Problem von Anonym - 11 Jahre

Hochbegabt

Wenn ich die Wahl hätte zwischen einer Hochbegabung und einem niedrigeren IQ wie der Durschnitt hätte würde ich letzteres wählen. Ich habe einen IQ von 146 und ehrlichgesagt ist das eine Krankheit. Ich bin zwar in der Schule in einer speziellen Hochbegabten Klasse aber das bringt mich nicht wirklich weiter. Ich kann in der Schule nicht machen was ich will, worauf ich Lust hab und deshalb schalte ich im Unterricht komplett ab. Letztes Jahr habe ich nur mit Ach und Krach bestanden (zwei Vieren im Zeugnis bin jetzt 7. Klasse) und, was würde ich dafür geben normal zu sein. Für mich ist diese Hochbegabung wie ein Fehler im System, ein Glitch. Ich mach sehr gerne Sport, muss aber zusätzlich noch in die Schule wo für hin+Rückfahrt etwa zwei Stunden wegfallen. Schule wechseln will ich nicht hab ja schließlich meine Freunde an der Schule.

Nuala Anwort von Nuala

Hallo du!

Ich danke dir für deine Zuschrift. Du benennst ein bedeutsames Thema, auch wenn die wenigsten Menschen davon betroffen sind. Nichtsdestotrotz gibt es Hoffnung und klare Optionen.
Da du relativ allgemein geblieben bist und ich nicht weißt, was du selbst schon zur Besserung deiner Situation unternommen hast, gibt es von mir vorerst generelle Hinweise und Tipps. Du kannst selbstverständlich antworten und dann könnten wir sehen, was sich noch gezielter herausarbeiten ließe.

Vorab möchte ich dir mitteilen, dass ich es traurig finde, dass du deine Hochbegabung mit einer Krankheit vergleichst. Das klingt für mich so, als wäre bisher wenig für dich getan worden, um dich angemessen zu unterstützen. Dabei gibt es wunderbare HB-Anlaufstellen. Falls du da bisher nicht so aktiv warst: Dringende Empfehlung! Falls deine Eltern bzw. ein Elternteil ebenfalls hochbegabt sind, umso besser könntet ihr bestimmte Angebote und Einrichtungen ansteuern, zumindest bezüglich Freizeitangeboten. Allein von Mensa e.V. gibt es viel; lokale Vereine, Gesprächskreise, Freizeitgruppen und Beratungsstellen runden das Spektrum ab. Vielleicht habt ihr nicht so viel in unmittelbarer Nähe, könntet euch aber ggf. mit anderen Familien vernetzen. Der große Vorzug davon ist nicht nur, Gleichgesinnte zu treffen und anregendere Erfahrungen zu machen. Sondern sich selbst auch immer mehr akzeptieren und lieben zu können.
Hochbegabung ist einfach eine Seinsart. Du bist eben so. Jeder Mensch hat spezifische Herausforderungen und Dinge, die schwerfallen (und das ist relativ gemeint). Du wärst definitiv nicht glücklicher, wenn du durchschnittlich oder leicht überdurchschnittlich begabt wärst. Der Mensch, sein Intellekt und seine Psyche mit all den zugehörigen Wesenszügen, Vorlieben, Prägungen, Aufgaben und Erfahrungen ist viel zu komplex als eine Schwarz-Weiß-Schablone auf ihn anzuwenden. Daher hoffe ich inständig, dass du im Laufe der Jahre lernen wirst, dich so anzunehmen, wie du eben hier unter uns bist. Wertvoll und einzigartig. Hochbegabung schafft dir viele Chancen und Freuden, wenn du dich ihr öffnest und sie nicht ablehnst!
Es gibt Menschen, die dich sehr gerne begleiten und fördern möchten, da bin ich mir sicher! Sie müssen eben gefunden und aktiv auf dein Problem aufmerksam gemacht werden.

So wie ich dich verstanden habe, bist du in einer HB-Klasse, allerdings an einer herkömmlichen Schule. Du willst die Schule aber auch nicht wechseln. Nun - so leid es mir tut, aber auch du musst etwas ändern, wenn sich im Gesamten etwas zu deinen Gunsten ändern soll. Hier sehe ich vor allem deine Komfortzone. Komm da raus! Du wirst nicht alles auf dem Silbertablett serviert bekommen. Was ich damit meine: " Ich kann in der Schule nicht machen was ich will, worauf ich Lust hab und deshalb schalte ich im Unterricht komplett ab." Mal im Ernst: Es ist völlig unerheblich, welchen IQ ein:e Schüler:in hat. In unserem aktuellen Schulsystem mit Regelschulen wirst du selten einfach machen können, worauf du Lust hast. Und auch nach der Schule wird das nicht klappen. Man mag genau das kritisieren, aber andererseits ist es eben ein ständiger Kompromiss, ein Aushandeln zwischen Notwendigkeiten und Bedürfnissen. Das ist also kein Zuckerschlecken, egal für wen. Solltest du wahrhaftig diesen zitierten Punkt als dein Kernproblem wahrnehmen und deine Angehörigen sowie Fachpersonen das sehr ähnlich einschätzen, wäre möglicherweise eine ganz andere Schulform für dich interessant (Montessori vielleicht). Aber: Du willst auf deiner Schule bleiben, daher wieder zurück zum Verlassen der Komfortzone. Hier meine Anregungen:

