Problem von Chris - 20 Jahre

Es passt nicht mehr

Hey, ein wenig Streit in der Familie gibt es ja immer, aber gerade hatte ich wohl die erste richtige Auseinandersetzung mit meinen Eltern. Das Problem fasse ich mal kurz zusammen. Im Beginn der Corona-Zeit habe ich mein Abitur gemacht und mir vorgenommen, die Zeit hinter mir zu lassen, der Mensch zu sein, der ich wirklich bin. In der Zeit der Epidemie konnte ich das ankratzen, war aber durchgehend nur arbeiten oder mit dem online-Studium beschäftigt. Jetzt, wo alles in Präsenz beginnt, fängt auch mein Leben an. Die Sache ist, ich bin hochbegabt und meine Eltern sind es nunmal nicht, sie durften in ihrer Vergangenheit keine Bildung genießen. Sie sind nicht, absolut nicht, aber das Niveau ist nicht gleich… ich hasse es es so zu sagen, aber zuhause muss ich mich durchgehend zurückschrauben. Meine Intelligenz, welche ich hasse, aber ein Teil von mir ist, runterschrauben. Das zieht Energie und macht mich traurig. Meinen Eltern habe ich das heute erzählt und ihre Auffassung war, „wir sind dumm“, „wir sind schlechte Eltern, die ihrem Kind keine Zuneigung geben können.“. Die Folge ist auszuziehen, damit ich ich sein kann, ohne Barrikaden. Ich liebe meine Eltern und sie lieben mich, aber es funktioniert so nicht mehr. Ist das verwerflich? Ich weiß es nicht. Soll ich meine Hochbegabung in den Schatten stellen für die Familie oder egoistisch sein und schauen, was ich alles erreichen kann, wer ich überhaupt bin? Ich weiß es nicht

Lan Anwort von Lan

Lieber Chris,

hab vielen Dank für deine Nachricht und dein Vertrauen. Es tut mir leid, dass ich erst so spät auf deine Zuschrift antworte. Hoffentlich hilft sie dir trotzdem weiter?


Ich lese, dass du zu Hause durchgehend dein Niveau herunterschrauben musst. Doch wer sagt, dass du es musst? Wer fordert das von dir? Deine Eltern? Oder bist es nicht eher du, der denkt, er müsste es tun? Setzt du dich selbst unter Druck und schränkst dich ein? Und wenn ja, wieso tust du das? Wieso verstellst du dich?

Bisschen provokant geschrieben, ich weiß, aber ich will dich mit den Fragen zum Nachdenken anregen.

Du siehst derzeit nur zwei Optionen: Entweder lebst du weiterhin mit deinen Eltern zusammen, verstellst dich aber und bist unglücklich. Oder du ziehst aus, machst dein Ding, kannst du selbst sein.
Ich denke, dass dazwischen noch mehr Optionen liegen.

Eine wahrscheinlich auch schwierige Option wäre, wenn du dir einfach erlauben würdest, du selbst zu sein.
Gerade vor den eigenen Eltern, die einen doch besser kennen als jeder andere. Sie haben dich aufwachsen sehen, kennen dich gut, wissen auch sehr bestimmt von deiner Hochbegabung. Oder verheimlichst du ihnen das etwa? Und wenn ja, wie lange schon?
Das muss wahnsinnig anstrengend für dich sein. Nicht nur, weil es viel Arbeit kostet, es kann mental und psychisch sehr belasten, erzeugt in dir Unstimmigkeit und Unwohlsein, weil du dich nicht so verhälst, wie du dich verhalten würdest, sondern so wie du denkst, dass es besser wäre.
Aber ich bin mir sicher, dass deine Eltern dich so lieben, wie du bist, ob mit hoher Intelligenz oder auch nicht. Eltern lieben bedingungslos. Und sie würden nicht wollen, dass du dich verbiegst und vorgibst jemand anderes zu sein. Sie wollen sicherlich nicht, dass du unglücklich deswegen bist.

Deine hohe Intelligenz lehnst du an dir selbst ab. Wieso? Liegt es daran, weil du dich vielleicht ausgeschlossen fühlst, so anders als deine Eltern oder im Vergleich zu anderen Menschen?


Sein dürfen, wie man ist

Wir alle sind ganz unterschiedliche Menschen. Das bedeutet nicht, dass man nicht zusammen sein und harmonieren kann. Es mag schwer sein, es zuzulassen, aber probiere mal, Stück für Stück ein bisschen mehr du selbst zu sein. Fange klein an und steigere dich und schaue, was passiert. Was passiert bei deinen Eltern, mit deiner Beziehung zu ihnen und mit dir, wenn du immer mehr von deinem wahren Ich zeigst?

Und frage dich auch, wovor du so große Angst hast? Woher kommt diese Furcht, sich nicht zeigen zu können, wie du wirklich bist? Was könnte denn schlimmstenfalls passieren, wenn du authentisch wirst?

Ich denke, dass es ein Versuch wert wäre. Dazu musst du aber dich selbst annehmen wie du bist. Wenn du das nicht tun kannst, wird es schwer, mit dem Authentischsein. Hochbegabt sein, kann trennend sein und man fühlt sich so als wäre man ganz anders als andere. Aber das muss nicht schlecht sein, im Gegenteil, du hast dadurch einige Vorteile. Du erbringst viel bessere Leistungen, kannst so erfolgreicher im Beruf sein.


