Problem von Aurelie - 22 Jahre

Habe ich meinen Bruder verloren?

Hallo liebes Team und gleich zu Beginn mal danke für eure Arbeit!
Ich kann mich leider an keine/n Therapeut/in wenden, da ich zur Zeit nicht die finanziellen Mittel dazu habe und auch nicht wüsste, wie das auf meine Familie überschwappen würde.
Daher hätte ich gern eine erste Meinung von hier.
Ich (22) habe 2 ältere Brüder (Georg, 27 & Ian, 25) und ich mache mir mittlerweile wirklich starke Sorgen und Gedanken, was mit Ian los ist.
Er war immer schon "anders" als die anderen Kinder, wurde gemobbt, hatte lange keine Freunde, eine ziemlich verlassene und schwierige Kindheit. Von ein paar Seiten wurde mal angedeutet, er könnte ein Autist oder hochbegabt sein, daran kann ich mich jedoch kaum noch erinnern, ist zu lange her. Er war auf jeden Fall immer schon ein sehr spezieller, empfindlicher und komplizierter Mensch.
Jetzt ist er erwachsen... zumindest sollte er das sein. Ich beobachte seit Jahren Dinge, die er tut, die sich seit jeher nicht ändern und die sich mit dem Erwachsenwerden längst hätten korrigieren müssen. Dazu zählen: keine Tischmanieren, Schmatzen beim Essen, Gähnen, Niesen und Husten ohne die Hand/den Ellenbogen vorzuhalten, ungeniertes Rülpsen und In-den-Schritt-Greifen in Gesellschaft der Familie und in der Öffentlichkeit, ungepflegtes Äußeres, ungepflegte Kleidung, mangelnde Hygiene.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir das einbilde, aber ich glaube leider, dass diese Gewohnheiten über die Jahre sogar schlimmer geworden sind. Meine Eltern flehen ihn seit der Pubertät an, diese Ungepflegtheiten zu unterlassen und sich wie ein normaler Mensch zu benehmen. Irgendwann haben sie es mehr oder weniger unterlassen, weil sie seit diesem einen Mega-Krach vor etwa 5 Jahren offenbar ein schlechtes Gewissen uns Kindern gegenüber haben und ihrer emotionalen Kälte, woraus großteils ihre Erziehung bestand, bewusst entgegensteuern. Naja. Georg und ich haben damit irgendwann abgeschlossen, obwohl auch wir mit extremen seelischen Problemen gekämpft haben, und sind jetzt funktionierende Erwachsene/Studenten.
Aber Ian... er ist nicht erwachsen. Und ich weiß nicht, ob er es jemals sein wird. Er ist so... unreif. Und lebensunfähig. Hat schon 3 Studien angefangen und alle geschmissen, weil er irgendwann keine Lust mehr darauf hatte. Weiß nicht, was er eigentlich machen möchte oder worin er wirklich gut und talentiert ist bzw worin er realistische Chancen hat. Beschäftigt sich leidenschaftlich mit Videospielen, was ja nun wirklich Kinderkram ist. Alle seine Beziehungen, die er bisher hatte, sind gescheitert, weil er (nach seiner eigenen Aussage!) bei seinen Partnerinnen immer so um persönliche Bestätigung gebettelt hat.
Lustigerweise hat er einen ziemlich großen und starken Freundeskreis, über den er sogar eine eigene Wohnung und einen guten Job ergattern konnte. Einsam scheint er also nicht zu sein. Wobei ich mir auch in dieser Hinsicht gar nicht mehr sicher bin, ob das alles, was er erzählt, auch wirklich stimmt, denn in der letzten Zeit hat sich herausgestellt, dass er uns bei so vielen, wirklich ernsten und kritischen Dingen belogen hat... Nun ja.
Bei einem Familientreffen letzte Woche ist meine "Ach, lass ihn doch in Ruhe..."- Toleranzstimmung letztlich gekippt, weil er jetzt auch noch ins Übergewicht abgeschlittert ist... Das Problem ist, dass Ian jegliche Kritik an ihm oder daran, was er tut und ist, als böse gemeinte, persönliche Attacke empfindet, mit der bloßen Absicht, ihm weh zu tun. Deswegen habe ich auch letzte Woche nichts gesagt. Aber mittlerweile schäme ich mich richtig für ihn. Ich fühle mich extrem unwohl, mit ihm in der Öffentlichkeit assoziiert zu werden. Und mir graust auch vor seiner unzureichenden Hygiene. Am liebsten würde ich ihm jetzt mal mit aller Härte ins Gesicht sagen: "Du bist ein Widerling, und glaubst, die Welt wird dir aus der Hand fressen, weil du der Meinung bist, dass sie dir etwas schuldig ist! Hör als erstes mal auf, dir in der Straßenbahn dauernd die Eier zu kratzen! Und nies' gefälligst in deinen Ellenbogen!"
Aber ich weiß, dass er kein Interesse hat, sich zu ändern und sich so angegriffen fühlen wird, dass ich ihn für immer verlieren werde. Fakt ist jedoch, dass ich mit ihm, so wie er jetzt ist, absolut nichts zu tun haben möchte. Ich denke, damit bei ihm ein Schalter umgelegt wird, müssten ihm ALLE Personen, die er kennt, sagen, dass er ekelig ist und sich ändern muss. Aber das wird wohl nicht passieren...
Muss ich mich also damit abfinden, dass ich meinen Bruder als "Freundschaft" verloren habe? Ist es falsch von mir, ein absolutes Minimum an Normalität von meinem ach so speziellen Bruder zu verlangen? Was kann ich jetzt tun? Kann ich überhaupt irgendetwas tun? Wenn nein, wie kann ich akzeptieren, dass ich Ian nicht helfen kann? Geht das überhaupt? Ich werde mir immer denken: "Du könntest so viel besser sein..." Es tut mir so weh, dass das bisschen Familienband, das wir untereinander haben, daran zerreißt, dass mein Bruder so viel von dem ist, was ich verabscheue und absolut nicht tolerieren kann.
Muss ich meinen Bruder loslassen...?
Alles Liebe,
Aurelie

