Problem von Anonym - 34 Jahre

Doktorspiele oder übergriff

Hallo,
Es fällt mir wirklich nicht leicht mein priloblem hier zu schildern. Dahinter steckt viel Scham und auch die Besorgnis wirklich etwas grundsätzlich falsches gemacht zu haben.
Dennoch möchte ich es hier teilen in der Hoffnung mehr Klarheit zu finden.
Ich bin mit einem kleinen Halbbruder aufgewachsen, unser Altersunterschied liegt bei 5 Jahren. Ich weiß noch dass wir eines Tages doktorspiele machten, wenn man es so nennen will, ich war wohl damals bereits 8 oder 9, vielleicht sogar 10. Und soweit ich mich erinnern kann hab ich meinen Bruder aufgefordert wirklich Geschlechtsverkehr nachzustellen. Ich weiß noch dass er erigiert war und mir auch wirklich sehr nahe kam. Danach hatte ich Monate Angst schwanger zu sein (obwohl ich meine me struation erst mit 15 bekam). Auch wenn ich heut noch daran denke ekekt es mich und ich hab schuldgefühle und schäme mich. Ich war die große, das ist dich nicht ok, oder doch? Manchmal frag ich mich ob mein Bruder sich noch daran erinnern kann und ich schäm mich bei dem Gedanken und auch was das dich unbewusst mit unserer Beziehung macht. Ich weiß nicht wie ich damit umgehen soll. Bitte um Hilfe und Klarheit.

Nuala Anwort von Nuala

Hallo du!

Es ist gut, dass du beginnst, dich zu offenbaren. Das kann der Anfang von weiteren Erleichterungen bedeuten!

Ich weiß nur nicht, ob ich dir die gewünschte Klarheit geben kann. Das wäre eher gegeben, wenn du dich von Angesicht zu Angesicht mit jemandem unterhalten könntest. Selbstverständlich teile ich sehr gerne meine Ideen mit dir.

Generell möchte ich zu Bedenken geben, dass wir nie davor sicher sind, Fehler zu machen. Aus ihnen können wir lernen und uns weiterentwickeln. Du hast jetzt als erwachsene Person Dinge verstanden und siehst, dass du aus dieser Perspektive anders gehandelt hättest. Als Kind, in der damaligen Gegenwart, hast du jedoch anders empfunden. Kinder sind auch schon sexuelle Wesen! Vielleicht hilft es dir schon, da mit Nachsicht ranzugehen.

Gleich zu Beginn möchte ich auf eine ältere Zuschrift verweisen, die von Yves beantwortet worden war. Er ging kompakt auf die Ängste der Schreibenden ein und hat ein Dokument der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung verlinkt. Auf Seite 18 geht es dann speziell um Doktorspiele. Das würde ich dir zum Lesen mitgeben. https://mein-kummerkasten.de/289791/Doktorspiele-zwischen-Geschwistern.html

Ihr wart beide noch Kinder, da kommen solche Aktivitäten durchaus gehäuft vor. Die Frage ist, ob du mit deinem Grundschulalter überhaupt abschätzen konntest, was ihr da macht bzw. ob du deinen Halbbruder genötigt hast. Du schreibst zwar, du "warst die Große", aber was heißt das schon als Kind? Es wäre etwas ganz Anderes gewesen, wenn du schon 15 Jahre oder älter gewesen wärst!
Wichtig: Mit sexuellen Handlungen von Erwachsenen kannst du eure Aktivitäten nicht gleichsetzen. Ihr wart neugierig und die Körper haben reagiert - soweit so logisch.

