Problem von Anonym - 24 Jahre

Unerfahren, männlich und verliebt in den besten Freund

Hi zusammen,
ich habe mehrere Probleme mit mir selbst. Ich versuche es kurz zu machen:
Ich, 24 und m, hatte, so unglaublich es selbst für mich klingt, noch nie sexuellen Kontakt mit anderen Menschen, weder männlich noch weiblich.
Wieso weiss ich selbst nicht, ich hatte so mit ca. 16, als andere Jungs anfingen Interesse an Mädels zu zeigen, einfach kein Interesse. Ich habe auf niemanden gestanden und mich bei dem ganzen Thema immer extrem unwohl gefühlt und versucht alles was in die Richtung Sexualität / Beziehung geht grundsätzlich zu vermeiden. Wenn ich gespürt habe, dass Mädels Interesse an mir haben (ohne mich selbst zu loben: ich sehe nicht ganz schlecht aus), habe ich das durch wegschauen oder ignorieren ziemlich schnell aus der Welt geschafft. Dass andere Jungs die ganze Zeit darauf aus waren sich an Mädels ranzumachen konnte ich einfach nicht nachvollziehen, ich fand es sogar fast schon primitiv oder lächerlich, irgendwie wie bei Tieren, die sich fortpflanzen wollen. Es ist aber wohl der normale Gang der Dinge und das was "normale" Jugendliche machen.
Das mit dem Unwohl fühlen geht mir auch heute noch so, dazu kommt natürlich auch inzwischen die Unsicherheit, dass wahrscheinlich die meisten um mich herum knappe 10 Jahre Erfahrungsvorsprung bei dem Thema haben und ich "abgehängt" bin. Ich habe auch nach wie vor gar keine Lust auf Dates, wechselnde Partner und andauernd Sex, sondern würde gerne mit einer Person der ich maximal vertraue Erfahrung sammeln und Nähe spüren. Nicht mal in einer Beziehung, sondern eher eine F+ würde ich mir wünschen.
Was (für mich) erschwerend hinzukommt: ich finde Jungs interessanter als Mädels. Das merkt bzw. sieht man mir aber nicht an, ich passe nicht ins Klischee. Keine Ahnung ob ich eher der homo- oder bi-Schublade zuzuordnen bin, das ist auch nicht so wichtig. Jedenfalls bin ich nicht hetero und bei niemandem geoutet. Ich glaube, dass ich selbst nicht wirklich mit meiner Sexualität zu Recht komme, und nicht weiss wie ich jemand anderem etwas über mich erklären oder sagen soll, was ich selbst nicht ganz akzeptiert oder verinnerlicht habe. Ich habe das Gefühl, dass ich diesbezüglich nicht zu mir selbst stehen kann und dadurch anderen gegenüber ebenfalls extrem unsicher bin.
Als ob das nicht genug wäre, bin ich seit ca 4,5 Jahren in meinen besten Freund verliebt. Er ist genau die Person die ich bräuchte um Erfahrungen zu sammeln und Nähe zu spüren, aber das geht natürlich nicht. Ich habe ihn noch nie direkt gefragt (wie auch sonst keine Freund, wäre ja auch eine seltsame Frage aus dem Nichts), aber ich weiss im Grunde dass er nicht auf Jungs steht. Er ist auch nicht der Typ der jedes Wochenende Mädels aufreisst, im Gegenteil, er ist da auch eher ruhig unterwegs, aber trotzdem merkt man ja, ob jemand einem gegenüber eher körperliche Nähe akzeptiert bzw. mag, oder auf dem Sofa eher eine freundschaftliche Distanz einhält, wem jemand nachschaut und wem nicht usw. Ich spüre dass mir dieser Mensch extrem wichtig ist, dass ich eine innerliche Eifersucht habe wenn er etwas mit anderen (vor allem Mädels) oder einfach nicht mit mir unternimmt. Ich versuche deshalb natürlich möglichst viel Zeit mit ihm zu verbringen- und je mehr ich das tue, desto stärker spüre ich in diesen Phasen wie wichtig er mir ist. Allerdings ist die Zuneigung nur teilweise eine sexuelle, vor allem liebe ich Ihn einfach als Mensch und als meinen besten Freund- und traue mich deshalb auch nicht etwas zu sagen. Wir können eigentlich über alles reden, außer eben dieses Thema Liebe / Beziehung / Sexualität. Von seiner Seite kommt da leider auch nichts, und ich habe eine riesen große Angst durch das Thema unsere Freundschaft zu verletzen.
Ich weiss, genau dafür sind Freundschaften da und echte Freundschaften müssen das eigentlich aushalten. Vertrauen entsteht aber sehr langsam und kann sehr schnell, ohne dass man es überhaupt merkt, wieder zerstört werden, das weiss ich sehr gut. Wir beide haben die letzten Jahre nur durch eine Wand voneinander getrennt gelebt, fahren zusammen in Urlaub, gehen Feiern, studieren zusammen, sehen uns fast jeden Tag, machen gemeinsam Sport usw. Das unausgesprochene Vertrauen dass da ist will ich einfach nicht durch so eine Beichte zerstören, dafür ist mir die Freundschaft zu wichtig.
Ich habe Angst, dass etwas zwischen mir und meinen Freunden stehen würde. Alleine meinen Freunden zu sagen dass ich auf Jungs stehe, würde sicher vieles verändern. Es werden unter Freunden dumme Sprüche geklopft oder sexuelle Anspielungen gemacht- alles nur im Spaß. Aber wenn bekannt ist, dass einer aus der Gruppe wirklich auf Jungs steht, und damit evtl. auch noch unsicher den anderen gegenüber umgeht, werden ganz bestimmt keine dummen Sprüche mehr geklopft- das würde nur zu peinlichem Schweigen führen. Und ohne eine solche witzige und ungezwungene Atmosphäre entsteht Unsicherheit und Vertrauen geht verloren. Das will ich auf jeden Fall vermeiden. Ich tue mir selbst schon sehr schwer für mich die Freundschaft von der Liebe / Sexualität zu trennen, ich kann nicht erwarten und mir vor allem nicht vorstellen, dass andere Jungs, die vieles denken mögen, aber nicht dass der Kumpel auf gleichgeschlechtliche steht, damit besser zurecht kommen. Und wenn ich meinem besten Freund auch noch sage, dass ich eigentlich in ihn verliebt bin, schütte ich ihm komplett das kalte Wasser über.
Deshalb verdränge ich das Ganze meistens einfach, sitze es aus und hoffe insgeheim, dass sich alles von selbst löst. Aber gleichzeitig möchte ich mit 24 endlich zu mir selbst stehen können und weder mich noch andere vor meinen Gefühlen verstecken müssen.

