Problem von Anonym - 19 Jahre

Zerdenken, Perfektionismus und Studium

Im Voraus schonmal eine riesige Entschuldigung für den langen Text, da ich ihn nun zuende verfasst habe!

Guten Abend,

nachdem ich hier ein wenig durchgescrollt habe und die zahllosen verzweifelten Menschen gesehen habe, oft mit ähnlichen Selbstzweifeln oder Überforderungen, kommt mir mein Anliegen nun sehr klein vor.
Dennoch, es handelt sich um Folgendes: ich habe vor vier Monaten begonnen, dual Tourismusmanagement zu studieren, wegen Corona hat mein Praxispartner - ein Hotel - aber kurzfristig abgesagt. Es gab von der Uni die Alternative, das erste Semester ohne Praxispartner und in Teilzeit zu machen. Momentan lebe ich von meinen Ersparnissen, es geht noch klar, allerdings sollte ich mich endlich mal wieder auf einen Job bewerben. Das Studium an sich ist leicht - auch, wenn ich nur das Nötigste dafür tue und meinen Kommilitonen ausweiche, da ich mich nicht bereit dafür fühle, tourismusbegeisterten Menschen in die Augen zu blicken, da es sich unauthentisch anfühlen würde. Man hat viele Möglichkeiten nach dem Studium, das Durchschnittsgehalt ist nicht gut aber scheinbar auch nicht unbedingt endlos grottig, vermutlich auch ein paar Jahre nach Corona nicht. Reisen gefällt mir gelegentlich, ich habe ein Sprachtalent, habe mal in einem Fahrradverleih im Ausland (Großstadt, direkt am Meer) gearbeitet und das war tatsächlich eine sehr coole Zeit.
Ich hatte dann aber in Deutschland mal einen Probetag in der Hotelgastronomie - gar nicht mein Fall. Alles was mit Hotels zu tun hat, dreht mir seit Monaten den Magen um, alles ist negativ konnotiert, sogar Hosen die man an einer Rezeption tragen könnte oder so, ich kann mir nicht im Geringsten vorstellen, mit Hospitality, in solch einem oberflächlichen Bereich oder auch im Reisebüro/Eventmanagement zu arbeiten. Es rührt wohl auch von der Atmosphäre in meinem ursprünglich vorgesehenen Praxisunternehmen her, auch wenn es für ein Hotel eigentlich super war.
Ich bin aber schon dabei, dies zu studieren, habe nichts grundlegend Besseres, es sieht so aus, als könnte man es schaffen nicht durchzufallen, man hat Chancen, lernt, aus seiner Komfortzone herauszukommen, im Grunde keinen einzigen rationalen Grund dagegen.

Ich bin tatsächlich aber auch an vielen Bereichen interessiert, wenn ich ein wirkliches Ziel vor Augen hätte - guten Verdienst oder so - würde ich bestimmt (hoffentlich?) alles daransetzen, das Studium gut durchzuziehen, sei es Versicherungen, Banking, Büro, Ordnung oder weiß der Geier. Natürlich nie eine Garantie, dass ich überhaupt irgendwas davon schaffen würde, ohne die duale Komponente einen Job finden würde oder, dass ich letztendlich wieder in der quengelnden, faulen Grundsituation wie jetzt enden würde.

Letztendlich begann sich aber ein Gedanke wieder einzuschleichen - Theater. Ich habe viele Interessen in dem Bereich, etliche Dinge auf meiner Bucketlist und Kompetenzen, die ich erlangen will. Sei es contemporary Tanz, richtiges Singen, Theaterkurse, Komparsentum oder was auch immer. Zudem habe ich Interesse an unzähligen Bereichen wie Beatboxing, Standardtänze, Salsa, Breakdance, SFX-MakeUp, Beats bauen, Verkleiden und Schneidern, Gedichte und Shortstorys sowie Lieder schreiben, ich spiele gerne den Alleinunterhalter, bin überschwänglich, ausladend und dramatisch, tanze, singe und gestikuliere mich immer durchs Haus. Ich habe auch 12 Jahre HipHop getanzt, war darin auch relativ gut, war 14 Jahre im Chor, hatte neulich mal temporär (finanziell bedingt) Gesangsunterricht, habe ständig mit Freunden Theaterstücke erfunden, auch alleine, diese vorgetragen, Kasparlestheater gespielt, mich geschminkt und verkleidet, mit Freunden Filme gedreht, in denen ich die verkleidete Hauptrolle war, Bücher geschrieben, vor der Kamera performt. Bezahlen müsste ich für das meiste sowieso, warum also nicht in einer spezifischen Ausbildung.
Gut singen kann ich aber trotzdem nicht, zumindest definitiv nicht professionell, da müsste ich einiges dazulernen, genau wie auch in fast allen anderen Bereichen, perfekt bin ich nirgendworin.

