose an der Sache: Die großen Ereignisse, die in die Geschichte eingehen, wirken nur zu einem Teil unmittelbar in den Alltag der Menschen hinein. Durch Regierungswechsel ändert sich für den Großteil der Menschen in der Regel nichts an ihrer Lebenslage, selbst wenn sie gewaltsam erfolgen. Covid19, um nur das eindeutigste Beispiel zu nennen, hat unseren Alltag und unsere Lebensumstände sehr viel nachhaltiger beeinflusst, als es die Flüchtlingskrise oder die Wahl von Donald Trump je haben. Und dennoch hat es auch Covid19 nicht vermocht, die Strukturen dieser Gesellschaft aus den Angeln zu heben: Der Großteil der Menschen wacht nach wie vor morgens im eigenen Bett auf (und nicht in einem klammen Zelt in einem Flüchtlingslager, zum Beispiel), der Großteil der Menschen geht nach wie vor einer Arbeit nach (Homeoffice ist keine wirklich einschneidende Veränderung. Eine einschneidende Veränderung wäre, aus der Wohnung getrieben und betteln gehen zu müssen), und der Großteil der Menschen macht in erster Linie Pläne dafür, wie sich möglichst schnell in den alten Trott zurückfinden ließe (es ist klar, dass die Kinder irgendwann wieder in die Schule gehen werden, fraglich ist nur, wann und wie. Aber es ist nicht fraglich, ob die Kinder überhaupt jemals wieder zur Schule werden gehen können). Von daher zeigt unsere Beunruhigung auch nur allzu deutlich, wie sehr unsere Wahrnehmung von der im Ganzen phänomenalen Stabilität (gemessen an der bisherigen Geschichte der Menschheit) geprägt ist, in der wir aufgewachsen sind.

Um meine Ausführungen zusammenzufassen, lieber Anonymer: Eskalationen sind nie plötzlich und schon gar nicht verändern sie eine Situation von Grund auf, auch wenn es so erscheinen mag. Tatsächlich zeigt die Eskalation in den USA ja nur, wie angespannt die Lage seit langem war - und dabei auch, wie viele Menschen (zum Beispiel du und ich) trotzdem keine Probleme hatten (und haben), unseren Alltag weiterzuverfolgen. Die Zukunft lässt sich nicht vorhersagen und schon gar nicht ist sie unausweichlich, sondern sie ist das ständige Produkt der Gegenwart und darum nichts, mit dem man in irgendeine Richtung leichtfertig spekulieren sollte. Und letztlich: Es besteht ein Unterschied zwischen geschichtlichen Prozessen, die sich nach und nach vollziehen und erst in der Rückschau sichtbar (und deutbar) werden, und der täglichen, erlebten Wirklichkeit des Einzelnen. Beides muss sich weder decken noch auseinander hervorgehen.

Am Ende kann ich dir nichts bieten, das deine Ängste vollkommen zerstreuen würde. Aber vielleicht hilft es dir, klarer abzuschätzen, wie viel das, was geschieht, mit dem, was ist, zu tun hat - und was davon mit dir. Und was das für die Zukunft wahrscheinlich, sicher und sicher nicht heißen wird. Denn die Antworten kannst du dir nur selbst geben. Und dass du uns geschrieben hast, zeigt, dass du einfache Antworten nicht ohne Weiteres hinnehmen willst. Und das ist eigentlich das Beste, was ich mir für dich wünschen konnte.

Ich wünsche dir die innere Ruhe, Ausgeglichenheit und Ausdauer, dich mit deinen Ängsten auseinaderzusetzen; ich wünsche dir ein unterstützendes Umfeld und dass die großen Ereignisse, die sich gerade in deinem Leben abspielen, für dich eine Kräftigung und Fokussierung bedeuten mögen. Denn ganz egal, wie man es dreht und wendet, lieber Anonymer: Die Zukunft wird ganz allein durch unser aller Handeln bestimmt.

Du darfst dich gerne wieder an uns - beziehungsweise mich - wenden, wenn du glaubst, dass wir dir in irgendeiner Sache weiterhelfen können.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul