Problem von Anonym - 23 Jahre

Möchte meinem Bruder helfen

Guten Tag!
Mein Bruder hat die Matura mit lauter Bestnoten abgeschlossen. Er erhielt sogar einen Preis. Seit dann hat er das Studium 4mal abgebrochen. Ein 5. Mal steht bevor. Es muss jetzt meiner Ansicht nach endlich etwas passieren, weil meine Mutter ziemlich am Ende ist. Sie weint nur noch, sucht den Fehler bei sich. Bei meinem Vater äussert sich das abwechslungsweise in Wutausbrüchen (nicht nur gegen meinen Bruder) und in Schweigen. Ich habe schon mehrmals versucht, aus meinem Bruder rauszukriegen, wo das Problem liegt, mit mir redet er immerhin, aber ohne Erfolg. Alles, was er immer wieder sagt, ist, man könne ihn nicht brauchen, er könne nichts. Das Studium macht ihm keine Freude. Ein weiteres Problem ist seine Art. Er spricht niemanden an. Kollegen hat er nur einen, noch aus der Gymizeit. Was er im Moment tut, ist, sich im Zimmer verkriechen und tun, als würde er lernen. Die Prüfungen rücken nun näher, er ist bleich, und redet fast gar nichts mehr. Während eines Studiums ist er sogar in ein Studentenheim gezogen, auf unser Anraten hin, weil wir dachten, es täte ihm gut, mal auf sich alleine gestellt zu sein, aber er hielt es nicht aus. Eben, weil er mit niemandem sprach den ganzen Tag. Ich weiss nicht, wo das Problem genau liegt. Er ist sehr intelligent, sonst hätte er die Matura ja nicht so gut abgeschlossen. Auf der Berufsberatung sagten sie ihm, es stünden ihm alle Wege offen. Aber er gibt sich immer auf. Im letzten Sommer zog er in Erwägung, eine Lehre zu beginnen als Buchhändler. Aber auch da gab er schon während des Schnupperpraktikums auf. Das liege ihm nicht. Man müsse da auf die Leute zugehen und es sei ein Verkaufsberuf. Und ihm ging es um die Bücher. Mein Vater wollte ihn ?aus dem Haus werfen?, damit er auf sich alleine gestellt ist, und einmal etwas tun muss. Aber meine Mutter hat sogar Angst mit ihm in strengem Ton zu reden. Sie meint, er könnte sich etwas antun. Mein Bruder ist wohl seit Geburt schwerhörig. Aber er geht super um mit seinen Hörgeräten, ist stolz, zu erzählen, wie die Dinger funktionieren. Deshalb kann ich mir nicht vorstellen, dass dies ein Problem ist. Meiner Ansicht nach müssen wir alle dieses Problem in andere (in professionelle) Hände geben. Alle sind überfordert mit der Situation. `
Problematisch ist auch, dass ich mich alleine an Sie wende. Meine Mutter glaubt nicht daran, dass uns jemand helfen kann. Mein Vater weist im Moment alles ab, und mein Bruder will nichts von Psychologie wissen. Mein Bruder war schon einmal in einer psychologischen Beratung. Es wurde dort mit einem Homöopathen zusammengearbeitet. Was raten Sie?
Vielen Dank & liebe Grüsse

Anwort von Michaela

Hallo,

im ersten Moment kam mir der Gedanke, dass Ihr Bruder vielleicht hochbegabt ist und - da man sich erst jetzt auf diese Menschen einstellt und es bisher kein besonderes Lernprogramm gab - vom allgemeinen Hochschulbetrieb enttäuscht ist, weil er ihn unterfordert. Das führt bei vielen Hochbegabten dazu, dass sie sich aus dem Betrieb ausklammern und nicht mehr mitmachen, quasi die Leistung verweigern. Mit Bestimmtheit kann man das aber erst sagen, wenn er eine IQ-Testreihe durchlaufen hat. Wo das durchgeführt wird, erfahren Sie im Internet oder auch bei einem ansässigen Psychologen.

Ich bin übrigens der Meinung, dass Ihr Bruder sehr wohl Unterstützung braucht. Ob diese unbedingt psychologisch sein muss, weiß ich nicht. Es tut auch ein guter Bekannter, der mit ihm zusammen arbeitet; auch Sie sind sehr engagiert, sollten jedoch darauf achten, ihm nicht zu viel abzunehmen. Ihre Eltern sind darüber geteilter Meinung, und beide haben wahrscheinlich Recht: Ihr Vater will den Sohn "auf eigene Beine stellen", damit er das Leben in die Hand nimmt, die Mutter will die strengen Worte vermeiden. Ich denke, Ihr Bruder will es allen Recht machen und hat sich dahingehend verstrickt - und wohl auch deshalb so viele Studiengänge abgebrochen?

Was jedoch des Pudels Kern ist, kann letztlich nur eine professionelle Exploration herausbringen. Sie schreiben, dass Ihr Bruder schon mal mit einem Homöopathen zusammen gearbeitet hat. Wurde damals eine Diagnose gestellt? Evtl. gibt es für die damalige Störung Selbsthilfegruppen, zu denen er Kontakt aufnehmen kann, erst anonym per Internet oder Telefonat, später vielleicht auch persönlich. Diesen Schritt kann ihm niemand ersparen, und das sollte ihm auch klar sein.

Was können Sie also tun? Überlegen Sie mit ihm gemeinsam, wie er sich die nächsten sechs Monate vorstellt. Was will er in der Zeit schaffen? Welche Fragen will er für sich klären? Welche Hilfe von außen will er dafür in Anspruch nehmen? Sie als seine Schwester sind zu sehr in die Familiengeschichte verstrickt, als dass Sie nicht mit dieser Aufgabe überfordert werden; zudem würden Sie Ihrem Bruder seine Aufgabe, mit den Füßen auf den Boden zu kommen, abnehmen. Sie können ihn jedoch begleiten und die ersten Strukturen mit ihm schaffen, und später die Verantwortung für ihn in SEINE Hände geben. Das Gleiche gilt für Ihre Eltern, besonders für Ihre Mutter.

Übrigens war auch Albert Einstein eher mittelmäßig, bis er sein Fachgebiet gefunden hat. Vielleicht ist Ihr Bruder derzeit auf der Suche?

Ich hoffe, ich konnte Ihnen einige Anregungen geben? Schreiben Sie uns doch bei Gelegenheit, wie es weitergegangen ist und welchen Weg Ihr Bruder gewählt hat. Ich würde mich darüber freuen!

Viele Grüße,

Michaela