Auf der anderen Seite finde ich es gar nicht so relevant, wie es genau war - du kannst einen möglichen Fehler in diesem Fall sowieso nicht mehr korrigieren. Letztlich warst du selbst ja auch "geschädigt", weil du gar nicht verstanden hattest, dass ihr noch kein Kind zeugen konntet. Du warst also schon damals voller Angst - ist das nicht schon schlimm genug? Dass du dich jetzt weiter peinigst, ist definitiv nicht zielführend.
Du solltest dir nicht die bange Frage stellen, ob du Schuld auf dich geladen hast, sondern was es aktuell mit dir macht, dich so angstvoll, schambehaftet und verunsichert zu fühlen. Vielleicht kennst du den psychologischen Begriff des sogenannten "inneren Kindes". Mit diesem könntest du z.B. arbeiten. Du kannst lernen, dein früheres Ich, dein "inneres Kind", in den Arm zu nehmen und zu trösten und ihm gut zuzureden. Es gibt dazu auch hilfreiche Literatur, z.B. von Stefanie Stahl. Selbstverständlich könntest du dir auch Profi-Hilfe holen, beispielsweise in Form eines Termins in einer Beratungsstelle für Betroffene von (sexualisierter) Gewalt.

Am ehesten kannst du dir Klarheit und Souveränität zurückholen, indem du mit deinem Halbbruder offen besprichst, was dich beschäftigt. Das würde den Raum eröffnen, dich zu entschuldigen, wenn du das möchtest. Und es würde dich sicherlich sehr erleichtern! Wer weiß, vielleicht könntet ihr am Ende sogar laut darüber lachen und euch darüber freuen,dass ihr so experimentierfreudig gewesen seid. - Soll heißen: Es könnte sich alles in Wohlgefallen auflösen, weil auch die positiven Seiten des Geschehenen erkannt werden könnten.
Schweigen ist hingegen eine schlechte Strategie. Es würde nur weiter in dir rumoren, dich quälen und eventuell weitere unnötige Schuldgefühle erzeugen. Alternativ zum mündlichen Gespräch ginge auch ein Chat, ein Brief, eine Mail...
In einer vorherigen Beratung z.B. könntest du dich auf dieses Gespräch vorbereiten bzw. gemeinsam mit deinem Halbbruder einen (weiteren) Termin wahrnehmen.

Um die Scham abzubauen, kann es dir auch helfen, dich mit Vertrauten aus deinem persönlichen Umfeld zu unterhalten. Du bist ja kein Einzelfall mit den Doktorspielen. Sehr viele Kinder machen es und vermutlich sind da manchmal auch Sachen dabei, die aus der gereiften Sicht als "falsch"bewertet werden. Das macht dich aber weder zu einem schlechten Menschen noch bedeutet es, dass ihr beide anhaltenden Schaden genommen habt. Darüber zu reden kann einen Austausch ermöglichen, der auf Erfahrungen beruht und nicht auf Schuldzuweisungen. Und hier wieder der Impuls, dass es in der kindlichen Entwicklung normal ist, sich auszuprobieren und sexuelle Erfahrungen zu machen - eben auf dem für den jeweiligen Entwicklungsstand passenden Weg.

Sexualität mit sich selbst oder anderen Menschen ist an sich eine absolut energiereiche und stimulierende Kraft, die viel Freude bereiten und entspannen kann. Solange keine Gewalt mitschwingt, ist sie wunderbar und kein bisschen "schmutzig". Vielleicht kannst du dich einmal fragen, wie du als Erwachsene zu deiner Sexualität stehst. Möglicherweise zieht dein Schamgefühl weitere Kreise, als es vordergründig den Anschein erweckt. Damit meine ich: Wenn du Sexualität vielleicht an sich schon eher "peinlich" und "verschweigenswert" findest, kann es umso schwerer wiegen, sich an die Doktospiele von früher zu erinnern. Das käme dann einem glühenden Finger in der Wunde gleich...

Solltest du allerdings das unbestimmte Gefühl haben, dass mehr hinter den Handlungen steckt, weil du eventuell selbst vorher einem sexualisierten Übergriff ausgesetzt gewesen warst, solltest du dem dringend nachgehen - hier wieder mein Tipp mit der Beratungsstelle.


Ich wünsche dir alles Liebe,
Nuala