Problem von Katrin - 18 Jahre

An PaulG: Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee war meiner Lehrerin zu schreiben wegen meinem Suizidgedanken.

Hallo PaulG,

ich habe meiner Lehrerin gestern geschrieben, ob sie Zeit für ein Gespräch hat. Sie hat mir auch schon geantwortet, dass sie mir helfen möchte. Doch sie weiß nicht worum es geht. Heute habe ich ein ungutes Gefühl, ob das wirklich richtig war. Es macht mir auch Sorge, dass mein Ausbildungsbetrieb das erfährt. Ich sehe meine Lehrerin erst am 09.01 wieder. Das heißt, dass ich noch ein bisschen Zeit habe. Aber ich habe Angst davor wie sie wohl reagieren wird und was sie machen wird. Könntest du mir bitte nochmal helfen?

Liebe Grüße
Katrin

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Katrin,

ich danke dir für deine Nachricht. Leider bin ich noch nicht dazu gekommen, deine Zuschrift von kürzlich zu beantworten, aber ich werde das auf jeden Fall bald tun. Indessen freut es mich, dass du den Mut gefunden hast, deine Lehrerin um ein Gespräch zu bitten - diese Entscheidung ist der erste Schritt einer Entwicklung vorwärts, bei der du nicht mehr nur erträgst, sondern aktiv handelst.

Ich denke, dass ich dir deine erste Sorge nehmen kann: Nämlich die, ob dein Ausbildungsbetrieb davon erfährt. Auch wenn ich die rechtlichen Einzelheiten nicht kenne (sie dir auch gar nicht auslegen dürfte, wenn das der Fall wäre), ist es, denke ich, schlüssig, dass deine Lehrerin gehalten ist, diese Dinge mit Diskretion zu behandeln. Natürlich ist auch für sie die Situation nicht einfach: Einerseits versteht es sich von selbst, dass deine innersten Gedanken und Gefühle erst einmal nur dich selbst etwas angehen. Andererseits liegt es auf der Hand, dass auch sie eine Pflicht zum Handeln hat, wenn du in akuter Gefahr wärst. Ich habe mir inzwischen noch einmal deine vergangenen Zuschriften (auch die nicht beantworteten) durchgelesen und bin zu dem Schluss gekommen, dass man die Dinge im Einzelnen betrachten muss: Auch wenn du berichtet hast, Suizidgedanken zu haben, so hast du doch auch geäußert, dass du Angst vor dem Sterben hast. Deine Belastung kommt ja zu einem großen Teil - so wie ich es verstehe - gerade nicht aus Lebensmüdigkeit, sondern aus dem Wunsch, dir etwas aufzubauen, und der Angst, dabei zu versagen: Deine Ausbildung entspricht dir nicht, du erfährst kaum Zuspruch und bist als Person nicht angenommen. Dass daraus Selbstmordgedanken folgen, ist ernstzunehmen, aber dennoch bist du nicht die Erste, der es so geht - und ich denke, deine Lehrerin wird das einschätzen können. Ich sehe in deinem Fall keine akute Bedrohung vorliegen, denn schon deine obigen Zeilen verraten ja, dass du dir Sorgen um deinen Ausbildungsplatz und deinen Ruf machst - kurz: Du hängst am Leben und an dem, was du erreicht hast, und willst es bewahren. Dass du gleichzeitig mit Suizidgedanken zu kämpfen hast, ist kein Widerspruch: Die Belastung, die du zu tragen hast, ist so immens, dass ein Teil von dir immer nach Auswegen sucht, weil du genau weißt, dass die Belastung weitergehen wird. Deine Geschichte und deine schlimmen Erfahrungen in der Vergangenheit tun ein Übriges, dich für Ängste und auch für alles Leid empfänglich zu machen; das ist nur nachvollziehbar, denn da du nicht wieder verletzt werden willst, reagierst du besonders stark auf mögliche Gefahren und gerätst in Unruhe, wenn du dich ihnen - wie in Schule und Ausbildung - aussetzen musst. Das ist soweit sehr gut nachvollziehbar, und daher geht es auch deinen Ausbildungsbetrieb erst einmal nichts an. Es muss ja einleuchten, dass es nichts Gutes bedeutet, wenn jetzt gerade die Menschen, denen du einen Großteil deiner Last verdankst, davon erfahren. Vorerst geht es darum, dass du über deine Gedanken reden kannst und ein Netzwerk auswirfst, dass dich im Notfall tragen kann. Dass deine Lehrerin gleich einen solchen sehen wird, erscheint mir aber unwahrscheinlich. Und ganz allgemein: Es liegt ja in deiner Hand, ihr die Dinge so zu kommunizieren, wie du sie verstanden wissen willst.

