Problem von Lea - 13 Jahre

Transgender?

Ich bin Mädchen. Das ist jedenfalls mein Geschlecht. Eins ist klar: Ich mag pink, röcke etc. Trotzdem fühle ich mich nicht richtig wenn man mich als 'girly girl' bezeichnet. Wenn jemand früher mich 'junge' genannt hat, um mich zu ärgern, hat mich das glücklich gemacht. Meinen Eltern habe ich es noch nicht gesagt, weil ich mir unsicher bin. Kann ich ein Junge sein, obwohl ich 'mädchen Sachen' so gern mag? Die Vorstellung ein Junge zu sein fühlt sich gut an. Die Gefühle habe ich schon einem 1 Jahr. Ich habe sie also noch nicht lange, aber jetzt habe ich sie und mit den Gedanken ein Junge zu sein fühle ich mich besser.

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Lea,

vielen Dank für deine Offenheit und deine Bereitschaft, deine Frage mit uns zu teilen. Ich fürchte, eine eindeutige Antwort werde ich dir nicht geben können. Aber das hat auch sein Gutes, denn am Ende kannst du die richtige Antwort nur in dir selbst finden - und auch wenn du das wahrscheinlich nicht gerne hörst, solltest du dir dazu noch etwas Zeit geben.

Du hast gefragt, ob du "ein Junge sein könntest". Da stellt sich für mich die Frage: Fühlst du dich denn in deinem Körper unwohl? Hast du den Eindruck, dass etwas mit dir nicht richtig wäre? Empfindest du Ekel, wenn du daran denkst, dass du dich in den nächsten Jahren mehr und mehr zur Frau entwickeln wirst? Es ist wichtig, in dich hineinzuhören und dich immer wieder zu fragen, wie es dir mit deinem Körper geht. Andererseits ist es im Moment auch noch nicht möglich, eine Aussage zu treffen. Wenn dein Körper dir nicht entspricht und du wirklich ein Leben als Mann führen möchtest, wirst du dieses Bedürfnis früher oder später ganz klar und deutlich in dir wahrnehmen. Ich habe das Glück, nicht im falschen Körper geboren zu sein, und kann daher nur mutmaßen, wie sich das für Menschen, die dieses Glück nicht hatten, anfühlt. Aber alle, mit denen ich bisher gesprochen habe, waren sich darin einig, dass ihr Bedürfnis nach einem anderen Körper klar und fest war. Außerdem haben die meisten von ihnen dieses Bedürfnis schon in einem deutlich jüngeren Alter verspürt, als du es jetzt hast. Ich kann es nicht entscheiden, Lea, aber ich möchte dich ermutigen, aufmerksam zu bleiben. Es ist möglich, aber eben auch nicht gesagt. Wenn es so sein sollte, wird sich die Frage für dich bald von selbst klären.

Etwas Anderes ist es mit deinem Wunsch, als Junge behandelt zu werden - oder richtiger: "wie ein Junge". Du magst es, wenn Menschen dein Verhalten als männlich bewerten, du zeigst dich gerne "männlich", du fühlst dich ganz allgemein in der Jungenrolle wohler. Das ist etwas, das ganz offensichtlich ist und dein gutes Recht. Es ist aber noch nicht dasselbe wie, in einem falschen Körper zu leben. Die Geschlechterrollen, die Dinge, Kleidungsstücke, Verhaltensweisen, Hobbys, Interessen, die man als "typisch männlich" oder "typisch weiblich" bewertet, sind in Wirklichkeit für viele Menschen eine Belastung, weil sie ihre Persönlichkeit und ihre ganz individuellen Züge darin nicht wiederfinden. Diese Rollen haben sich im Lauf der Jahrhunderte gebildet - und eben deshalb kann auch niemand von dir verlangen, dass du im Jahr 2021 unbedingt ein "girly girl" sein sollst, wenn du dem nichts abgewinnen kannst. Folge dem, was dich glücklich macht, Lea - tu die Dinge, die du tun willst, auch wenn jemand sie als "nicht mädchenhaft" und deswegen schlecht für dich bezeichnen sollte. Nirgendwo steht geschrieben, dass du dich in Regeln fügen sollst, die du nicht gemacht hast und die auf deine Persönlichkeit keine Rücksicht nehmen. Dazu kann auch gehören, dass du sowohl Dinge magst und in deinem Leben haben möchtest, die - wie die Farbe Pink - als "typisch weiblich" gelten, als auch solche, die eher der männlichen Seite zugeordnet werden. Du hast jedes Recht, dich von Erwartungen an dein Geschlecht frei zu machen und deinen ganz eigenen Stil zu erschaffen, dein Leben nach deinen Bedürfnissen zu gestalten. Wenn es das ist, was du mit "Transgender" meinst, dann hoffe ich, dass du viel Freude dabei empfinden wirst, deine Persönlichkeit zwischen den Welten zu entdecken und zu vervollkommnen. Das Ergebnis ist sicherlich eine unglaublich spannende, vielseitige, überraschende junge Frau, die bei vielen beliebt sein und von vielen insgeheim bewundert werden wird.

Gehe den Seiten deiner Persönlichkeit nach, die du schon kennst, baue sie aus, erkunde sie und entdecke, was dich dabei erwartet. Aber gib dir noch etwas Zeit, was die tiefergehende Frage betrifft - die nach deinem Körper. Denn du kannst schon jetzt als ganz besondere Frau in einem Frauenkörper glücklich sein, wenn du dich traust, deine Abneigung gegen das "typisch Weibliche" nicht zu verstecken, sondern auszuleben. Falls es wirklich so sein sollte, dass du noch einen Schritt weiter gehen und deinen weiblichen Körper hinter dir lassen möchtest, wirst du das bald herausfinden. Aber überstürze nichts und gib dir die Zeit, alle Möglichkeiten zu durchdenken und dich zu fragen, ob dein Wunsch wirklich da ist - und ob er klar ist. Möglich ist das, aber im Moment scheint es noch nicht so zu sein. Denn falls dies dein Weg sein sollte, würde ich mich sehr freuen, wenn du ihn erkennst und gehst - aber eben auch nur, falls. Denn wenn du ihn gehst, solltest du ihn auf jeden Fall voller innerer Überzeugung gehen. Anders macht es keinen Sinn. Daher möchte ich dir mitgeben: Horche weiter so gründlich und sorgfältig in dich hinein, aber überstürze nichts - und nimm dir in der Zwischenzeit jede Gelegenheit, das zu tun, worauf du wirklich Lust hast. Denn nichts kann dich glücklicher machen.

In der Zwischenzeit bietet es sich an, einmal in die Community der transsexuellen Menschen und Transgender hineinzuschnuppern. Dazu bietet dir das Internet schon jetzt viele Möglichkeiten. Nutze die Möglichkeit, dich in ähnliche Lebensgeschichten einzulesen und mit der deinen zu vergleichen, sorge dabei aber dafür, dass du dich nicht mehr belastest als dir hilfst. Denn offenbar hast du das Glück, in einem recht verständnisvollen und sensiblen Umfeld zu leben; die Geschichten von Menschen, denen das nicht gegeben war, können dich unter den jetzigen Umständen vielleicht auch mehr ängstigen als dir helfen. Informiere dich, aber überfordere dich nicht. Wenn Covid19 uns einmal nicht mehr so bedrückt wie jetzt, finden sich vielleicht auch Möglichkeiten in deiner näheren Umgebung, mit Menschen in direkten Kontakt zu kommen, die Vergleichbares durchmachen oder durchgemacht haben. Das wird dir zumindest neue Freundschaften erschließen, und vielleicht auch helfen, deinen eigenen Weg klarer zu erkennen. Ich wünsche es dir sehr.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul