Problem von Anonym - 24 Jahre

so vieles läuft schief

Mein Leben ist scheiße! Ich stehe auf und gehe zur Uni, wo ich mich nicht konzentrieren kann, dann geh ich nach hause und den rest des tages blaße ich trübsaal. Als ich 15 war wurde ich sexuell missbraucht und das geht mir bis heute noch nach. Es fällt mir schwer kontakte zu knüpfen, zu vertrauen...denn ausgerechnet meine familie hat mich im stich gelassen. Ich weiß auch nicht wie ich jemals wieder einem mann vertrauen soll oder ihm nahe sein kann, oft denke ich wie sollte ich es ihm sagen. Wann? Gibt es überhaupt einen Zeitpunkt dafür. Ich glaube, nein ich habe eher die befürchtung, dass er nie wieder kommt wenn ich es ihm sage, dass er dann nichts mehr mit mir zu tun haben will. Eigentlich habe ich angst es zu riskieren. Könnt ihr mir diese angst nehmen. Sehe ich die männer fälschlicherweise als charakterlos und feige an?
ich habe angst auf jemanden zu treffen der mich auslacht und mich nicht ernst nimmt. Das is eigentlich das schlimmste...
An der Uni läuft es nicht gut, ich komme nicht zur ruhe sondern verharre immer in meinem inneren chaos. Ich habe in letzter zeit oft wieder die impulse mich selbst zu verletzen. Das kann dch so nicht weitergehen, wie soll ich lernen wieder ins leben zurück zu kehren?

Catherine Anwort von Catherine

Liebe Unbekannte

Vielen Dank für Dein Vertrauen, dass Du dich an uns wendest.

Dies tut mir sehr Leid für Dich, was Du uns hier anvertraust und ich bin mit Dir traurig darüber, was Du vor neun Jahren erleben musstest.

Es ist ja nicht nur der schreckliche Augenblick, den Du aushalten musstest - es ist die Erinnerung daran, das Leben danach... Und dafür bewundere ich Dich; für Dein Leben, wie Du einfach stark weitergemacht hast!
Du hast Dein Abi gemacht und studierst an der Uni - trotz Deiner schrecklichen Vergangenheit, obwohl Dich deine Familie im Stich gelassen hat. Dies schaffen nicht viele; viele stürzen ab, geben auf... Doch Du hast weitergemacht! Ich glaube, tief in Dir drin gibt es eine ganz starke Kraft, die darum kämpft, ein gutes Leben zu leben. Versuche doch, ein bisschen auf diese Kraft zu vertrauen, auf das Leben grundsätzlich zu vertrauen... Du hast es nicht "einfach so" bis hierhin geschafft, sondern aus eigener Kraft! Du hast Hürden überwunden, die Dir auf schreckliche und ungerechte Weise in den Weg gelegt wurden und ich finde, darauf solltest Du stolz sein. Und mit diesem Wissen, wieviel Du schon geschafft hast, vielleicht versuchen "Ja" zum Abenteuer Leben zu sagen...
Du schreibst, dass es für Dich nicht einfach ist, Kontakte zu knüpfen... Nicht so einfach, wie für andere Menschen. Doch versuche einmal, Deine Situation etwas aus der Perspektive Deiner Vergangenheit zu sehen. Nach alldem, was Du erleben musstest, wäre es gar nicht normal, wenn Du wie die anderen, naiven Menschen voller Freude in den Tag leben könntest. Wenn Du offen und vertrauensvoll zu jedem Mensch wärst, wenn Dein Leben aus Spass und Abwechslung bestünde. Du hast schon so viel mehr erlebt als all diese Menschen... Und diese Erfahrungen haben Dich und Dein Verhalten geprägt. Da steht es Dir doch zu, misstrauischer als andere zu sein - und vor allem hast Du das Recht dazu, traurig über das, was Dir zugestossen ist, zu sein.