Ich war auch zweimal in der Theater-AG der Schule, meine Erziehung war aber sehr moralisch und ich bin demnach auch noch immer irgendwie schüchtern und verklemmt, ziehe mich (ich bin vom Sternzeichen Krebs) gerne unvermittelt zurück, wenn ich emotional überfordert bin. Ich habe beim ersten Mal in der AG u.a. aus Eigeninitiative ein Stück geschrieben und dem Auftritt beigesteuert, einmal die Rolle des simplen Moderators übernommen, wo ich demnach auch keine Extremen zeigen musste. Beim zweiten Anlauf war ich mit der Improvisation und dem Stehen im Mittelpunkt direkt gänzlich überfordert, litt zu der Zeit an einer Sozialphobie, bat meine Lehrerin, austreten zu können, da ich nicht klarkam.

Nun ist die Frage - ich habe mich zwar von Vielem erholt, leiste viel Persönlichkeitsarbeit etc., allerdings - würde ich heute mit Aufmerksamkeit besser klarkommen und es ertragen können, die disziplinarischen Anforderungen und die Aufmerksamkeit kontinuierlich auszuhalten?

Meine Mutter war sehr sicherheitsorientiert und beinah ängstlich, wollte immer Maskenbildnerin werden, bereut es bis heute, diesen Schritt nicht gegangen zu sein, ist mit ihrem Job relativ unglücklich und verdient wenig. Sie hat mich immer dazu angeleitet, etwas Besseres aus mir zu machen - meine Talente zu nutzen, gut zu verdienen, aber auch das zu machen was ich will, Hauptsache eine Entscheidung zu treffen und nicht immer alles derart zu zerdenken. Letzteres ist eine meisterliche Eigenschaft von mir, auch wenn das Unterbewusstsein bei komplexen Entscheidungen letztendlich um ein Vielfaches effektiver arbeitet.
Ja, mir wurde schon vieles ausgeredet - Schauspiel, Kreativ-/Dramatherapie, Humangeographie, alles zu unkonkret, unsicher und unterbezahlt; für Psychologie hat meine Abinote nicht gereicht. Letztendlich, nach jahrelangem Überlegen, Beeinflusstwerden und Umentscheiden, weiß ich gar nicht mehr was ich will, was meine Träume sind, ob ich mir nur Träume einrede, weil ich faul bin, ob ich auf mein Unterbewusstsein hören soll, ob ich einfach viel zu bequem bin und rumquengle, was ich überhaupt schaffen könnte. Ich hatte mich letztendlich einfach, dem guten Rat meiner Mutter folgend, kurzerhand in Tourismusmanagement eingeschrieben, weil ich eine Werbung der Hochschule dafür angezeigt bekommen habe und wusste, dass ich Perfektion beiseitelassen und einfach mal etwas machen müsse.

Es macht faktisch für mich persönlich schonmal Sinn, haaaaalbwegs ok zu verdienen, da ich mir gegebenenfalls schon Dinge leisten können möchte, wobei ich selbst ein Einstiegs-Bruttogehalt von 1500€ nicht tragisch fände, wenn ich den Beruf denn mag. Ich will aber nicht konstant um meine Situation und Anstellung bangen, wie es beim Schauspiel und ähnlich theater- und filmbezogenen Berufen der Fall wäre, selbst wenn ich die harten, langen Aufnahmeprozesse irgendwann erfolgreich bestehen und in zwei Jahren oder so vielleicht tatsächlich mit viel Durchhaltevermögen etwas mit Theater lernen oder studieren könnte.
Es ist doch cool, ein Hobby, eine Leidenschaft zu haben, oder nicht? Zeitenweise habe ich mich schon gefragt, warum ich so etwas nicht mehr habe, hier sind wir aber. Klingt super. Dann noch einen Job, in dem ich Abwechslung habe und ganz gut verdiene, mich aber in einem halbwegs angenehmen Arbeitsumfeld bewegen könnte? Perfekt! Könnte man meinen.
Allerdings weiß ich jetzt schon: wenn ich es nicht wenigstens ernsthaft mit allem Elan versuche, in Schauspiel oder so reinzukommen und zu partizipieren, werde ich wohlmöglich noch in zehn Jahren in meinem dritten Studium sitzen und es abbrechen wollen, da ich mich unzufrieden fühle. So weit soll es nicht kommen. Dennoch fließt die Zeit an mir vorbei, die Bewerbungsfristen für die Unis sind bald, ich könnte versuchen, mich für BWL oder so einzuschreiben (ich habe Wissenslücken und finde den Bereich tatsächlich nicht uninteressant, habe auch mal erfolgreich fünf Monate in einem Büro gearbeitet) und müsste dann Tourismusmanagement abbrechen - aber macht das Sinn? Tourismus ist theoretisch gar nicht so scheiße, vor allem Fächer wie BWL und klare wissenschaftliche Dinge nicht, nur offenbar der praktische Teil davon. Ich kann mich danach noch umorientieren, das machen viele Touristiker, ich wäre mit 23 fertig, hätte einen schöneren Lebenslauf, etwas gelernt. Bei BWL würde ich vielleicht nicht durchkommen, Tourismus wird zwar beispielsweise auch Statistik beinhalten, aber nicht so viel (ich war die letzten Jahre vor dem Abi nicht mehr ambitioniert oder gut in Mathe, eher verängstigt - u.a. wegen der Sozialphobie) und wieder eine Schauspiel-Sinnkrise scheiben.

