Problem von Anonym - 31 Jahre

Ist meine Mutter psychisch krank?

Hallo Mein Kummerkasten-Team,

Ich möchte nicht über mich sondern über meine Mutter sprechen. Sie ist 58 Jahre alt und 3 Kinder. Meine Schwester und ich haben uns gestern über sie unterhalten und darüber das sie immer noch uns das Leben schwer macht. Sie ist sehr anstrengend, wird immer so schnell laut und hört einem irgendwie nie richtig zu. Wir hatten eine sehr laute, stressige und aggressive Kindheit. Mein Stiefvater ist immer da gewesen, hat ihr geholfen etc. Er wird eigentlich am meisten von ihr "fertiggemacht". Mein Vater ist damals abgehauen, nachdem sie Teller nach ihm geworfen hat und nur schrie (seine Aussage, ich war zu jung, kann es mir aber leider sehr gut vorstellen).

So, nun, da wir Kinder erwachsen sind und sie eigentlich auch, finde ich es sollte sich endlich mal was ändern. Ich möchte gern mal mit ihr reden und ihr auch vorschlagen, evtl. psychologische Hilfe anzunehmen. Sie wird nicht begeistern sein.

Ich habe mal ganz spontan angefangen eine Liste mit ihren (negativen) Charakterzügen zu erstellen und sie ist dann doch recht lang geworden. Ich weiß nicht ob das hier hingehört, aber mich würde mal interessieren, was andere darüber denken und sagen. Wie schätzt ihr diesen Mensch nur anhand dieser Liste ein? Klingt das nach einer Krankheit/Syndrom (wie Borderline als Beispiel)? Ich kenne mich da nicht gut aus und bin emotional sehr eingebunden. Das größte Problem ist, dass unsere Omar genauso ist. Und meine Schwester und ich mittlerweile auch viele dieser Züge übernehmen. Daran leiden unsere Beziehungen und unser Selbstwert. Naja hier mal die Liste:

- Kein Respekt vor Männern
- Lebensunzufriedenheit
- Nostalgisch und melodramatisch
- Ungehalten und aufbrausend
- „Ich habe immer Recht“ (wird sehr gern in Schreien durchgesetzt)
- Andere herabwürdigen, um sich besser zu fühlen
- In einer Fantasiewelt leben:
1. Sich selbst anders wahrnehmen, das Leben als besonders ansehen
2. Situationen werden anders wahrgenommen, um Recht zu haben oder nicht verletzt zu werden
- Starker Ich-Fokus
- Heult viel
- Fühlt sich schnell angegriffen, wird emotional und eingeschnappt und bezieht vieles auf sich oder als Beleidigung
- Angriffslustig, diskussionsfreudig. Kann aber andere Meinungen schlecht akzeptieren, wird dann schnell aggressiv und will den anderen von seiner Meinung überzeugen (ich habe immer Recht)
- Im Gegenzug ist sehr ehrlich, schafft es nicht Sachen „durch die Blumen“ zu sagen, wird verletzend, versteht die darauffolgenden Emotionen nicht und redet die Aussage runter (war doch nicht so gemeint, Mensch)
- Hat kein Ventil für Stress und Alltag, staut sich an und platzt wie eine Bombe gelegentlich. Der Partner oder die Kinder bekommen den ganzen Frust ab. Z.T. wird der Frust so lange innegehalten, um ein Bild aufrechtzuerhalten (Weihnachten!) um es dann an das leichteste Opfer (Partner) auszulassen.
- Fühlt sich intellektuell überlegen (ich habe immer Recht)
- Findet sich immer zu hässlich, zu dick, analysiert Bilder von sich auf Makel, findet eigene Schönheit nicht, sehr unzufrieden mit sich
- Ist ein sehr emotionaler Esser, findet Ausreden für Essverhalten und macht keinen Sport
- Spricht sehr oft Vorwürfe aus (immer im Bezug auf sich) und baut diese auch sehr subtil in Sätze ein

Am schlimmsten in der Kindheit war das ständige Gefühl, nicht ernstgenommen zu werden und das die eigenen Bedürfnisse egal sind. Wirklich liebevoll und zärtlich war sie auch nicht. Sie war immer gestresst und wir haben alleine gespielt. Sie hat uns nie gesagt, dass sie uns liebt oder schön sind oder alles schaffen, was wir uns vornehmen. Ich musste viele Jahre an mich arbeiten und mit Büchern (zB von Stefanie Stahl) arbeiten um eine relativ harmonische Beziehung zu führen. Wir mussten erst lernen, Liebe zu zu lassen und z.B. Freunde einfach mal zu umarmen ohne das es komisch ist. Uns um andere kümmern ohne einen Selbstvorteil draus zu ziehen .

Ihre anderen, positiveren Charakterzüge sind, dass sie sehr stark ist, packt an und lässt sich nicht unterkriegen, man kann mit "richtigen" Problemen zu ihr gehen, sie hat viel Verständnis für andere (nie für uns), hat sich viel gekümmert um uns (nicht emotional aber halt mütterlich: wollte das wir eine gute Bildung bekommen, hat sich viele Sorgen immer gemacht und das es uns gut geht). Sie ist schon eine sehr liebende Mutter. Sie kann es aber nicht gut zeigen und ist wie oben beschrieben oft einfach nur ein sehr anstrengender Mensch.

