Problem von Anonym - 22 Jahre

Gefühle für den Mitbewohner

Hallo liebes Team,

ich wohne seit drei Jahren in einer WG. Die ersten Jahre lief es oft eher mäßig, da ich mit einer Mitbewohnerin, vielmehr ihrer Art, nicht so zurecht kam, sie aber sehr dominant das WG-Leben bestimmte. Da habe ich mich dann einfach zurückgezogen. Seit sie ausgezogen ist, also seit fast einem Jahr, läuft es mit dreien meiner Mitbewohner (wir sind die, die von Anfang an zusammengewohnt haben) aber richtig gut. Wir verstehen und gut, unternehmen immer wieder verschiedene Dinge und haben Spaß. Dabei ist mir aufgefallen, dass ich für einen meiner Mitbewohner immer mehr Gefühle über Freundschaft hinaus empfinde. Ich gehöre zu den Leuten, die sich nicht Hals über Kopf verlieben (eher so in Richtung slow love). Ich fand ihn schon ganz am Anfang interessant, was an seiner Art und seiner Ausstrahlung liegt, viel miteinander zu tun hatten wir, wie beschrieben, jedoch zunächst nicht. Das hat sich geändert. Wir führen mittlerweile tolle Gespräche, teilweise bis spät in die Nacht. Er erzählt mir auch viel von sich, was sonst nicht seine Art ist und was er sonst auch nie gemacht hat. Gleichzeitig stellt er aber auch mir viele Fragen, merkt sich Dinge, die ich vor einiger Zeit mal erwähnt habe und merkt sich auch, wann ich zum Beispiel spät nach Hause komme wegen meines Hobbies. Das kenne ich so gar nicht von ihm. Wir können auch super zusammen lachen und Späße machen, oft nicht alleine, sondern wenn mein anderer Mitbewohner mit dabei ist, sind wir zu zweit, ist es meist etwas "tiefgründiger" bzw wir reden ganz normal. Ich genieße die Zeit sowohl mit meinen Mitbewohnern, als auch nur mit ihm. Eben auf Grund der Tatsache, dass ich jemand so richtig kennenlernen muss, bevor ich überhaupt daran denken kann, mich zu verlieben, habe ich bisher doch viele Enttäuschungen erlebt, wenn man das so sagen will. Mir wurde einfach nie die Zeit gelassen zum Kennenlernen, die ich brauche, die bisherigen Typen waren da immer etwas zu schnell, da hatte ich noch nicht mal irgendein Gefühl aufgebaut und habe mich dann eher zurückgezogen, da mir das zu viel wurde. Bei meinem Mitbewohner ist das anders. Ich hatte genug Zeit, ihn kennenzulernen, wenn man zusammen wohnt geht das unweigerlich sehr gut und "intensiv" und es ist auch nicht so, dass wir nun ständig zusammen hocken. Jeder von uns geht seiner Arbeit/ Studium nach, den Hobbys, trifft sich mit Freunden, fährt nach Hause etc., so hat man auch seinen Freiraum quasi. Wir schreiben auch nicht so viel, wir reden etc. dann doch persönlich. Ich freue mich auch schon, ihn zu sehen, bin jetzt ja aber, wie erwähnt, nicht so schockverliebt. Das bedeutet, dass ich auch schon noch sehe, was mir an ihm so gar nicht gefällt. In Vielem sind wir uns auch doch sehr verschieden und haben andere Ansichten und dennoch bin ich gern in seiner Nähe und ich merke auch, dass das, zumindest etwas, mehr ist, als in einer normalen Freundschaft. Ich weiß leider so gar nicht, wie es bei ihm aussieht, so richtige Andeutungen oder sowas gab es nicht, ich kann mir auch, so wie ich ihn kennengelernt habe, nicht vorstellen, dass er da irgendwie "den ersten Schritt" macht. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich unsere Wege spätestens zum nächsten Wintersemester(2020/21) trennen, bis dahin würde ich einerseits die Zeit schon gerne genießen, andererseits weiß ich nicht, ob sich das irgendwie "lohnt" und habe etwas Angst, dass ich mich da zu sehr reinstürze, statt jemand ganz anderen kennenzulernen (wobei das auf Grund meiner Art und Weise jemand kennenzulernen und sich vielleicht zu verlieben, nicht ganz soooo leicht ist) und oftmals will ich diese Gefühle mir dann doch nicht so eingestehen. Ich bin echt ratlos, von mir aus werde ich nicht direkt auf ihn zugehen und ihn damit konfrontieren. Das ist so gar nicht meine Art, ich würde mich sehr unwohl fühlen und außerdem bin ich ja auch selbst so hin und hergerissen. In einen Mitbewohner verliebt zu sein, ist natürlich auch äußerst unpraktisch. Aus dem Weg gehen ist doch sehr schwer, und im Grunde will ich das auch nicht. Andererseits hätte ich es schon gerne, wenn er nicht ständig in meinem Kopf wäre.
Könnt ihr mir da Ratschläge geben? Ich wäre für alles dankbar.