Nun gut. Ich weiß nicht, ob ich mir selbst etwas vormache, ein Problem gibt es eigentlich gar nicht, eine Alternative habe ich auch nicht wirklich, ich sehe immer direkt nicht ignorierbare Nachteile an allem, bin jedoch trotzdem heillos verwirrt, unzufrieden, schiebe seit einigen Monaten Frustration, Selbsthass wegen Untätigkeit und Mangel an Entscheidung bezüglich meiner Zukunft, mein Leben zieht gefühlt an mir vorbei, ich tue kaum etwas fürs Studium, bewerbe mich ums Verrecken nicht auf Praxispartner weil ich nicht will, meide meine Kommilitonen und denke zu viel nach. Als ich die Absage meines Praxispartners unmittelbar vor Studienbeginn erhalten hatte war ich sogar froh und habe es als Schicksal abgestempelt, bin allerdings bei dem Studium geblieben, da ich nicht wusste, was ich sonst hätte machen sollen, habe mich einfach von meinem Studienberater mitziehen lassen.

Mir ist bewusst: dieser Text ist ÄUßERST lang, ich komme extrem unsympathisch und unerträglich rüber, aber ich bin mir selbst mittlerweile unerträglich, weshalb ich mich nun auch nach außen wende. Außerdem bin ich sehr dankbar, falls irgendjemand Ihres Teams so weit gelesen haben sollte. Ob es hier eher in die Kategorie Job gehört hätte - ich weiß es nicht, aber das Hauptproblem liegt glaube ich in meiner Persönlichkeit. Und falls Sie sich fragen, nein, ich war noch nie in einer Therapie, die Sozialphobie war auch ohne professionelle Diagnose ersichtlich. Nochmals herzliches Danke für Ihre Zeit!

Liebste Grüße,

xx

Nuala Anwort von Nuala

Hallo du!

Entschuldige bitte, dass ich dir erst jetzt meine Antwort zukommen lasse.
Keine Sorge, du kommst nicht unsympathisch rüber. Allerdings sind deine negativen Einstellungen und Zerfleischungen nicht nur unangemessen, sondern sehr kontraproduktiv. Du stellst dir ja selbst ein Bein damit! Natürlich ist es sehr kräftezehrend, zermürbend und frustrierend, vor sich hinzudümpeln und in Unsicherheiten bezüglich Job und Charakter festzustecken. Dennoch bedeutet das nicht, dass du dich abwerten und als unzulänglich darstellen solltest. Denn somit reproduzierst du nur weitere Lähmungen, Niederlagen und Verwirrungen. Du bist erst 19 Jahre alt. Das ist sehr jung - und es erschreckt mich ehrlich gesagt, wie sehr du dich selbst unter Druck setzt.
Ich sehe aber gleichzeitig auch, was unsere Gesellschaft mit den jungen Menschen macht, es kommt ja nicht von ungefähr.
Ich möchte dich in meinen Ausführungen einladen, dich zurückzulehnen und dir im übertragenen Sinn ein fettes Stück Torte zu gönnen. Schiebe es dir genüsslich in deinen Mund, schmecke die Süße und das Gehaltvolle! Erlaube dir, all das für dich zu ersinnen, was dich innerlich weit und hell werden lässt.