Erkennt ihr diese Charakterzüge Hilft da ein Selbsthilfebuch oder sollte es professionelle Hilfe sein?

Wie würde man so einen Menschen bezeichnen? Ich habe mal an Narzissmus gedacht. Bin aber keine Expertin.

Vielen Dank für Eure Mühe und Hilfe.

Nuala Anwort von Nuala

Hallo du!

Danke für deine Darlegung, in der ich viel aufgestauten Schmerz erkenne. Es ist für Kinder eine immense Herausforderung, mit einem solchen Elternteil groß werden zu müssen und oftmals ausgeliefert zu sein. Das ist sehr schrecklich und nichts, was ein Kind erleben sollte.
Du bist jetzt erwachsen und in einem Alter, in dem diese Überlegungen, wie du sie angestellt hast, sehr häufig sind. Vieles kann rückblickend besser eingeordnet und anhand der eigenen Lebenserfahrung konkreter angegangen werden. Du hast auch schon mit guten Büchern gearbeitet und Erfolge verbucht - weiter so :)
Es ist sehr gut, sich mit familiären Beziehungen und vergangenen Ereignissen auseinanderzusetzen. Es gibt hierfür jedoch auch Grenzen, wie ich dir nun zuerst darlegen möchte.

Ich kann verstehen, dass du das Bedürfnis hast, dem Ganzen einen Namen zu geben. Allerdings steht uns weder hier im Kummerkasten noch woanders eine Ferndiagnose zu. Die Merkmale, die du benennst, können überdies sowohl pathologisch als auch eine extreme Ausprägung charakterlicher Natur sein. Zudem ist vieles auf geringen Selbstwert und Ängste zurückzuführen. Meistens kommt viel zusammen. Selbst im Bereich der Diagnosen kann es heikel sein, eine bestimmte Klassifizierung zu verwenden.

Und: Was würde es dir denn bringen, wenn ich schreiben würde, deine Mutter ist X oder Y? Das würde dir rein gar nicht weiterhelfen, weil sie nicht du ist. Damit meine ich, dass es eine andere Ausgangslage wäre, wenn du für dich fragen würdest. Dann könntest du mit den erhaltenen Informationen in Auseinandersetzung gehen und prüfen, ob das stimmig für dich ist - und dann ggf. weiter forschen und professionelle Hilfe suchen.
Aber selbst dann, wenn du für dich gefragt hättest, würden wir versuchen, keine Etikettierung zu bemühen, sondern dir vor allem ans Herz legen, dich bei starkem Leidensdruck in ärztliche bzw. psychotherapeutische Behandlung zu begeben.
Da du deine Mutter nicht ändern kannst und wir auch nicht, ist es also wenig zielführend, über ihre Person zu urteilen, ohne sie jemals erlebt zu haben.
Auch wenn es schwerfällt, weil Menschen klare Zustände, Rollen und Titel lieben, würde ich dir als erstes den Tipp geben, sie schlicht und ergreifend als deine Mutter anzuerkennen, die bestimmte Eigenschaften an den Tag legt. Und das ohne alles zu bewerten, ob das jetzt "gut" oder "schlecht" ist. Es ist wie es ist. Es geht vielmehr um das, was es mit dir macht.
--> Darum: Schau' auf dich! Schau' auf das, was du an Leid und Unfreiheit wahrnimmst - und arbeite daran, wie du einen Weg finden kannst, mit deiner Mutter so auszukommen, dass du nicht unnötig ausgelaugt und gestresst wirst. Ich kann dir dabei sagen, dass es nie optimal werden und es kein Allheilmittel gibt. Doch es gibt durchaus Möglichkeiten und Chancen! Wenn du dein Verhalten änderst, weil du erkannt hast, was du brauchst und was du im Umgang mit deiner Mutter verändern kannst (von deiner Warte aus!), kannst du deutlich zufriedener und in dir friedlicher werden. Und das, ohne dass sich deine Mutter gravierend ändern und sich therapeutisch unterstützen lässt. Denn wenn der Wunsch dahingehend nicht aus ihr selbst heraus erwächst, wird es völlig umsonst sein, ihr das zu vermitteln.