Mit Eltern reden

Ich finde es gut, dass du mit deinen Eltern darüber gesprochen hast. Die Frage ist: Wie hast du das getan? Solltest du nochmal mit ihnen reden, bleibt bei Ich-Botschaften, sprich darüber wie du fühlst und denkst ohne Vorwürfe zu machen. Ich würde an deiner Stelle nochmal mit ihnen sprechen und auch nochmal darauf eingehen, was das mit deinen Eltern macht. Wie fühlen sie sich, dass sie selbst keine Hochbegabung haben? Was wünschen sie sich? Frage sie, wenn du es nicht getan hast: Warum denken sie, sie seien schlechte Eltern, die ihrem Kind keine Zuneigung geben können?

Wie ist denn generell dein Verhältnis zu deinen Eltern? Hast du das Gefühl, dass sie dir nicht genug Zuneigung geben? Die Aussage deiner Eltern wirkt auf mich etwas aus dem Zusammenhang gerissen, ich weiß ja leider auch nicht, was für ein Gespräch ihr geführt habt.

Es ist auch nicht verwerflich, dass es zwischen euch nicht funktioniert. Auch wenn ihr eine Familie seid, seid ihr ja auch alle sehr individuell und Unterschiede sind ja auch normal. Und wenn die so groß sind, dass man auf keinen Nenner kommt, dann ist das traurig, aber sollte akzeptiert werden. Auch wenn es Differenzen gibt, könnt ihr dennoch etwas tun, um in Verbindung zu bleiben: Redet weiter miteinander, versucht euch gegenseitig zu verstehen und seid ehrlich, offen und authentisch.


Fokus auf eigene Entfaltung

Ich finde es absolut nicht egoistisch, wenn du dich auf dich konzentrierst, dich weiter entwickelst und dich entfaltest. Dafür sind wir meiner Ansicht nach alle auf der Welt. Und deine Eltern würden das auch wollen. Ich glaube, dass sie traurig wären, wenn du dein Potenzial nicht entfalten würdest. Sie wollen ganz sicher nur das Beste für dich. Am besten sprichst du mit ihnen darüber, dann wird alles klarer.

Ich lese heraus, dass du dich unbedingt an deine Eltern anpassen willst, vielleicht auch, um von ihnen geliebt und akzeptiert zu werden, um dazu zu gehören. Du selbst zu sein würde sich so anfühlen, als würdest du dich von deiner Familie distanzieren. Aber das muss es nicht sein.

Halte dir vor Augen, dass du nicht dazu da bist, so zu sein, wie es andere wollen. Du bist du und genau richtig. Du bist da, um du selbst zu sein und nicht um Erwartungen zu erfüllen oder deine Eltern glücklich zu machen. Du darfst also ruhig mehr auf dich achten, selbstbewusst sein, dich finden und zu dir stehen, wie du bist. Es ist das Selbstbewusstsein, was du noch mehr fördern solltest.

Du fragst, ob du dich für deine Eltern gegen deine Hochbegabung oder für dich und gegen deine Eltern entscheiden sollst. Diese Entscheidung kann dir keiner nehmen, du musst sie für dich treffen.
Aber denk drüber nach: Muss es nur das eine oder andere sein? Gäbe es nicht auch die Möglichkeit, sich sowohl für deine Eltern als auch für dich zu entscheiden? Du kannst versuchen, beides zu vereinbaren.


Unabhängiger werden

Aber vielleicht wäre eine Auszug tatsächlich eine gute Chance, dich von deinen Eltern loszulösen. Vielleicht gewinnst du dadurch auch Freiheit und kannst dich besser entfalten. Du bist 20 und studierst, eine gute Zeit, um deinen eigenen Weg zu gehen. Auszuziehen ist etwas, was so gut wie alle Kinder durchmachen und was wichtig ist, um eigenständig zu werden, sein eigenes Leben zu führen. Das hat auch gar nichts mit Egoismus zutun, sondern ist nur normal und wichtig für junge Menschen wie dich. Das bedeutet auch nicht, deine Eltern im Stich zu lassen. Du könntest dir ja auch eine Wohnung in der gleichen Stadt oder in der Nähe suchen und selbst entscheiden, wie oft du sie besuchen willst. Damit gewinnst du Abstand von ihnen, kannst dich entfalten, musst aber auch nicht auf Kontakt zu deinen Eltern verzichten. So hast du die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, wie oft du sie siehst und wie eng die Beziehung sein wird. Das kann auch eine große Chance für dich sein.


Egal welchen Weg du gehen wirst, deine Eltern werden dich trotzdem weiterlieben, da bin ich sicher. Aber was noch wichtiger ist: Wie fühlst du dich damit? In welche Richtung tendierst du? Was ist dir wichtiger? Dass es harmonisch zwischen dir und deiner Familie bleibt, du dich anpasst oder du du selbst sein kannst?

Die Entscheidung liegt ganz bei dir.

Ich wünsche dir alles Liebe und Gute und Kraft, die richtige Entscheidung zu treffen.

Viele Grüße,
Lan