Ich finde den ein - oder anderen Glaubenssatz in deiner Schilderung. Zwei möchte ich herausgreifen. Ich formuliere sie einmal sinngemäß: 1. "Es gibt keinen rationalen Grund, mein Studium abzubrechen." - Oh doch! Du bist damit unzufrieden, das ist Fakt. Und es ist absolut rational, sich zu vergegenwärtigen, dass es früher oder später zum Scheitern verurteilt ist, was man "aus Vernunft" durchzieht, obwohl man es eigentlich gar nicht wirklich möchte. Oder anders ausgedrückt: Dein Herz ist beim Theater, bei den Künsten - folglich kannst du gar nicht anders, als dich schlecht mit deinem Studium zu fühlen und immer unzufriedener zu werden. Du wirst einem immer größeren Widerwillen entwickeln. Allein deswegen ist es absolut rational, sich gegen das zu entscheiden, was nicht wirklich stimmig ist!
2. Glaubenssatz: "Ich muss in etwas perfekt sein, um es ausüben zu dürfen." - Nein, musst du nicht. Training und Weiterbildung gehören überall dazu, denn die Wenigstens haben so ein krasses Talent, das sie so weit trägt. Und selbst wenn sie es haben, müssen sie es dennoch würdigen und es weiterentwickeln. Sonst stellt sich Stillstand ein.

Ich kann dir deine Frage nicht beantworten, um du mit den Anforderungen klarkommen kannst. Letztlich ist das auch eine müßige Frage. Denn wenn du das tust, was dir wirklich liegt, was dich vor Begeisterung erschauern lässt, wirst du auf Dauer sehr vieles kompensieren können, weil du mutig und leidenschaftlich sein kannst. Und selbst wenn es dann Bereiche und Momente gibt, in denen du etwas nicht schaffst, ist das genauso in Ordnung wie eine super Performance. Schwäche und Scheitern gehören unbedingt dazu, sieh es als natürliches Element einer lebendigen Beruflichkeit, denn letztlich kann es dich auf weiterbringen und beflügeln. Es ist kein Makel, Fehler zu machen und etwas (noch) nicht zu können. Wir leben nur leider in einer fehlerfeindlichen Kultur. Es wird Zeit, zu Fehlern und Umwegen zu stehen, immer und überall!

Ich glaube, bei dir geht es sehr viel um Emanzipation. Ein sich-Freimachen von elterlichen und gesellschaftlichen Ansprüchen und Erwartungen. Um ein "Ich stehe zu meiner Persönlichkeit, zu meinen Träumen und Sehnsüchten." Dahingehend kannst du sehr viel reflektieren und dich trauen, stückweise all deine Wesensfacetten zuzulassen und zu leben.

Dann kannst du auch noch unterscheiden, wo deine Interessen liegen und wo deine Begabungen. Das ist sehr wesentlich für die berufliche Findung! Ich empfehle dir das Buch "Mach was du kannst" von Aljoscha Neubauer.

Übrigens schließt es sich keineswegs aus, ein sicheres Einkommen haben zu wollen und gleichzeitig den Passionen nachzugehen. Du kannst schauen, wo Kompromisse möglich sind und das Bestmögliche aus den scheinbaren Widersprüchen herausholen.
Und du kannst überlegen, was du wirklich gerne beruflich umsetzen und was besser als ausgleichendes Hobby sein könnte. Vielleicht wäre dir schon sehr geholfen, ein anderes Studium oder eine andere Ausbildung zu machen und die Künste bzw. Theater in deine Freizeit zu integrieren.

Du könntest dir einfach einmal eine örtliche psychologische Beratung sichern und über eine längere Begleitung nachdenken, z.B. in Form eines Coachings. Es muss ja nicht immer eine Psychotherapie sein. Allerdings solltest du keine Selbstdiagnosen stellen. Auch wenn du dich in Dingen wiederfindest, kann es auch andere Ursachen und Verflechtungen haben, deswegen finde ich es nicht sonderlich sinnvoll, dass du dir selbst eine Sozialphobie attestierst. Ich sehe da auch die Gefahr, dass du dich selbst künstlich blockierst und unbewusst dein Stagnieren begründest und rechtfertigst. Also lieber den Gang zu einer Therapeutin und einem Therapeuten, wenn du einen starken Leidensdruck hast und wirklich glaubst, dass du eine tiefergehende psychische Problematik hast. Ansonsten kannst du dir auch selbst gut helfen.

Also: Es ist super, die Zeit sinnvoll zu investieren und eine Bilanz zu ziehen. Selbsterkenntnis, Reifung, Ankommen bei dein eigenen Prioritäten und Bedürfnissen. Dafür darfst du dir auch Zeit nehmen, auch eine (Aus)zeit! Das halte ich für viel wertvoller und sinniger als schnell noch Bewerbungsfristen zu schaffen, nur um irgendwo untergekommen zu sein. Sei authentisch, stehe zu dir! Das bringt dir nicht nur beruflich mehr, sondern auch für deine gesamte Zufriedenheit. Von einem lückenlosen Lebenslauf, hinter dem sich aber Leere und Demotivation verbergen, kannst du dir im wahrsten Sinne des Wortes nichts kaufen.

Ich grüße dich herzlich,
Nuala