- Es kann ja sein, dass deine Lehrer:innen bisher (zu wenig) mitbekommen haben, dass du dich chronisch unterfordert fühlst. Das müsste sich dann natürlich rasch ändern. Beziehe hier bitte auch deine Eltern mit ein. Es müsste genau herausgearbeitet werden, wie dein Stärkenprofil ausfällt, wo du selbst Nachholbedarf hast, wo du deine Begabung besonders brachliegen lässt, usw.

- Fordere nachdrücklich mehr Input und Möglichkeiten für deine Weiterentwicklung und geistige Stimulation ein (schnellerer Stoffdurchlauf & höhere Anforderungen). Dazu kann neben in den Unterricht integrierte Aufgaben auch das Halten von Vorträgen gehören - möglicherweise macht es dir Spaß, in freien Minuten an einem bestimmten Bereich zu arbeiten.

- Biete dich für Dienste, kleine Ehrenämter und sonstige Erledigungen im Schulalltag an. Das schafft zusätzliche Auslastung und ist etwas Sinnvolles.

- Ziehe so viel wie möglich aus dem, was dir geboten wird. Es kann ja auch total vorteilhaft sein, das Meiste sehr rasch zu verstehen und schon weiterreichende Gedanken und Konzepte entwickelt zu haben. Du kannst gerne auf mehreren Ebenen gleichzeitig "aktiv" sein und dabei Langeweile vorbeugen. Sprich: Du tanzt sozusagen innerliche auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig, kehrst an der entscheidenden Stelle aber wieder zum behandelten Thema zurück.

- Falls du Lust hast, anderen Schüler:innen (aus deinen Parallelklassen) Nachhilfe zu geben, wäre das noch eine schöne Variante, um dich geistig zu fordern und gleichzeitig für Andere Mehrwert zu schaffen.

- Das was dich "natürlicherweise" interessiert, geht vielleicht grundsätzlich vorbei am groben Komplex Schule. Diese Erfahrung habe ich leider auch machen müssen. Da hilft nur: So viel wie möglich in der Freizeit umsetzen und notfalls die Schule irgendwie "überstehen". Dennoch sollte deine Schulzeit so angenehm wie möglich gestaltet werden. Und dafür kannst du viel tun!

- Falls deine eigentlichen Interessen ganz klar in eine Richtung gehen, in der es auch Ausbildungsberufe gibt, wäre noch eine Idee, dass du das zunächst ansteuerst. Abitur und all das könntest du später immer noch nachholen, falls dann gewünscht.

- Es gibt mittlerweile viele tolle HB-Literatur. Vielleicht hast du ja Lust auf das ein- oder andere Buch. Hier entsprechende Tipps (Auswahl) und auch empfehlenswerte Links, die du gerne mit deinen Eltern anschauen kannst:
* https://www.hochbegabten-homepage.de/
* https://hbf-ev.de/home.html#top
* https://www.grips-und-co.de/
* https://www.begabungslotse.de/
* Dr. Christa Rüssmann-Stöhr: Mit intelligenten Kindern intelligent umgehen (Buchtipp insbesondere für deine Eltern und Erzieher:innen bzw. Lehrkräfte ---> Kapitel 24: Begabungsmanagement in der Schule)
* Mathias Wais: Hilfe - ich bin hochbegabt! Na und? Mit schlauen Füchsen unterwegs

Abschließend möchte ich noch auf das Stichwort Schule und Freund:innen eingehen. Nun, nur weil du deine Schule wechseln würdest, wären die Freunde und Freundinnen ja nicht weg. Echte Freund:innen bleiben dir erhalten, das ist gewiss. Sie könntest du dann nach der Schule und am Wochenende/in den Ferien treffen. Und zusätzlich hättest du die Chance, neue Kontakte zu knüpfen. Also: Im Zweifel solltest du über deinen Schatten springen und dich auf einen schulischen Neuanfang einlassen, sofern er dir realistisch mehr Förderung verspräche. Andernfalls bist du gemeinsam mit deiner Schule/deiner Klasse und den Lehrkräften umso mehr gefragt, das Beste aus dem Schulalltag zu machen.

Also: Bitte stecke den Kopf nicht in den Sand, sondern setze dich für die Verbesserung deiner schulischen Situation aktiv ein.

Sei lieb gegrüßt,
Nuala