Stephanie Anwort von Stephanie

Hallo liebe Aurelie,

ich freue mich das du dich an uns gewandt hast mit deinen Sorgen um deinen Bruder.
Es ist nicht ganz einfach zu beurteilen was in deinem Bruder vorgeht wenn er sich so benimmt in der Öffentlichkeit oder warum er sich so gehen lässt.
Dafür kann es viele Gründe geben. Depressionen wären der erste Punkt der mir da spontan einfallen würde. Vielleicht gefällt ihm sein Leben aber auch so wie er es führt? Ohne Zwang, ohne Regeln in der Gesellschaft. Oder möchte er Aufmerksamkeit erregen mit seinem provozierenden Verhalten?
Um es herauszufinden sollte man ihn in Ruhe darauf ansprechen ohne Streit anzufangen.
Vielleicht triffst du dich mal bei ihm und ihr sucht das Gespräch. Sag ihm das es dich traurig macht wenn er sich so verhält. Ohne Vorwürfe oder unter Druck setzen. Versuche erst herauszufinden wobei er vielleicht Hilfe benötigt. Bleib ruhig auch wenn es dir schwer fällt oder er dich anekelt weil er an dem Tag vielleicht nicht ganz so sauber ist.

Zum Thema Videospiele kann ich mir denken das er es vielleicht toll findet in die virtuelle Welt abzutauchen oder er flüchtet sich darin und es ist eine Sucht geworden. Spielt er denn oft und sehr viel und vergisst alles andere dabei?

Ohne ihn darauf anzusprechen das dich etwas an ihm stört, wirst du leider nicht drumherum kommen. Aber du liebst deinen Bruder und sorgst dich um ihn. Für ihn ist sein Verhalten vielleicht normal weil ihn keiner darauf anspricht. Es wird nicht einfach sein so ein Gespräch zu führen um ihn nicht zu verletzten, aber du wirst die passenden Worte finden genauso wie du es uns geschildert hast.
Du sorgst dich um ihn, dann versuch es wenigstens bevor du ihn ohne eine Erklärung meidest.
Jeder Mensch ist anders, manche lernen schnell und viel, andere langsamer und weniger. Viele legen Wert auf gutes Aussehen während andere gerne Jogginghosen und Turnschuhe tragen weil es bequem ist. Diese Unterschiede zwischen den Menschen führen oft dazu das man miteinander nichts zu tun haben möchte.
Ich will ehrlich zu dir sein das ich es Mega toll finde das du dir Gedanken um ihn machst und nichts unversucht lassen möchtest um ihm zu helfen.
Nur wenn das alles nichts bringt und er vielleicht keine Hilfe möchte und er sich so gut fühlt und nichts ändern möchte? Dann musst du schauen wie du dich entscheidest. Ihn gehen zu lassen weil er anders ist als du? Weil er sich so gut fühlt indem er zockt, auffällt in der Öffentlichkeit, sich nicht anderen anpasst? Oder du ihn so akzeptierst wie er eben ist. Nur weil er so ist wie er ist, hat er dennoch ein liebendes Herz was fühlt und schlägt.
Gib ihm die Chance dir zu erklären warum er diese Dinge tut bevor du ihn meidest. Und wer weiß, vielleicht bekommst du so ja heraus was los ist und er Hilfe benötigt oder es ihn einfach so gut geht wie es ist.

Wenn er Hilfe benötigt wäre ein Gespräch mit dem Hausarzt sinnvoll um zu schauen ob wie oben erwähnt Depressionen oder auch Süchte im Raum stehen wovon er nicht alleine wegkommt.
Biete ihm Hilfe an wenn du das kannst. Kommt er mit dem Haushalt klar oder wäre eine Haushaltshilfe sinnvoll die man beantragen könnte wenn es Gesundheitliche Gründe hat.
Sprich ruhig und sachlich mit ihm. Wenn du merkst er blockt ab bei einer gewissen Richtung die du ansprichst, gibst du ihm Zeit, lenkst um auf ein anderes Thema oder ihr vertagt das Gespräch. Setz ihn nicht unter Druck und lass ihn auch nachdenken über das angesprochene. Der Weg kann lang und mühsam sein, aber ich denke ein Versuch ist es wert. Und er wird Hilfe annehmen wenn er bereit dazu ist.

Du kannst dich jederzeit auch sehr gerne wieder an uns wenden.
Ich wünsche mir für dich und deinen Bruder das ihr einen guten Weg findet alles zu besprechen und füreinander da zu sein ohne Streit.
Und auch wenn es für dich zuviel werden sollte kannst du das Thema bei deinem Hausarzt ansprechen. Er kann dir Hilfe vor Ort aufzeigen und Anlaufstellen wo ihr beide hingehen könnt wenn das nötig ist.
Schau ansonsten auch nach Adressen in deiner Nähe bei Beratungsstellen. Schon Anrufe sind sehr hilfreich um Informationen zu bekommen was man noch versuchen kann und wo man Unterstützung erhält bei bestimmten Problemen.
Du schaust nicht weg und versuchst für ihn da zu sein auch wenn es nicht leicht ist für dich und das finde ich super.


Liebe Grüße und vielleicht bis bald
Stephanie