Liebe Grüße

Nuala Anwort von Nuala

Hallo du!

Es sind ein paar Wochen verstrichen, was bedeuten kann, dass sich die Lage wieder verändert hat. Ich hoffe deswegen, dass meine Ausführungen nicht völlig nutzlos sind ;D

Also, dann lege ich mal los:

So ganz sicher, ob das echte Verliebtheit bei dir ist, bin ich mir ehrlich gesagt nicht. Denn man kann mit jemandem ja auch einfach so eine innige Verbindung haben, ohne dass es mit hormonellem Überschwang einhergeht und der Wunsch nach Beziehung im Raum steht. Du schreibst ja selbst, dass du Gefühle für ihn hast. Aber das kann eben einem breiten Spektrum entstammen. Freund:innenschaft allein schon ist so schillernd, da kann es ja durchaus sein, dass sie Tendenzen zum Amourösen aufweist. Die Übergänge sind fließend...
Bei Verliebtheit spielen definitiv die Hormone eine wichtige Rolle - also mit körperlicher Anziehung (außer bei Asexualität vermutlich, aber da kenne ich mich zu schlecht aus) und dem Wunsch, sich zu küssen, sich zu streicheln und miteinander zu schlafen (+/-). Dann natürlich das "Rauschhafte", "Euphorische", wenn man mit dem entsprechenden Menschen Zeit verbringen kann. Nicht umsonst wird Verliebtheit mit einem Drogentrip verglichen, weil der Körper so stark mit Glückshormonen geflutet wird. Und hier ist ein wichtiger Punkt in deiner Beschreibung: Du siehst deinen Mitbewohner sehr ausgewogen, was sehr untypisch für Verliebtheit ist. Anfangs machen die Hormone, dass man vor allem das Gemeinsame und das Attraktive wahrnimmt, Stichwort rosarote Brille und Tunnelblick. Mit der Zeit nimmt das ab, wenn man zusammengekommen und etwas Alltag eingekehrt ist.

Im Prinzip ist es unerheblich, ob wie rasch du dich in jemanden verlieben kannst - nur weil es z.B. länger dauert, bis du jemandem sehr vertraust und bestimmte Gemeinsamkeiten entdeckt hast, muss es keine Verliebtheit sein. Du kannst jemanden seit Jahren kennen und die beste Zeit mit diesem Menschen verleben - wenn die Begeisterung für die gesamte Person inklusive der körperliche Anziehung fehlt, obwohl du das eigentlich so von dir kennst, bist du sehr wahrscheinlich nicht verliebt.
Umgekehrt sagt es nichts über die "Güte der Verliebtheit" aus, wenn es Hals über Kopf geschieht. Dann ist es vielmehr so,dass bestimmte hervorstechende Merkmale dazu führen, dass man diese Person unwiderstehlich findet. Das muss aber noch lange kein Garant für eine glückliche und langanhaltende Partner:innenschaft sein.

Ich will dir natürlich keinesfalls absprechen, dass du nicht verliebt sein könntest - nur vermute ich, dass es dich auf eine Weise einengt, es anzunehmen, welche kontraproduktiv sein könnte.

Ich lese heraus, dass du dich fragst, ob eine Beziehung mit ihm Sinn ergeben würde. Rein zeitlich, aber auch bezüglich eures WG-Lebens. Da finde ich, dass es auffällig ist, wie du zweifelst und rational an die Sache herangehst. Natürlich kann das auch eine Form von Selbstschutz sein - vielleicht bist du tatsächlich total verliebt und kannst dir das volle Ausmaß nicht eingestehen.
Die Frage, die sich mir stellt, lautet: Wie konkret ist er in deinem Kopf? Was stellst du dir vor? Was erhoffst du dir insgeheim? Welche Sehnsüchte könnte er in dir ausgelöst haben? Wovor hast du denn konkret Angst?

Es spricht ja rein gar nichts dagegen, die gemeinsame Zeit zu genießen. Gerade weil ihr euch nahesteht, kannst du ihm doch deine Zuneigung zeigen, ohne (anfangs) das Amouröse durchklingen zu lassen. Darüber hinaus kannst du ihn ja in entsprechende Gespräche verwickeln, in denen es um Verliebtheit und Beziehungen geht. Sich einfach einmal im vertrauten Miteinander über gemachte Erfahrungen, Einstellungen und Vorlieben auszutauschen, kann erstens noch mehr zusammenrücken lassen und zweitens auch gewisse Aufschlüsse über seine Empfindungen für dich darlegen.

Davon abgesehen gibt es doch recht viele Indizien, die auf Verliebtheit oder zumindest deutliches Interesse des Gegenübers hindeuten. Die gesamte Körpersprache, die Augen insbesondere, sind sehr wertvolle Hinweisgeber.
Nichtsdestotrotz: Ich weiß es nicht. Vielleicht seid ihr euch schlicht nahe, weil es prägnante verbindende Elemente zwischen euch gibt, nicht mehr und nicht weniger. Und solche Verbindungen sind sehr kostbar. Sie halten meistens auch dann, wenn sich die äußeren Bedingungen verschoben haben. In deinem Beispiel muss es eurer Konstellation im Kern nichts anhaben, dass ihr euch studienbedingt eventuell nicht mehr täglich sehen können werdet.

Es ist in meinen Augen auch überholt, stets die klassischen Konzepte von Liebesbeziehungen zu bemühen. Menschen können in so verschiedener Weise miteinander leben und sich gut tun. Das muss nicht in der traditionellen Zweier-Konstellation sein, auch nicht in der Schublade "wir sind ein Paar". Man kann viel Druck rausnehmen, wenn man einfach annimmt, was ist - ohne es etikettieren und bewerten zu müssen.

Solltest du spüren, dass du wirklich sehr verliebt bist und du gleichzeitig nicht das Gefühl hast, dass es von seiner Seite aus erwidert wird, würde ich an deiner Stelle ein klärendes Gespräch suchen - sofern du dir das irgendwie doch vorstellen kannst. Es muss ja auch nicht mündlich sein. Es kann auch einen Brief geben beispielsweise. So könntest du dir Klarheit verschaffen. Denn: Wenn er so zurückhaltend ist wie du, kann es durchaus verborgen bleiben, was er wirklich für dich empfindet.

Manchmal ist es aber auch besser, die Gefühle für sich zu behalten oder zumindest nicht bei dieser Person offenzulegen. Im Tagebuch oder im Zwiegespräch mit anderen engen Freund:innen kann man das ja durchaus thematisieren und sich somit Erleichterung verschaffen.
Es ist im Endeffekt dein inneres Spüren für die Gesamtsituation. Wenn du genau hinhorchst, was deine eigene innere Stimme so flüstert, bekommst du sehr wahrscheinlich die passenden Hinweise, die dein Verstand einfach nicht liefern kann. Denn der greift zu gerne auf bisher gemachte Erfahrungen zurück und würzt sie mit gesellschaftlichen Erwartungen und Normen, sodass man schnell vom eigenen Weg abkommt. Denn was uns noch erwartet in unserem Leben, hängt eben in der Gegenwart nicht von der erlebten Vergangenheit ab. Du hast stets die Macht, alles so zu gestalten, dass du dich wohlfühlen und dich entfalten kannst.

Summa summarum: Du hast nichts zu verlieren. Faktisch brauchst du dich vor nichts zu fürchten. Genieße eure Zweisamkeit, sie ist eine wunderbare Ressource. Mach dich nicht verrückt mit Spekulationen. Wenn du dein Herz offen hast und dich fallenlässt, wird sehr viel zu deinen Gunsten geschehen, da bin ich sehr zuversichtlich.

Sei gegrüßt!
Nuala