Was du konkret tun kannst:

- Lernen zu akzeptieren, dass es a) einerseits nervenaufreibend ist ( und nicht alles in deiner Macht liegt) und b), dass es nur schlimmer wird, wenn du dich dagegen stellst und dich aufbäumst. Es ändert nichts an de Gegebenheiten. Akzeptanz ist nicht zu verwechseln mit Gleichgültigkeit oder Verdrängung! es ist ein "Okay, ich nehme diese Lebensumstände jetzt so an, gucke an, was ICH für mein generelles Wohlbefinden tun kann, nicht mehr und nicht weniger." Je mehr du lernst, in dir selbst zu ruhen und zu akzeptieren, dass du mit deiner Mutter irgendwie zurechtkommen musst, desto souveräner und besonnener kannst du die jeweiligen Situationen meistern.
- Mache dir möglichst oft klar, dass deine Mutter ihr Leben selbst gestalten kann und muss. Du (und auch niemand sonst aus deiner Familie) ist dafür verantwortlich, wie es ihr geht. Das hilft, einen inneren Abstand zu ihren Befindlichkeiten zu bekommen. Es ist nicht deine Aufgabe als Tochter, das Wohl deiner Mutter zu wahren bzw. anzustreben. Dies kannst du getrost von dir weisen.
- Du entscheidest, ob du dir dein Leben schwer machen lässt! Triff' die bewusste Entscheidung, ein leichtes Leben zu führen. Vieles, was uns passiert, ist von Glaubenssätzen durchzogen bzw. verursacht. Doch du hast es in der Hand, wie du dich deiner Mutter gegenüber positionierst. Du kannst entscheiden, ob du runtergemacht und dominiert werden möchtest - oder ob du eine aufrechte innere (und äußerliche!) Haltung einnimmst und ihre Themen nicht zu deinen eigenen machst.
--> Abgrenzen üben. Du setzt deine persönlichen Grenzen und bist dafür verantwortlich, dass sie nicht übertreten werden. Überlege dir Konsequenzen, die du sofort durchziehst, sobald es Grenzüberschreitungen gegeben hat. Das kann z.B. sein, um leiseres Sprechen zu bitten, den Raum zu verlassen, ein Gespräch zu beenden, ein klares NEIN auszusprechen, deine Position eindringlich zu wiederholen, nach Hause zu fahren (einen Besuch also abzubrechen).
Das klingt jetzt so banal, ist es aber bei weitem nicht. Hier empfehle ich mindestens Literatur zum regelmäßigem Training.
- Genauso trainieren kannst du, dich selbst umfassend anzunehmen und zu lieben. Das ist eine wichtige Voraussetzung, um mit herausfordernden Persönlichkeiten in deinem Umfeld so umgehen zu können, dass du deine Kraft in dir behältst und dich selbst nicht "verlässt". Du hast offenbar schon damit begonnen und ich möchte dich ermutigen, das weiter zu betreiben.
- So viel zeitlichen und räumlichen Abstand wie nur möglich einbauen (beispielsweise NICHT zusammen wohnen; bei Besuchen ausreichend Freiraum einplanen und diesen auch verteidigen). Unternehmt etwas außerhalb der vier Wände, um aus den starren Strukturen rauszukommen.
- Dir immer wieder vor Augen führen, was deine Wünsche und Bedürfnisse für ein liebevolles familiäres Miteinander sind - und dies als positives Beispiel vorleben. Denn das, was du als Liebe gibst, kommt auch zu dir zurück :)
- Ich-Botschaften aussprechen; generell möglichst häufig gewaltfrei kommunizieren
- Dich seelisch erleichtern, wo es nur geht, ohne über deine Mutter herzuziehen (also Gespräche mit deiner Schwester z.B. führen, in denen es aber um euch geht und nicht darum, was deine Mutter wieder getan hat...). Dazu zählt auch alles, was dir sonst noch sehr gut tut: Hobbys; sexuelle Aktivität, andere Menschen außerhalb der Familie treffen, das Belastende aufschreiben, usw.
- Suche dir selbst Profi-Unterstützung, indem du dich in einer Familienberatungsstelle beraten lässt, eine Familienaufstellung buchst bzw. vielleicht sogar gezielt nach den eigenen psychischen Verletzungen siehst. Hierfür kann ein psychologisches Coaching oder bei tiefergehenden Themen eine Psychotherapie sehr hilfreich sein.
- Vernetze dich offline und online mit anderen Betroffenen. Dies kann über Selbsthilfegruppen, Gesprächskreise, Stammtische, Foren, private Gruppe auf sozialen Onlineplattformen usw. geschehen. Der regelmäßige Austausch mit Anderen, die Ähnliches erleben, kann sehr nützlich sein, sofern er konstruktiv und auf die Gegenwart ausgerichtet ist.

Diese Links möchte ich dir noch zeigen:
- Beratungsstellen finden: https://www.dajeb.de/beratungsfuehrer-online/beratung-in-ihrer-naehe
- Einführung in die Gewaltfreie Kommunikation: https://www.youtube.com/watch?v=FAlzsDuMxPs
- Systemische Therapie: https://www.therapie.de/psyche/info/index/therapie/systemische-therapie/
- Familienaufstellung: https://www.therapie.de/psyche/info/index/therapie/familienaufstellung/die-klassische-familienaufstellung/
- Beispielhafter Artikel zur Selbsthilfe: https://www.sein.de/die-beziehung-zwischen-mutter-und-tochter-heilen/
- Beispiel für ein Forum: https://www.psychologieforum.de/klagen-jammern-meiner-mutter-eine-ungesunde-mutter-tochter-beziehung-17521.html


Ich wünsche dir alles Liebe!
Nuala