Natürlich ist das nicht einfach; es gelingt auch nicht immer. Andererseits kannst du dir schon jetzt ein paar grundlegende Haltungen zurechtlegen, die dein Gespräch mit deiner Lehrerin prägen sollen: Zunächst einmal rate ich dir, mit offenen Karten zu spielen. Denn selbst wenn deine Lehrerin nach eurem Gespräch zu dem Schluss kommen sollte, dass du dringend Hilfe brauchst und dass Dritte hinzugezogen werden müssen, wird sie wohl kaum etwas ohne dein Wissen in die Wege leiten. Du bist volljährig und hast dich ja - formal betrachtet - freiwillig für die Ausbildung entschieden. Ob sie weitergeht oder nicht, liegt erst einmal in deiner Hand, und die Gründe gehen den Ausbilder nicht wirklich etwas an. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf, wäre es wohl gut, wenn du dir fest vornehmen würdest, deine Situation nicht aus Angst herunterzuspielen oder das Problem abzustreiten. Etwas auszusprechen, hilft letztendlich immer mehr, als es zu verharmlosen und einen Kontakt zu eröffnen, der sein Ziel verfehlt: Gut möglich, dass auch deine Lehrerin erst einmal unsicher sein wird, was zu tun ist. Wenn du ihr deine Ängste offen kommunizierst, darunter auch die, dass es durchsickert und du Nachteile davon haben könntest, wird das für sie gerade deutlich machen, dass du dich noch keineswegs völlig vom Leben verabschiedet hast und ein berechtigtes Interesse, dass Dinge privat bleiben. Daher kannst du ja gerade diese Unsicherheit in euer Gespräch hineintragen und berichten, warum es dir schwer fällt, dich ihr zu öffnen. Eher weniger ratsam erscheint mir, dir im Voraus bis ins Detail zu überlegen, was du sagen willst: Du weißt nicht, wie es dir bis dahin geht - ob du vielleicht einen Krisenmoment hast -, und es ist manchmal gut, sich beim Berichten sehr persönlicher Dinge auch von der Stunde leiten zu lassen. Du kannst am besten formulieren, wenn du aus deinem vollen Herzen sprichst, nicht aus einem vorgefertigten Plan. Hab keine Angst, durch Ehrlichkeit eine Lawine auszulösen - denn manchmal muss man gnadenlos ehrlich sein, dann nämlich, wenn es nicht mehr anders geht. Dich nur scheibchenweise zu äußern, aus Angst, dein Gegenüber in Panik zu versetzen und zu etwas gedrängt zu werden, hilft am Ende niemandem: Der Person, mit der du redest, nicht, weil sie dich nicht versteht, und dir nicht, weil du noch weitere Herausforderungen schaffst, statt welche zu lösen. Wenn gerade der Mensch, von dem du dir Hilfe erhoffst, immer wieder beschwichtigt werden muss, passiert das Gegenteil von dem, was die Idee ist - du verstellst dich und leidest stumm umso mehr.