Ich hoffe ihr versteht meine Situation ein bisschen. Alles was ich wissen möchte ist, was würdet ihr tun? Klar, das einzig Richtige ist einfach zu sagen wie es aussieht, aber ist das wirklich die beste Lösung, wenn danach die Freundschaften nie mehr so ungezwungen und vertraut sind wie sie eigentlich waren, obwohl ich defacto der gleiche Mensch bin wie davor auch? Ich weiss es nicht.

Wurde jetzt doch sehr lang, vielen Dank wenn du das bis hier hin gelesen hast und ganz vielen Dank für deine Hilfe.

Anwort von CharlotteK

Lieber Schreiber,

haben vielen Dank für Deine Nachricht und Dein Vertrauen!
Du beschreibst da wirklich eine aufwühlende Lebenssituation. Ich kann Deine Unsicherheit gut verstehen. Da sind einerseits die vielen Gedanken bezüglich Deiner sexuellen und romantischen Ausrichtung, die Du mit Dir allein auszumachen scheinst. Auf der anderen Seite beschreibst Du eine Anziehung zu Deinem besten Freund, die Du auch nicht so ganz fassen kannst. Sie erschwert es Dir jedoch mit Deinem besten Freund, der wahrscheinlich Deine nächste Vertrauensperson ist, über ersteres Thema zu sprechen.
Zunächst einmal zu Deiner Unerfahrenheit bezüglich Sexualität mit anderen und romantische Beziehungen. Dass Du Dich "abgehängt" fühlst, ist vertsändlich. Schließlich bekommen wir alle in den Medien suggeriert, wie die "normale" Entwicklung diesbezüglich aussieht. Und da ist es eben so, dass etwa mit 16 erste Erfahrungen gesammelt werden. Natürlich trifft dies auf einige Menschen zu. Manche sammeln sicher auch schon früher Erfahrungen diesbezüglich und dann vielleicht für eine längere Zeit nicht mehr. Ich denke, dass es wichtig ist, dass Du Dich von diesem Bild freimachst. Es mag annähernd auf einige Menschen zutreffen, aber bei Weitem nicht auf alle. Aus meinem Freund*innenkreis trifft es auf die Mehrzahl nicht zu. Natürlich wird es nicht heterosexuellen oder -romantischen Jugendlichen zusätzlich strak erschwert ihre Ausrichtung zu erkennen bzw. anzuerkennnen, wo vor allem Heteronormativität in den Medien der Jugendlichen reproduziert wird. Mit 24 quasi "ungeoutet" (und recht unerfahren) zu sein ist demnach meiner Einschätzung nach nicht ungewöhnlich. Dies also zum Thema, dass ich nicht glaube, dass Deine Entwicklung besonders "ungewöhnlich" ist. ;)
Ich kann aber auch verstehen, dass Du jetzt "endlich" Deine Erfahrungen sammeln willst, dass Du neugierig bist. Das Modell Freundschaft+ eignet sich natürlich gut für ein unverbindlicheres, aber vertrauensvolles Ausprobieren. Ich denke, dass es hilfreich ist, dass Du für Dich weißt, was Du Dir wünschst.
Nun zu Deinem besten Freund. Du schreibst, Du seist schon seit 4,5 Jahren in ihn verliebt. Du beschreibst ihn als Menschen, der mit Dir viel teilt und mit dem Du eine große Vertauensbasis hast. Auch schreibst Du: "Allerdings ist die Zuneigung nur teilweise eine sexuelle, vor allem liebe ich Ihn einfach als Mensch und als meinen besten Freund- und traue mich deshalb auch nicht etwas zu sagen." Den mittleren Teilsatz finde ich sehr schön und der beschreibt meiner Meinung nach Liebe und Freundschaft zugleich sehr gut. Ich kann einerseits verstehen, dass Du große Angst hast, Eure Freundschaft zu verletzen, solltest Du Deine Verliebtheit ansprechen. Aber vielleicht musst Du ja nicht direkt die "Verliebtheits-Wortwahl" verwenden. Ich kann mir vorstellen, dass es um einiges leichter ist, die "Liebes-Wortwahl" zu verwenden. Also, was Du auch in obigem Satz geschrieben hast. Ich denke, dass wir alle Freundschaft und Liebe oft viel zu sehr trennen wollen. Manchmal sind die Übergänge eben auch fließend. Ich kann mir vorstellen, dass es für Deinen besten Freund auch weniger überrumpelnd ist von Liebe als von Verliebtheit deinerseits zu hören.
Vielleicht hast Du auch noch andere vertrauensvolle Beziehungen, in denen Du zumindest erstmal Deine romantischen und sexuellen gleichgeschlechtlichen Gefühle besprechen kannst. Ich kann mir vorstellen, dass es Dir guttun kann, über dieses Thema erstmal generell zu sprechen. In der großen Freundesrunde sich zu outen (wenn Du es auch überhaupt "öffentlich" machen willst) ist wohl erst sinnvoll und angenehm, wenn Du Dich damit wirklich wohl fühlst. Aber vielleicht gibt es ja noch andere vertrauensvolle Einzelpersonen außer Deinem besten Freund?
Auch mit ihm kannst Du das gesamte Liebe/Beziehung/Sexualität - Thema ja vielleicht erstmal generell besprechen. Vielleicht kann es da auch erstmal hilfreich sein, nicht unbedingt auf die Gegenwart zu schauen, sondern auf die Vergangenheit. Was für Erfahrungen hat er gemacht? Geht es ihm vielleicht, zumindest was den Erfahrungsstand angeht, ähnlich wie Dir? Es kann sicher bereichernd für Eure Freundschaft sein, wenn ihr Euch langsam an dieses (Gesprächs-)Thema herantastet. Ich denke, wenn Du erstmal vorsichtig das Gesprächsthema angehst, brauchst Du Dir auch keine Sorgen um das Vertrauen zu machen. Du wirst ja auch merken, wie sich Dein bester Freund mit dem Thema fühlt, und kannst entsprechend reagieren.

Also insgesamt kann ich Dein Dilemma gut nachvollziehen. Ich würde Dir raten, Dich einerseits langsam an das Thema generell mit Deinem besten Freund heranzutasten. Aber andererseits auch Dich für Dich alllein, unabhängig von ihm, mit dem Thema Homosexualiät/-romantik auseinanderzusetzen.
Ich wünsche Dir dabei alles gute und viele Erkenntnisse. Und wünsche mir für Dich, dass Du Deinen Weg findest, ob mit oder ohne Deinem besten Freund.

Du kannst Dich natürlich jederzeit wieder melden.

Liebe Grüße,
Charlotte