Ich möchte nicht sagen, dass Du nun einfach weiter Dein Leben so leben sollst, weil es halt schlimm ist und Du sowieso nichts verändern kannst. Aber weisst Du... Ich glaube, man kann erst etwas verändern, wenn man gelernt hat, hinzusehen und anzunehmen, was wirklich ist.
Mit keiner Therapie würdest Du deine Vergangenheit ändern können - und vielleicht ist es möglich, Erfahrungen zu vergessen, irgendwann. Doch Deine Gefühle werden sich immer erinnern, ob Du willst oder nicht. Was Du aber tun kannst, ist, diese Gefühle in der Gegenwart genau anzuschauen, anzunehmen und lernen, damit umzugehen. Du kannst nicht einfach nicht mehr misstrauisch sein - wie auch! Und es ist doch auch wichtig, DASS Du misstrauisch bist. Angst, Misstrauen und Wut sind Gefühle, die für uns lebensnotwendig sind, die wir zulassen und uns auf sie verlassen können müssen. Denn sie schützen uns vor Situationen, die uns nicht guttun. Gerade Menschen, die wie Du das Gefühl von Hilflosigkeit derart extrem erleben mussten, haben es schwierig, im Leben danach sich überhaupt wieder in Situationen getrauen zu können, wo das Gefühl wiederkommen könnte. Sich einmal derart hilflos gefühlt zu haben, ist etwas vom Schlimmsten, was ein Mensch überhaupt erleben kann. Dass Deine Gefühle von Deiner Familie nicht wahr- und ernstgenommen wurden, Du in ihrer Verarbeitung nicht unterstützt wurdest, war zusätzlich bestimmt schrecklich für Dich. Wärst Du nicht ein unglaublich gestörter Mensch, wenn Du heute nicht alles daran setzen würdest, Dich nie mehr so zu fühlen, nicht noch einmal nicht ernstgenommen zu werden? Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass Du dir dieses Misstrauen "erlauben" und darauf hören kannst.
Wenn Du weisst, dass und vor allem wieso Du so misstrauisch bist, wirst Du dieses Gefühl immer besser kontrollieren können. Allgemein, wenn Du Gefühle benennen und ihnen Ursachen zuordnen kannst, werden sie immer weniger stark werden. Ich wünsche Dir so sehr, dass Du es schaffst, langsam und ganz vorsichtig auf Menschen zuzugehen und Du dir dabei sagen kannst "gut...ich habe Angst und vielleicht könnten sie mich verletzen - aber erst schaue ich nun, wie es ist." Wenn Du dir selbst sagen kannst "Ich weiss, dass ich misstrauisch bin - aber nun möchte ich erstmal schauen, ob er/sie es nicht doch gut mit mir meint." Und je mehr Du dir dies sagst, desto verinnerlichter werden diese Sätze in Dir werden. Je mehr gute Erfahrungen Du machst, desto weniger stark wird das Misstrauen in Dir sein.

Ich finde, dass ein Mann, der Dein Vertrauen geschenkt bekommt, der Dich als ganzer Mensch kennenlernen darf, unglaublich glücklich und geehrt sein soll. Du bist keine Frau, die einfach jedem vertraut - Dein Vertrauen ist ein grosses Geschenk und ich weiss, dass es viele gute Männer gibt, die mit diesem sehr sorgfältig umgehen. Du möchtest doch nicht einfach von einem Mann, sondern von DEINEM Mann, geliebt werden - und dies als ganzer Mensch, mit allem, was Du bist. Vielleicht kannst Du ein bisschen darauf vertrauen, Dich selbst sein zu können und von anderen Menschen gerade deswegen geliebt zu werden. Was bringt es, sich zu verstellen, nur, um jemandem zu gefallen! Es ist ein Geschenk, wenn man Menschen in ihrer ganzen Person kennenlernen darf.
Versuche vielleicht, Dich nicht sosehr unter Druck zu setzen. Du hast das Recht dazu, langsam und vorsichtig auf neue Menschen zuzugehen. Du musst Dich ihnen nicht gleich ganz zeigen, lass' Dir Zeit, soviel wie Du brauchst. Und wenn Du dich dann irgendwann sicher und wahrgenommen genug fühlst, um ihnen von Dir das Innerste zu zeigen, werden sie Dir ganz bestimmt zuhören. Wenn Du nichts überstürzt und auf Dein Gefühl gut hörst, werden dies die Menschen sein, denen Du vertrauen kannst, die es verdient haben und die sich geehrt fühlen werden, Dich kennen zu dürfen.

Ich weiss... Dies sind viele Worte, die in wenig Zeit geschrieben wurden. Die ganze Arbeit, die nur Du alleine für Dich tun kannst, braucht so viel länger. Doch ich bin mir ganz sicher, dass Du dies schaffst - Du hast schon so viel geschafft! Wie stolz wirst Du erst mit 30 sein können, wenn Du auf Deine Vergangenheit zurückblicken und sagen kannst "aus alldem habe ich mich selbst rausgegraben - aus eigener Kraft!" Irgendwann wirst Du so viel Abstand von Deiner Vergangenheit haben, Dein Leben um viele gute Erfahrungen reicher sein, dass Du Dich, Deine Person und Dein Leben nicht mehr nur durch die schlimmen Erlebnisse definieren wirst. Du wirst irgendwann an den Punkt kommen, wo Du sagen kannst "ich - ich bin so viel mehr als all das Schlimme!" Da bin ich mir ganz sicher.
Könntest Du dir vielleicht vorstellen, diesen Weg zusammen mit einer Fachperson zu gehen? Ich denke, dies könnte Dir sehr viel weiterhelfen, wenn Du nicht sowieso schon therapeutisch unterstützt wirst. Nicht, weil ich denke, dass Du schwach oder "gestört" bist. Aber ich finde, dass Du es schon so viele Jahre genug schwer hattest, dass Du Hilfe und Unterstützung mehr als verdient hast. Man muss im Leben nicht immer alles alleine schaffen... Und gerade nach all diesen schweren Jahren darfst Du auch einmal müde sein.

Versuche doch bitte, wenigstens ein bisschen an Dich zu glauben - ich tue es auf jeden Fall. Ich wünsche Dir von ganzem Herzen für Dein Leben das Allerbeste - etwas anderes hast Du nicht verdient.

Herzlichst, Catherine.