Zu deiner Überwindung gehört darum auch die Bereitschaft, zu vertrauen und nicht jedes Wort als Gefahrenquelle zu betrachten. Im Angesicht deiner Lebensgeschichte ist es mehr als verständlich, wenn dir das schwer fällt. Gleichzeitig gewinnst du in dem Kontakt mit deiner Lehrerin aber ein "Übungsfeld" für genau das: Zu erzählen, ohne Angst zu haben, dass das Erzählte dir zum Schaden gereicht. Denn dieser Kontakt ist ja nicht zwangsläufig dazu da, dich sofort in eine Maßnahme weiterzureichen, sondern ihr werdet erst gemeinsam ermitteln müssen, wie es bis dahin aussieht. Das kann seine Zeit dauern, und vielleicht wird dir deine Lehrerin auch von sich aus sagen, wenn sie sich nicht mehr als die richtige Adresse betrachtet, und dich bitten, dir weitere Hilfe zu suchen. Das darfst du dann aber auch als Kompliment an dich ansehen: Du hast dich soweit geöffnet, dass du weiterarbeiten und auf etwas aufbauen kannst - weil dein Problem greifbar geworden ist. Im Moment liegt es in dir verborgen, und du kommst allein kaum damit zurecht. Wenn du es aber aussprichst und dadurch anfassbar machst, kann man einen einzelnen Zipfel ergreifen und die Situation "aufrollen". Das geht, weil zwei Menschen gemeinsam einen großen Wust an Gedanken und Emotionen leichter überblicken können, als einer allein. Vieles, was dir selbst vielleicht nicht bewusst ist, kommt dir erst im Gespräch zur Klarheit. Man kann es nicht oft genug betonen: Therapien aller Art sind im Wesentlichen Hilfe zur Selbsthilfe. Die wirkliche Entwicklung muss aus deiner eigenen Initiative kommen - und früher oder später wird sie das. Darüber musst du dich jetzt nicht sorgen, denn du stehst erst am Anfang. Doch solltest du dir keine Sorgen machen, dass deine Lehrerin gegen deinen eindeutigen Willen etwas tun wird - dafür müsste eine wirklich dramatische Situation vorliegen, die im Augenblick (zum Glück) wohl noch nicht da ist. Gerade weil du dir vollständig der Risiken bewusst bist, die aus zwischenmenschlichem Kontakt (immer) entstehen können, und weil du nicht eine bestimmte Handlung von deiner Lehrerin erwartest, sondern dir unsicher bist, was sie tun wird. Du rechnest nicht zwangsläufig damit, dass sie etwas gegen dich entscheiden würde, du fürchtest dich aber davor. Folglich unterliegst du einer berechtigten Sorge, keinem Zwang; dein Verstand ist präsent und arbeitet mit dir zusammen, trotz der Suizidgedanken. Und das wird auch deine Lehrerin sehen können.

Ich kann dich nur ermutigen, dich auf diese Erfahrung einzulassen, Katrin. Denn egal, wie es ausgeht: Du wirst hinterher mehr darüber wissen, was du dir wünschst und was du brauchst. Ich kann dir zwar nicht versprechen, dass deine Lehrerin deine Situation voll begreifen wird - auch sie ist nur ein Mensch. Aber ich glaube, selbst wenn das Gespräch anders ausgeht, als du und ich es uns erhoffen, wirst du deine Schlüsse daraus ziehen können, welche Art von Umgang mit deinem Problem dir gut tut und welche nicht. Denn schließlich - so verstehe ich dich - willst du weder übertriebenes Mitleid noch übertriebene Panik, sondern du willst einfach als Person gesehen werden. Und diesem Wunsch kannst du nur näherkommen, wenn du dich daran gewöhnst, deine Probleme klar zu stellen und Unterstützung einzufordern - auch wenn es am Anfang schwer ist.

Ich wünsche dir ein frohes Weihnachtsfest und guten Rutsch! Ich bin auch zwischen den Jahren hier erreichbar, und vielleicht willst du mir im kommenden Jahr berichten, wie es für dich weiterging. Ich würde mich sehr freuen. Meine Hoffnung ist, dass du die Sicherheit mitnehmen kannst, nicht egal zu sein - auch wenn im Einzelnen nicht alles so kommen sollte, wie du es dir wünschst. Denn das ist es, worum es am Ende geht: Dass du Erfahrung und Selbstbewusstsein sammelst und es einsetzt, um dich selbst zu vertreten. Das wünsche ich dir.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul