Problem von Anonym - 23 Jahre

Ich fühle mich so allein gelassen

Liebes Kummerkastenteam,

Kommen wir gleich auf den Punkt: Ich bin schwanger. Ich freue mich eigentlich unglaublich darüber, aber dummerweise ist uns was dazwischen gekommen: Mein Freund ist arbeitslos geworden und will jetzt einen Job am anderen Ende der Bundesrepublik (Berlin) annehmen. Besonders gut bezahlt wird er da auch nicht und ich weiß einfach nicht, wie es weiter gehen soll. Ich will hier nicht weg, weil ich hier die Unterstützung meiner Familie habe und weil ich hier auch studiere (ich möchte dann ein paar Urlaubssemester nehmen und wenn das Kind im Kindergarten ist wieder Vorlesungen besuchen). Er hat auch einige Job Aussichten hier in der Gegend, aber er ist so auf den anderen Scheiß in Berlin fixiert, weil er da schon eine Zusage hat.
Ich halte es schon jetzt kaum aus, alleine zu sein. Mir geht es derzeit auch extrem übel und ich bräuchte einfach jemanden, der mir beisteht und hilft. Wie wird es erst, wenn das Baby da ist? Ich habe so furchtbare Angst, das nicht alleine hinzukriegen und ich mache mir auch Vorwürfe, dass wir unserem Kind keine richtige Familie bieten können.

Bernd Anwort von Bernd

Liebe Unbekannte,

Wie kann ich als Mann auf die Idee kommen, Dir zu antworten?
Kann je ein Mann empfinden, wie hilflos sich eine werdende Mutter zunehmend fühlt, je näher die Geburt kommt?
Kann ein Mann je empfinden, wie sehr eine werdende Mutter die Nähe, die Fürsorge, die tätigen Zeichen der Liebe und die Geborgenheit des Partners braucht?
Kann sich ein Mann eine Vorstellung von der Angst einer Mutter vor der ersten Geburt machen?
Von der Unsicherheit? Den Zweifeln? Dem Gefühl, die eigene Lebensplanung komplett umgekrempelt zu bekommen? In nichts mehr "Frau" der Lage zu sein?

Ich denke: Ja. "Mann" steht nur leider meist hilflos daneben.
Dafür steht er mit den Problemen, für die sein Liebstes unter und in den Umständen gerade nicht viel Verständnis aufbringen kann meist ganz allein.

Weißt Du, auf was Dein Freund verzichtet, wenn er sich für Berlin entscheidet? Ich denke: Nein?

Kannst Du Dir vorstellen, was ein werdender Vater empfindet, wenn er, das Ohr auf dem Bauch seiner schwangeren Frau, den Herzschlag seines Ungeborenen hört?
Weißt Du, wie es für Deinen Freund ist, wenn er Deinen Bauch mit dem Kinn streichelt und plötzlich einen Tritt versetzt bekommt?
Weißt Du, wie Deinem Freund die Erfahrung fehlen wird, Dich hilflos zu sehen und selber hilflos daneben zu stehen?
(Für mich ist es einer meiner schmerzlichsten und gleichzeitig wertvollsten Lebenserfahrungen, mich selbst in Zweifel ziehen zu können).
Kannst Du Dir vorstellen, wie es Deinen Freund stressen wird, nicht zu wissen, ob er Dir in den entscheidenden Stunden zur Seite stehen darf?

Ich habe all das 2x durchlitten und genossen. Jeden Tritt eines meiner beiden Kinder gegen die Bauchdecke meiner Frau bereut, wenn es nicht mein Kinn getroffen hat.

Ich habe mich niemals in meinem Leben so sehr von dem ausgeschlossen gefühlt, was mir eigentlich das Wichtigste ist, wie während der Schwangerschaften meiner Frau.
Ich habe mich meiner Frau nur und genau für die beiden Augenblicke wirklich überlegen gefühlt, um die ich unsere Kinder eher sehen durfte als sie.

Wenn Dein Freund bereit ist auf all das zu verzichten, was mit mir wohl den meißten Vätern das Größte auf der Welt ist, muß er sehr gute Gründe haben.

Sprich mit ihm darüber.

Und wenn die Gründe Dich dann überzeugen können:

Nimm sein Opfer an.

Übrigens: keine berufliche Entscheidung ist entgültig. Selbst habe ich es 2x durchgezogen: die sichere Arbeit mit unterschriebenem Vertrag fern der Heimat und der Familie nicht angetreten, weil in letzter Minute eine bessere Alternative unterschriftsreif wurde.
(Typisch Mann?): Die (finanzielle) Sicherheit der Familie steht notfalls vor den eigenen Gefühlen. Die bessere Alternative wird weiter verfolgt und steht auf jeden Fall vor den Interessen eines Arbeitgebers.
(Allerdings habe ich mir in beiden Fällen wirkliche Mühe gegeben, dem Arbeitgeber meine Gründe offen und ehrlich darzulegen [man trifft sich immer 2x im Leben]).

Liebe Unbekannte,

spring über Deinen Schatten. Fahre Deinen Freund nicht gefühlsmäßig gegen die Wand. Auch er hat ehrliche Gefühle.
Das Wichtigste im Leben ist (1) das Wohl Eures Kindes und (2) Euer beider feste Wille, auch dort die Ernsthaftigkeit des Partners zu erkennen, wo die eigene Gefühlslage eigentlich mehr Rücksichtnahme auf die eigenen Bedürfnisse wünscht.

Ihr habt eine unheimlich schöne Zeit vor Euch!
Laßt Euch von von nichts davon abbringen, jede gemeinsame Minute zu genießen.

Eigentlich beneide ich Dich und Deinen Freund ein wenig!

Quatsch! Meine beiden Kinder bewahren mich vor jedem Neid!

In 16 Jahren wird es Euch auch so gehen.

Ich wünsche Euch beiden, bewahrt Euch Eure Liebe.

Und übertragt sie weiter auf Euer Kind.

Alles andere ist nebensächlich.

Herzlichst,

Bernd