Problem von Cc - 24 Jahre

Ständige Zweifel

Hallo,

vor 4 Jahren hatte ich meine erste Beziehung. Wir hatten viele Streits, Missverständnisse und mehr Tiefphasen als Hochphasen. Daher bezeichnete ich die Beziehung als "Toxisch", wir waren beide sehr emotional und ich trennte mich nach nur 6 Monaten. Nach der Trennung hatten wir zwar noch Kontakt und Sex, aber ich wollte mich nicht wieder auf ihn einlassen. Mein bester Freund dagegen gleichte all die Aspekte aus, die ich in dieser Beziehung vermisst hatte, aber ich fand ihn äußerlich nicht attraktiv. Mein bester Freund hatte schon immer Gefühle für mich. Als er sich von mir distanzierte, suchte ich seine Nähe und es kam zum ersten Kuss. Das Problem war, dass die Beziehung mit meinem Ex, auch wenn es keine feste mehr war, nicht abgeschlossen war. Mich überkam ein sehr schlechtes Gewissen und eine sehr deprimierte Anfangsphase mit meinem besten Freund, der nun mein Freund wurde. Ich war sehr kritisch ihm gegenüber und er musste viel aushalten. Im Nachhinein habe ich mich so verhalten, weil ich wollte, dass er sich von mir trennt. Die ersten anderthalb Jahre wollte ich mich eigentlich nur trennen, doch ich hatte dazu keine Kraft. Zudem dachte ich, dass ich mich bereits darauf eingelassen habe und es dadurch wenigstens versuchen musste. Ich fühlte mich depressiv, wurde übergewichtig und bekam gesundheitliche Probleme. Nach dieser Zeit wurde es besser. Ich fing an die innige Bindung, die wir von Grund aus hatten zu genießen und ihn zu lieben. Nichtsdestotrotz hatte ich immer wieder Zweifel an der Beziehung bezüglich der äußerlichen Attraktivität und der Anfangsphase unserer Beziehung. Zudem dachte ich ständig an meinem Ex. Nun sind es fast 3 Jahre und ich habe immernoch nicht mit meiner ersten Beziehung komplett abgeschlossen. Diese Zweifel, ob die aktuelle Beziehung richtig für mich ist oder ob ich doch nicht lieber alleine sein will, kommen immer wieder auf, besonders wenn ich PMS habe. Ich habe Angst mich zu trennen, denn ich denke, dass mein Freund mein Seelenverwandter ist und, dass wir vieles gemeinsam und gleiche Visionen haben. Ich schaffe es nicht meine negativen Gedanken abzuschalten und leide im Alltag darunter. Ich würde mir wünschen einen Weg zu finden wie ich in meiner ich Selbst bleiben kann statt die Beziehung als nur Arbeit anzusehen. Wenn ich mit meinem Freund unterwegs bin, schweifen meine Gedanken automatisch ab: ist er der richtige? Was fühlt er gerade? Was will er? Was denkt er? Ich kann mich nicht auf mich selbst konzentrieren, wodurch ich unsere Beziehung nur mit anderen Zusammen ausleben kann, aber nicht wenn wir alleine sind. Ich weiss ich bin ängstlich und unsicher, sensibel und kritisch, aber ich würde mich wirklich freuen, jegliche Art von Hinweis, Tipp, Offenbarung von euch zu erhalten:)

Danke!!

Heiner de Wendt Anwort von Heiner de Wendt

Hallo Cc,

vielen Dank für deine Nachricht und dein Vertrauen. Ich kann mir vorstellen, dass es dir schwer gefallen ist, diese Zeilen zu schreiben. Du scheinst in einem echten Gefühlschaos zu stecken, und in so einer Situation ist es klar, dass du keine Entscheidung treffen kannst.

Deshalb ist es aus meiner Sicht das Wichtigste, dieses Chaos erst einmal zu entwirren. Natürlich kann ich dir nicht alle Antworten liefern. In einigen Punkten wird es wichtig sein, dass du dir die Zeit nimmst, in dich selbst hineinzufühlen und dich selbst besser zu verstehen. Bitte nimm dir diese Zeit. Und schreib gerne wieder, wenn du weitere Unterstützung brauchst.

Zunächst einmal sehe ich bei dir zwei Fragestellungen: Wieso kannst du - zumindest gedanklich - deine erste Beziehung nicht loslassen? Und zweitens: Ist dein jetziger Freund wirklich der Richtige für dich? Es kann sein, dass die beiden Fragen zusammenhängen, aber es kann genauso gut sein, dass sie nichts miteinander zu tun haben. Deshalb gehe ich hier getrennt auf die beiden Themen ein.

Du schreibst über deinen Ex-Freund, dass ihr eine toxische Beziehung hattet. Ihr habt viel gestritten, und du hast vieles vermisst. Trotzdem bist du auch nach dem Ende der Beziehung immer wieder zu ihm zurückgekehrt. Schon damals, als du dich eigentlich trennen wolltest, hast du es also nicht geschafft, ihn wirklich loszulassen.

Was genau ist es, dass dich an deinem Ex-Freund immer wieder anzieht? Vielleicht sind es gerade die starken Emotionen (selbst die negativen)? Das “Aufregende”? Oder fühlst du dich in irgendeiner Weise ihm gegenüber verpflichtet oder an ihn gebunden? Hat er vielleicht eine bestimmte Verhaltensweise gezeigt, etwa dich in guten Zeiten mit Liebesbekundungen zu überschütten, die dir heute fehlt?

Wie genau fühlst du dich, wenn du bei ihm bist? Ist es vielleicht so, dass die Beziehung mit deinem Ex ähnliche Muster hatte, wie du sie aus deiner Familie kennst? Es kommt häufiger vor, dass sich Menschen Partner suchen, weil sie deren Verhaltensweisen kennen, verstehen und einschätzen können - selbst wenn sie ihnen nicht gut tun.

Es kann durchaus sein, dass es mehrere Punkte gibt, die dich gedanklich noch immer an deinen Ex binden. Finde heraus, was ganz genau deine Gedanken und Gefühle immer wieder zu ihm zieht. Und dann versuche, dein Bedürfnis hinter dem Gefühl zu verstehen. Denn was auch immer es ist, das dich anzieht, dahinter steht ein unerfülltes Bedürfnis. Das kann etwas sein, das bis in deine Kindheit zurückreicht - etwa, dass er dich an jemanden aus deiner Familie erinnert, von dem du dir Liebe und Aufmerksamkeit gewünscht hättest, aber nicht (oder nicht ausreichend) bekommen hast. Aber es kann auch etwas sein, das nur in dem jeweiligen Moment Bedeutung hat. Etwa, dass du gerade eine emotionale Leere spürst - und die Aufregung, ob positiv oder negativ, mit deinem Ex-Freund diese Leere füllen würde.

Das sind natürlich nur Beispiele. Versuche, hier deine eigenen Antworten zu finden. Was zeichnet die Momente aus, in denen du an deinen Ex denkst? Wie fühlst du dich vorher, wie währenddessen, und wie danach? Was genau geben dir die Gedanken an deinen Ex?

Wenn Du verstehst, was dein eigentliches Bedürfnis hinter diesen Gefühlen ist, dann kannst du dich damit beschäftigen, wie du dir dieses Bedürfnis anders und auf für dich gesündere Weise erfüllen kannst.

Was mir in deiner Beschreibung zu deinem aktuellen Freund aufgefallen ist, ist vor allem eine große Ambivalenz. Du scheinst heute vieles in deiner Beziehung zu genießen: Die innige Bindung, die gleichen Visionen, etc. Aber ganz unabhängig von deinen Gedanken an deinen Ex-Freund gibt es auch einige Punkte, die sehr schwierig klingen.

Du hast erzählt, wie ihr zusammengekommen seid: Er hat sich distanziert, und erst da hast du seine Nähe gesucht. Und erst da kam es zum Kuss. Das klingt für mich so, als wärst du ihm näher gekommen, weil du Angst hattest, ihn ansonsten ganz zu verlieren. Wenn ich dich richtig verstehe, war dir damals bereits bewusst, dass du deinen Ex-Freund noch nicht überwunden hattest - und eigentlich hättest du noch Zeit gebraucht. Du schreibst sogar, dass du dich verpflichtet gefühlt hast, es zu versuchen.

All das klingt danach, als ob du die Beziehung nicht aus Liebe und Freude eingegangen bist, sondern weil du dachtest, du musst es tun. Entweder aus Verlustangst, oder weil du dachtest, dass du nicht Nein sagen darfst, wenn du einmal Ja gesagt hast. Das würde auch erklären, weshalb du ihn dazu bringen wolltest, sich zu trennen - denn du selbst hattest ja keine innere Erlaubnis, das zu tun.

Zunächst einmal ein ganz wichtiger Punkt: Du darfst IMMER Nein sagen. Menschen treffen Fehlentscheidungen, und wir sollten uns immer das Recht vorbehalten, diese zu korrigieren - auch wenn es weh tut. Uns und anderen. Und manchmal ändern sich Gefühle auch, oder einem wird erst später etwas Wichtiges bewusst. Auch dann darf man immer noch Nein sagen - egal, wie oft man vorher Ja gesagt hat. Wenn du soweit bist, dass du wirklich weißt, was du willst, zögere deine Entscheidung nicht aus Angst oder Pflichtgefühl weiter hinaus. Aber nimm dir auch die Zeit, die du brauchst, um wirklich sicher zu sein.

Ich möchte auf diesen Punkt des Nein-Sagens noch aus einer anderen Perspektive eingehen. Du sagst, du wolltest dich nur trennen, doch du hattest dazu keine Kraft. Doch hat dich alles andere nicht auch Kraft gekostet? Du schreibst, dass es eine deprimierende Zeit war, dass du ihn ständig kritisiert hast, und du im Grunde eine Beziehung ausgehalten hast, die du gar nicht wolltest. All das zehrt auch an einem Menschen. Doch du hast es über eineinhalb Jahre geschafft, all das zu halten. Das zeigt, wieviel Kraft du eigentlich hattest und hast.

Wieso also fühlte es sich so an, als ob genau dieser eine Punkt, selbst die Entscheidung für eine Trennung zu treffen, zu viel Kraft kosten würde? Kann es sein, dass sich dahinter ein für dich grundsätzlich wichtiges Thema verbirgt?

Ein weiterer Punkt, der mir aufgefallen ist: Du schreibst, dass du übergewichtig wurdest und gesundheitliche Probleme bekommen hast. Und dass die Beziehung danach besser wurde. Steht das in einem Zusammenhang? Konntest du dich vielleicht besser auf die Beziehung einlassen, WEIL du übergewichtig geworden bist und gesundheitliche Schwierigkeiten entwickelt hast? Wenn ja, was hat sich dadurch in deiner Gefühlswelt verändert? Wie hat sein dein Selbstbild verändert, und wie deine Erwartungen an deine Außenwelt? Hast du dadurch vielleicht sogar eine Art von Sicherheit entwickelt? Das alles sind natürlich wie alles nur Vermutungen - fühle in dich selbst hinein, was davon stimmen könnte.

Schließlich gibt es noch etwas, das in mir Fragen aufkommen lässt. Du schreibst, dass du deinen jetzigen Freund als Seelenverwandten empfindest. Gleichzeitig sagst du aber, dass du in deiner Beziehung gerne du selbst sein möchtest - es also im Augenblick offenbar nicht bist. Das muss nicht heißen, dass ihr keine Seelenverwandten seid, oder dass ihr keine tolle Beziehung führen könnt. Aber du schreibst auch, dass du in bestimmten Situationen ständig darüber nachdenkst, was dein Freund denkt und fühlt und will, und du dich nicht auf dich selbst konzentrieren kannst. Räumst du dir in eurer Beziehung überhaupt den Raum ein, du selbst zu sein?

Ob ihr wirklich Seelenverwandte seid, kannst du aus meiner Sicht erst herausfinden, wenn du dich wirklich ganz auf die Beziehung einlässt - und das bedeutet, nicht so zu sein, wie du glaubst, dass es von dir erwartet wird. Sondern wirklich du zu sein, mit all deinen Ecken und Kanten, Problemen, Ängsten und Sehnsüchten. Darfst du das - von dir aus und von ihm aus?

Denk bitte auch darüber nach, was Seelenverwandschaft für dich wirklich bedeutet. Eine gesunde und ehrliche Beziehung bedeutet nämlich keinesfalls, konstant in Harmonie zu leben - sondern auch, dass man sich miteinander weiterentwickeln kann. Ein Seelenpartner muss - aus meiner Sicht - nicht unbedingt jedes deiner Bedürfnisse erfüllen, sondern dich menschlich ergänzen und weiterbringen.

In den folgenden Links findest du weiterführende Informationen zu Selbstliebe, Abgrenzung und Selbstfindung, die dir hoffentlich auf deinem Weg weiterhelfen können:

https://alexandramolina.de/besser-abgrenzen/
https://chrisbloom.de/sich-selbst-finden/
https://www.danielapolenz.de/wie-dich-deine-selbstfindung-unterstuetzt-eine-glueckliche-beziehung-zu-fuehren/

Ich wünsche dir, dass aus diesen schwierigen Anfängen eine wirklich nahe und ehrliche Beziehung entstehen kann, auch und gerade wenn ihr nur zu Zweit seid. Im Moment sollte dein Fokus aber darauf liegen, herauszufinden, was DU eigentlich willst, brauchst und wer du - für dich selbst und in eurer Beziehung - sein möchtest. Ob ihr dann immer noch zusammenpasst, ob diese Beziehung dich wirklich glücklich machen kann, das ist eine Frage, die sich vermutlich erst danach beantworten lässt.

Ich hoffe, dir mit meinen Impulsen weiter geholfen zu haben. Wenn du das Bedürfnis hast, dich weiter auszutauschen, du weitere Fragen hast, oder du einfach nur deine Gedanken loswerden möchtest, schreib gerne erneut.

Auf jeden Fall wünsche ich dir alles Gute, viel emotionale Klarheit und die Kraft und den Mut, ehrliche und für dich richtige Entscheidungen zu treffen.

Liebe Grüße,

Heiner